I^^pg '•11 I i 1 *\ ''^ 'i:^-=''*!iS)liK!i';i;«M:W!K.:l! PriOPERTY OF UNIVERSITY Or WA'.^-S'iMGTON LIBRARIES iUXl'Ü Rf ON-C1RCULATING 'Khü!,^ c, READING ROOM ROBERT MUSIL Gesammelte Werke in Einzelausgaben HERAUSGEGEBEN VON ADOLF FRISE ROWOHLT VERLAG HAMBURG ROBERT MUSIL Der Mann ohne Eigenschaften ROMAN ROWOHLT VERLAG HAMBURG Schutzumschlag und Einband von Wcmtr Rebhuhn 1 — b Tausend Dezembe) 79,5i? - _// Jausend \/??d l ( r>(> T2-U) lausend August 79,37 Gop\nidit \ i )')2 b> Rowohlt Vttlag GmbH, Humbuig 1 otomcchanisclie Wiedergabe nur mit ausdiuekheher Genehmigung dunh dm Veilag Sat/ l'oesditl &. Schulz-Schombut gk, h'schwege ,' Werra • Diuck im Oflsetveifahicn Graphi&die Kunstanstalt Sdiult/ GmbH, Hambuig Einband Ladstctter Verlagsbuchbinderu Gmbll, Hamburg Gedruckt auf Dunndruckpapiei der Papierfabrik /um Brudeihaus, Detungcn Pnnted in Gcrmanv l7 ERSTES BUCH ERSTER TEIL Eine Art Einleitung Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht Ober dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich aus- zuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldig- keit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Ver- hältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kälte- sten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnrin- ges und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist Es war ein schö- ner Augusttag des Jahres 1913. Autos schössen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls. Plünderte Töne waren zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sich wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen. An diesem Geräusch, ohne daß sich seine Besonderheit beschreiben ließe, würde ein Mensch nach jahrelanger Abwesenheit mit geschlossenen Augen erkannt haben, daß er sich in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien befinde. Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen Die Augen öffnend, würde er das gleiche an der Art bemerken, wie die Bewegung in den Straßen schwingt, bei weitem früher als er es durch irgendeine bezeichnende Einzelheit herausfände. Und wenn er sich, das zu können, nur einbilden sollte, schadet es auch nichts. Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. Es wäre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikromillimeter genau ausdrücken ließe; wo- gegen man bei etwas so viel Verwickelterem, wie es eine Stadt ist. in der man sich aufhält, immer durchaus genau wissen möchte, welche besondere Stadt das sei. Es lenkt von Wich- tigerem ab. Es soll also auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden. Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregel- mäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammen- stößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem gro- ßen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Ver- schiebung aller Rhythmen gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen, Verordnungen und ge- schichtlichen Oberlieferungen besteht. Die beiden Menschen, die darin eine breite, belebte Straße hinaufgingen, hatten natürlich gar nicht diesen Eindruck. Sie gehörten ersichtlich einer bevor- zugten Gesellschaftsschicht an, waten vornehm in Kleidung, Hal- tung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche ge- stickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins, wußten sie, wer sie seien und daß sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden. Angenommen, sie würden Arnheim und Erme- linda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt, denn Fi au Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien. Lebhafte Menschen empfinden solche Rätsel sehr oft in den Straßen. Sie lösen sich in bemerkenswerter Weise dadurch auf, daß man sie vergißt, falls man sich nicht während der näch- sten fünfzig Schritte erinnern kann, wo man die beiden schon gesehen hat. Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie Packpapier, und erklärte mit groben Gebärden den Unglücks- fall. Die Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden gekom- men, wie allgemein zugegeben wurde. Abwechselnd knieten Leute bei ihm nieder, um etwas mit ihm anzufangen; man öffnete seinen -10- Rock und schloß ihn wieder, man versuchte ihn aufzurichten oder im Gegenteil, ihn wieder hinzulegen; eigentlich wollte niemand etwas anderes damit, als die Zeit ausfüllen, bis mit der Rettungs- gesellschaft sachkundige und befugte Hilfe käme. Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hat- ten, über Köpfe und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann traten sie zurück und zögerten. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: »Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.« Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wußte nicht, was ein Brems- weg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging. Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens schrillen, und die Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen. Männer in einer Art Uniform waren um ihn bemüht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Ein- druck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereig- nis vollzogen habe. »Nach den amerikanischen Statistiken«, so bemerkte der Herr, »werden dort jährlich durch Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletzt.« »Meinen Sie, daß er tot ist?« fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. »Ich hoffe, er lebt« erwiderte dei Herr. »Als man ihn in den Wagen hob, sah es ganz so aus.« 2 Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften Die Straße, in der sich dieser kleine Unglücksfall ereignet hatte, war einer jener langen, gewundenen Verkehrsflüsse, die strah- lenförmig am Kern der Stadt entspringen, die äußeren Bezirke durchziehn und in die Vorstädte münden. Sollte ihm das ele- -11- gante Paar noch eine Weile weiter gefolgt sein, so würde es etwas gesehen haben, das ihm gewiß gefallen hätte. Das war ein teilweise noch erhalten gebliebener Garten aus dem achtzehnten oder gar aus dem siebzehnten Jahrhundert, und wenn man an seinem schmiedeeisernen Gitter vorbeikam, so erblickte man zwi- schen Bäumen, auf sorgfältig geschorenem Rasen etwas wie ein kurzflügeliges Schlößchen, ein Jagd- oder Liebesschlößchen ver- gangener Zeiten Genau gesagt, seine Tras>ge wölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und dei Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neun- zehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden, das Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn, so wie überein- ander photographierte Bilder; aber es war so, daß man unfehlbai stehen blieb und »Ah!« sagte. Und wenn das Weiße, Niedliche, Schöne seine Fenster geöffnet hatte, blickte man in die vornehme Stille der Bücherwände einer Gelehrtenwohnung. Diese Wohnung und dieses Haus gehörten dem Mann ohne Eigenschaften. Er stand hinter einem der Fenster, sah durch den zartgrünen Filter der Gartenluft auf die bräunliche Stiaße und zählte mit der Uhr seit zehn Minuten die Autos, die Wagen, die Trambahnen und die von der Entfernung ausgewaschenen Gesichter der Fuß- gänger, die das Netz des Blicks mit quirlender Eile füllten; er schätzte die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendigen Kräfte vorüberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich zie- hen, festhalten, loslassen, die während einer Zeit, für die es kein Maß gibt, die Aufmerksamkeit zwingen, sich gegen sie zu stemmen, abzureißen, zum nächsten zu springen und sich diesem nachzuwer- fen; kurz, er steckte, nachdem er eine Weile im Kopf gerechnet hatte, lachend die Uhr in die Tasche und stellte fest, daß er Unsinn getrieben habe — Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich — so hatte er gedacht und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht — eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut. Denn der Mann ohne Eigenschaften war augenblicklich ein sol- cher Mensch. Und einer der tut? »Man kann zwei Schlüsse daraus ziehen« sagte er sich. Die Muskel leistung eines Bürgers, der ruhig einen Tag lang -12- seines Weges geht, ist bedeutend größer als die eines Atheten, der einmal im Tag ein ungeheures Gewicht stemmt; das ist physio- logisch nachgewiesen worden, und also setzen wohl auch die klei- nen Alltagsleistungen in ihrer gesellschaftlichen Summe und durch ihre Eignung für diese Summierung viel mehr Energie in die Welt als die heroischen Taten; ja die heroische Leistung erscheint ge- radezu winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer Illusion auf einen Berg gelegt wird. Dieser Gedanke gefiel ihm. Aber es muß hinzugefugt werden, daß er ihm nicht etwa des- halb gefiel, weil er das bürgerliche Leben liebte; im Gegenteil, es beliebte ihm bloß, seinen Neigungen, die einstmals anders gewesen waren, Schwierigkeiten zu bereiten. Vielleicht ist es gerade der Spießbürger, der den Beginn eines ungeheuren neuen, kollektiven, ameisenhaften Heldentums vorausahnt? Man wird es rationali- siertes Heldentum nennen und sehr schön finden. Wer kann das heute schon wissen? Solcher unbeantworteter Fragen von größter Wichtigkeit gab es aber damals hunderte. Sie lagen in der Luft, sie brannten unter den Fußen. Die Zeit bewegte sich. Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht glauben wollen, aber schon damals bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reit- kamel; und nicht erst heute. Man wußte bloß nicht, wohin. Man konnte auch nicht recht untei scheiden, was oben und unten war, was vor und zurück ging. »Man kann tun, was man will;« sagte sich der Mann ohne Eigensdiaften achselzuckend »es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten darauf an!« Er wandte sich ab wie ein Mensch, der verzichten gelernt hat, ja fast wie ein kranker Mensch, der jede starke Berührung scheut, und als er, sein angrenzendes Ankleidezimmer durchschreitend, an einem Boxball, der dort hing, vorbeikam, gab er diesem einen so schnel- len und heftigen Schlag, wie es in Stimmungen der Ergebenheil oder Zuständen der Schwäche nicht gerade üblich ist Auch ein Mann ohne Eigenschaf ten hat einen Vater mit Eigenschaften Der Mann ohne Eigenschaften hatte, als er vor einiger Zeit aus dem Ausland zurückkehrte, eigentlich nur aus Übermut und weil er die gewöhnlichen Wohnungen verabscheute, dieses Schlößchen gemietet, das einst ein vor den Toien liegender Sommersitz ge- wesen war, der seine Bestimmung verlor, als dieGroßstadt über ihn wegwuchs, und zuletzt nicht mehr als ein brachliegendes, auf das ~ 13- Steigen der Bodenpreise wartendes Grundstück darstellte, das von niemand bewohnt wurde. Der Pachtzins war dementsprechend ge- ring, aber unerwartet viel Geld hatte das Weitere gekostet, alles wieder in Stand setzen zu lassen und mit den Ansprüchen der Ge- genwart zu verbinden; das war ein Abenteuer geworden, dessen Aus- gang ihn zwang, sich an die Hilfe seines Vaters zu wenden, was ihm keineswegs angenehm war, denn er liebte seine Unabhängig- keit. Er war zweiunddreißig Jahre alt, und sein Vater neunundsechzig. Der alte Herr war entsetzt. Nicht eigentlich wegen des Über- falls, wenngleich auch deswegen, denn er verabscheute die Unüber- legtheit; noch wegen der Kontribution, che er leisten mußte, denn im Grunde billigte er es, daß sein Sohn ein Bedürfnis nach Häus- lichkeit und eigener Oidnung kundgegeben hatte. Aber die An- eignung eines Gebäudes, das man, und sei es auch nur im Diminu- tiv, nicht umhin konnte als ein Schloß zu bezeichnen, verletzte sein Gefühl und ängstigte es als eine unheilverheißende Anmaßung. Er selbst hatte als Hauslehrer in hochgiäf liehen Häusern begon- nen; als Student und fortfahrend noch als junger Rechtsanwalts- gehilfe und eigentlich ohne Not, denn schon sein Vater war ein wohlhabender Mann gewesen. — Als er später Universitätsdozent und Professor wurde, fühlte er sich aber dafür belohnt, dann die sorgfältige Pllege dieser Beziehungen brachte es nun mit sich, daß er allmählich zum Rechtskonsulenten fast des gesamten Feudal- adels seiner Heimat aufrückte, obgleich er eines Nebenberufs nun erst recht nicht mehr bedurfte. Ja, lange nachdem das Vermögen, welches er damit erwarb, schon den Vergleich mit der Morgengabe einer rheinischen Industriellenfamilie aushielt, die seines Sohnes frühverstorbene Mutter in die Ehe gebracht hatte, schliefen diese in der Jugend erworbenen und im Mannesalter befestigten Be- ziehungen nicht ein. Obgleich sich der zu Ehren gekommene Ge- lehrte nun vom eigentlichen Rechtsgeschäft zurückzog und nur gelegentlich noch eine hochbezahlte Gutachter tätigkeit ausübte, wurden doch noch alle Ereignisse, die den Kreis seiner ehemaligen Gönner angingen, in eigenen Aufzeichnungen sorgfältig gebucht, mit großer Genauigkeit von den Vätern auf die Sohne und Enkel übertragen, und es ging keine Auszeichnung, keine Hochzeit, kein Geburts- oder Namenstag ohne ein Schreiben vorüber, das den Empfänger in einer zarten Mischung von Ehrerbietung und ge- meinsamen Erinnerungen beglückwünschte. Ebenso pünktlich lie- fen darauf auch jedesmal kurze Antwortschreiben ein, die dem lieben Freund und geschätzten Gelehrten dankten. So kannte sein Sohn dieses aristokratische Talent eines fast unbewußt, aber sicher wägenden Hochmuts von Jugend auf, welches das Maß einer Freundlichkeit gerade richtig bemißt, und die Unterwürfigkeit _ I4~ eines immerhin zum geistigen Adel gehörenden Menschen vor den Besitzern von Pferden, Äckern und Traditionen hatte ihn immer gereizt. Es war aber nicht Berechnung, was seinen Vater dagegen unempfindlich machte; ganz aus Naturtrieb legte er auf solche Weise eine große Laufbahn hinter sich, er wurde nicht nur Pro- fessor, Mitglied von Akademien und vielen wissenschaftlichen und staatlichen Ausschüssen, sondern auch Ritter, Komtur, ja sogar Großkreuz hoher Orden, Se. Majestät erhob ihn schließlich in den erblichen Adelsstand und hatte ihn schon vorher zum Mitglied des Herrenhauses ernannt. Dort hatte sich der Ausgezeichnete dem freisinnigen bürgerlichen Flügel angeschlossen, der zu dem hoch- adeligen manchmal im Gegensatz stand, aber bezeichnenderweise nahm es ihm keiner von seinen adeligen Gönnern übel oder wun- derte sich auch nur darüber; man hatte niemals etwas anderes als den Geist des aufstrebenden Bürgertums in ihm gesehn. Der alte Herr nahm eifrig an den Facharbeiten der Gesetzgebung teil, und selbst wenn ihn eine Kampfabstimmung auf der bürgerlichen Seite sah, empfand man auf der anderen Seite keinen Groll darüber, sondern hatte eher das Gefühl, daß er nicht eingeladen worden sei. Er tat in der Politik nichts anderes, als was schon seinerzeit sein Amt gewesen war, ein überlegenes und zuweilen sanft verbessern- des Wissen mit dem Eindruck zu vereinen, daß man sich auf seine persönliche Ergebenheit trotzdem verlassen könne, und hatte es, wie sein Sohn behauptet, ohne wesentliche Veränderung vom Haus- lehrer zum Herrenhauslehrer gebracht. Als er die Geschichte mit dem Schloß erfuhr, erschien sie ihm als die Verletzung einer gesetzlich nicht umschriebenen, aber desto achtsamer zu respektierenden Grenze, und er machte seinem Sohne Vorwurfe, die noch bitterer waren als die vielen Vorwürfe, die er ihm im Lauf der Zeiten schon gemacht hatte, ja geradezu wie die Prophezeiung eines bösen Endes klangen, das nun begonnen habe. Das Grundgefühl seines Lebens war beleidigt. Wie bei vielen Männern, die etwas Bedeutendes erreichen, bestand es, fern von Eigennutz, aus einer tiefen Liebe für das sozusagen allgemein und überpersonlich Nutzliche, mit anderen Worten aus einer ehrlichen Verehrung für das, worauf man seinen Vorteil baut, nicht weil man ihn baut, sondern in Harmonie und gleichzeitig damit und aus allgemeinen Gründen. Das ist von großer Wichtigkeit; schon ein edler Hund sucht seinen Platz unter dem Eßtisch, unbeirrt von Fußstößen, nicht etwa aus hündischer Niedrigkeit, sondern aus Anhänglichkeit und Treue, und gar die kalt berechnenden Men- schen haben im Leben nicht halb soviel Erfolg wie die richtig gemischten Gemüter, die für Menschen und Verhältnisse, die ihnen Vorteil bringen, wirklich tief zu empfinden vermögen. -15- Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch M ö glich k e i tssin n g e b e n Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben, dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, Lst einfach eine Forderung des Wir klichkeitssinns. Wenn es abei Wirk- lichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglidikeitssmn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier Lst dies odei diu» geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern ei erfindet Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von iigcnd etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es konnte wahrsdieinlidi auch anders sein. So ließe sich der Mög- lichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit deiinieien, alles, was eben- sogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nidit ist. Man sieht, daß die Folgen solche i schöpferischen Anlage bemerkensweit sein können, und bedauer- licherweise lassen sie nidit selten das, was die Menschen bewun- dern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleidigültig. Solche Möglirhkeit.smensrhen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachchücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwäch- linge und Besserwisser oder Krittle*. Wenn man sie loben will, nennt man diese Nanen auch Idea- listen, aber offenbar ist mit alledem nur ihie schwache Spielart erfaßt, weldie die Wirklidikeit nicht begreifen kann oder ihr weh- leidig ausweidit, wo also das Fehlen des Wirklichkeitssinns wirk- lich einen Mangel bedeutet. Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nui die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwaditen Absichten Gottes. Ein mögliches Erlebnis oder eine mögliche Wahrheit sind nicht gleich wirklichem Erlebnis und wiik- lidier Wahrheit weniger dem Werte -des Wirklichseins, sondern sie haben, wenigstens nach Ansicht ihrei Anhänger, etwas sein Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewußten Utopismus, der die Wiiklichkeit nicht scheut, wohl abci als Aufgabe und Erfindung behandelt. Schließlich ist die Erde gai nidit alt und war scheinbar noch nie so recht in gesegneten Umstän- den. Wenn man nun in bequemer Weise die Menschen des Wirk» - 16- lichkeits- und des Möglichkeitssinns voneinander unterscheiden will, so braucht man bloß an einen bestimmten Geldbetrag zu den- ken. Alles, was zum Beispiel tausend Mark an Möglichkeiten über- haupt enthalten, enthalten sie doch ohne Zweifel, ob man sie besitzt oder nicht; die Tatsache, daß Herr Ich oder Herr Du sie besitzen, fügt ihnen so wenig etwas hinzu wie einer Rose oder einer Frau. Aber ein Narr steckt sie in den Strumpf, sagen die Wirk- Hchkeitsmenschen, und ein Tüchtiger schafft etwas mit ihnen; sogar der Schönheit einer Frau wird unleugbar von dem, der sie besitzt, etwas hinzugefügt oder genommen. Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglich- keiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie. Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige An- gelegenheit. Da seine Ideen, soweit sie nicht müßige Hirngespinste bedeuten, nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten Menschen eignende Sinn für ihre wirklichen Möglich- keiten. Er will gleichsam den Wald, und der andere die Bäume; und Wald, das ist etwas schwer Ausdrückbares, wogegen Bäume soundsoviel Festmeter bestimmter Qualität bedeuten. Oder viel- leicht sagt man es anders besser, und der Mann mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirk- lichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt. Einer außerordentlichen Gleichgültigkeit für das auf den Köder beißende Leben steht bei ihm die Gefahr gegenüber, völlig spleenige Dinge zu treiben. Ein unpraktischer Mann — und so ei scheint er nicht nur, sondern ist er auch — bleibt unzuverlässig und unberechenbar im Verkehr mit Menschen. Er wird Handlungen begehen, die ihm etwas anderes bedeuten als anderen, aber be- ruhigt sich über alles, sobald es sich in einer außerordentlichen Idee zusammenfassen läßt. Und zudem ist er heute von Folge- richtigkeit noch weit entfernt. Es ist etwa sehr leicht möglich, daß ihm ein Verbrechen, bei dem ein anderer zu Schaden kommt, bloß als eine soziale Fehlleistung erscheint, an der nicht der Verbrecher die Schuld trägt, sondern die Einrichtung der Gesellschaft. Frag- lich ist es dagegen, ob ihm eine Ohrfeige, die er selbst empfängt, als eine Schmach der Gesellschaft oder wenigstens so unpersönlich 2 Mnsil Mann -17- wie der Biß einevS Hundes vorkommen werde; wahrscheinlich wird er da zuerst die Ohrfeige erwidern und danach die Auffassung haben, daß er das nicht hätte tun sollen Und vollends, wenn man ihm eine Geliebte fortnimmt, wird er heute noch nicht ganz von der Wirklichkeit dieses Vorganges absehen und suh mit einem überraschenden, neuen Gefühl entschädigen können. Diese Ent- wicklung ist zurzeit noch im Fluß und bedeutet für den einzelnen Menschen sowohl eine Schwäche wie eine Ktaft. Und da der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Fietide an ihrer Wirklichkeit voraussetzt, erlaubt das den Ausblick darauf. wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklich- keitssinn aufbringt, unversehens widei fahren kann, ßei allen Heiligen!« dachte er »ich habe doch nie die Absicht gehabt, mein ganzes Leben lang Mathematiker zu sein:*« Aber welche Absicht hatte er eigentlich gehabt? In diesem Au- genblick hätte er sich nur noch der Philosophie zuwenden können. Aber die Philosophie in diesem Zustand, worin sie sich damals befand, erinneite ihn an die Geschichte der Dido, wo eine Ochsen- haut auf Riemen geschnitten wird, während es sehr ungewiß blieb, ob man auch wirklich ein Königreich damit umspannt; und was sich von Ner m ansetzte, war von ähnlicher Art wie das, was er selbst getrieben hatte, und vermochte ihn nicht zu verlocken. Er konnte nur sagen, daß er sich von dem, was er eigentlich hatte sein wollen, weiter entfernt fühlte als in seiner Jugend, falls es ihm nicht überhaupt ganz und gar unbekannt geblieben war. In wundervoller Schärfe sah er, mit Ausnahme des Geldverdienens, das er nicht nötig hatte, alle von seiner Zeit begünstigten Fähig- keiten und Eigenschaften in sich, aber die Möglichkeit ihrer An- wendung war ihm abhandengekommen; und da es schließlich, wenn schon Fußballspieler und Pferde Genie haben, nur noch der Gebrauch sein kann, den man von ihm macht, was einem für die Rettung der Eigenheit übrigbleibt, beschloß er, sich ein Jahr Ur- laub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwen- dung seiner Fähigkeiten zu suchen. 14 Jugendfreunde Ulrich war seit seiner Rückkehr schon einigemal bei seinen Freun- den Walter um 1 Ciarisse gewesen, denn diese beiden waicn trotz des Sommers nicht verreist, und er hatte sie mehrere Jahre lang nitht gesehen. Jedesmal, wenn er ankam, spielten sie Klavier. Sie fanden es selbst verstand! ich, ihn in einem solchen Augenblick nlchl zu benu-iken. che das Stück zu Ende war. Es wai diesmal Beethovens Jubel hed dei Et ende; die Millionen sanken, wie es 4s Nietzsche beschreibt, schauervoll in den Staub, die feindlichen Ab- grenzungen zerbrachen, das Evangelium der Weltenharmonie ver- söhnte, vereinigte die Getrennten; sie hatten das Gehen und Spre- chen verlernt und waren auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. Die Gesichter waren gefleckt, die Körper verbogen, die Köpfe hackten ruckweise auf und nieder, gespreizte Klauen schlugen in die sich aufbäumende Tonmasse. Unermeßliches ge- schah; eine undeutlich umgrenzte, mit heißem Empfinden gefüllte Blase schwoll bis zum Platzen an, und von den erregten Finger- spitzen, den nervösen Runzeln der Stirn, den Zuckungen des Leibs strahlte immer neues Gefühl in den ungeheuren Privataufruhr. Wie oft hatte sich das wohl schon wiederholt? Ulrich hatte dieses stets offene Klavier mit den gefletschten Zäh- nen nie leiden mögen, diesen breitmäuligen, kurzbeinigen, aus Teckel und Bulldogg gekreuzten Götzen, der sich das Leben seiner Freunde unterworfen hatte, bis zu den Bildern an der Wand und den spindeldürren Entwürfen der Kunstfabrikmöbel; selbst die Tatsache, daß es kein Hausmädchen gab, sondern nur eine Zu- geherin, die kochte und fegte, gehörte dazu. Hinter den Fenstern dieses Haushalts stiegen die Weinberge mit Gruppen alter Bäume und schiefen Häuschen zu den geschwungenen Wäldern an, aber in der Nähe war alles unordentlich, kahl, vereinzelt und verätzt, wie es ringsum ist, wo sich die Ränder großer Städte ins Land vorschieben. Zwischen solcher Nähe und holder Ferne den Bogen spannte das Instrument; schwarz schimmernd sandte es Feuer- säulen von Sanftheit und Heroik zu den Wänden hinaus, wenn sie auch, zu feinster Tonasche, zerrieben, schon wenige hundert Schritte weiter niederfielen, ohne auch nur den Hügel mit den Kie- fern zu erreichen, wo die Schenke in der Hälfte des Wegs stand, der zum Wald führte. Jedoch die Wohnung vermochte das Klavier dröhnen zu machen und war eins jener Megaphone, durch welche die Seele ins All schreit wie ein brünstiger Hirsch, dem nichts ant- wortet als der wetteifernde gleiche Ruf tausend anderer einsam ins All röhrender Seelen. Ulrichs starke Stellung in diesem Haus beruhte darauf, daß er Musik für eine Ohnmacht des Willens und Zerrüttung des Geistes erklärte und geringschätziger von ihr sprach, als er es meinte; denn für Walter und Ciarisse war sie zu jener Zeit höchste Hoffnung und Angst. Sie verachteten ihn teils dafür, teils verehrten sie ihn wie einen bösen Geist. Als diesmal das Spiel endete, blieb Walter weich, aus- gelaufen und verloren auf seinem halb umgedrehten Schemel vor dem Klavier sitzen, Ciarisse aber stand auf und begrüßte leb- haft den Eindringling. In ihren Händen und ihrem Gesicht zuckte noch die elektrische Ladung des Spiels, ihr Lächeln 4 Mu&il, Mann - 49 - zwängte sich zwischen einer Spannung von Begeisteiung und Ekel durch. »FroschkonigL sagte sie, und ihr Kopf deutete hinter sieh auf die Musik oder Walter. Ulrich fühlte die federnde Kiaft des Ban- des zwischen sich und ihr wieder gespannt. Sie hatte ihm bei sei- nem letzten Besuch von einem fuuhtharen Traum ei zahlt; ein schlüpfriges Geschöpf wollte sie im Schlaf überwältigen, es war bauchig-weich, zärtlich und gr auenvoll, und dieser große Fioseh bedeutete Walters Musik Die beiden Freunde wahrten vor Ulrich nicht viel Geheimnisse. Kaum hatte (Hausse ihn nun begrüßt, so wandte sie sich auch schon wiedei von ihm ab, kehlte lasch zu Walter zurück, stieß abeimals ihien Kriegs! uf Froschkomg aus. den Walter, wie es schien, nicht begriff, und liß ihn mit ihren noch von der Musik zuckenden Händen schmerzlich und schmelzend wild an den Haaien. Ihr Gatte machte ein liebenswürdig verdutztes Ge- sicht und kehrte um einen Schiitt näher aus der schlüpfrigen Leere der Musik zurück. Dann gingen Ciarisse und Ulrich ohne ihn im schrägen Pfeil- regen der Abendsonne spazieren: er blieb am Klavier zurück. Ciarisse sagte: »Sich etwas Schädliches verbieten können, ist die Probe der Lebenskraft! Den Erschöpften lockt das Schädliche! — Was meinst du dazu? Nietzsche behauptet» daß es ein Zeichen von Schwäche ist, wenn sich ein Künstler zuviel mit clei Moral seiner Kunst beschäftigte Sie hatte sich auf einen kleinen Kidhügel gesetzt. Ulrich zuckte die Achseln. Als Ciarisse vor drei Jahren seinen Jugendfreund heiratete, war sie zweiundzwanzig Jahre alt ge- wesen, und er selbst hatte ihr zur Hochzeit die Werke Nietzsches geschenkt. ^Wenn ich Walter wäre, würde ich Nietzsche zum Duell herausfordern« antwortete er lächelnd. Clarissens schlanker, in zarten Linien unter dem Kleid schwe- bender Rücken spannte sich wie ein Bogen, und auch ihr Gesicht war gewaltsam gespannt; sie hielt es von dem des Freundes ängst- lich abgewandt. »Du bist noch immer mädchen- und heldenhaft zugleich . . .« fügte Ulrich hinzu; es war eine Frage oder auch keine, ein wenig Scherz» aber auch ein wenig zärtliche Verwunderung; Ciarisse vei- stand nicht ganz, was er meine, aber die beiden Worte, die er schon einmal gebraucht hatte, bohrten sich in sie wie ein Brandpfeil in ein Strohdach. Hie und da kam eine Welle planlos aufgewühlter Töne zu ihnen herüber. Ulrich wußte, daß sie sich Walter wochenlang verweigerte, wenn er Wagner spielte. Trotzdem spielte er Wagner; mit schlech- tem Gewissen; wie ein Knabenlaster. -50- Ciarisse hätte gerne Ulrich gefragt, wie viel er davon wisse; Walter konnte nie etwas für sich behalten; aber sie schämte sich zu fragen. Nun hatte sich auch Ulrch auf einen kleinen Erdhügel in ihre Nähe gesetzt, und endlich sagte sie etwas ganz anderes. »Du liebst Walter nicht« sagte sie. »Du bist in Wahrheit nicht sein Freund.« Es klang herausfordernd, aber sie lachte dazu. Ulrich gab eine unerwartete Antwort. »Wir sind eben Jugend- freunde. Du bist noch ein Kind gewesen, Ciarisse, als wir uns schon in dem unverkennbaren Verhältnis einer ausgehenden Jugend- freundschaft befanden. Wir haben uns vor unzählig vielen Jahren gegenseitig bewundert, und jetzt mißtrauen wir einander mit inniger Kenntnis. Jeder möchte sich von dem peinlichen Eindruck befreien, daß er den anderen einst mit sich selbst verwechselt hat, und so leisten wir uns den Dienst unbestechlicher Zerrspiegel.« »Du glaubst also nicht,« sagte Ciarisse »daß er doch noch etwas erreichen wird?« »Es gibt kein zweites solches Beispiel der Unentrinnbarkeit wie das, das ein begabter junger Mensch bietet, wenn er sich zu einem gewöhnlichen alten Menschen einengt; ohne Schlag des Schicksals, nur durch die Einschrumpfung, die ihm vorher bestimmt war!« Clarisse schloß die Lippen fest aufeinander. Das alte Jugend- Übereinkommen zwischen ihnen, daß Überzeugung vor Rücksicht gehe, preßte ihr das Herz hoch, aber es schmerzte. Musik! Immerzu wühlten die Klänge herüber. Sie horchte hin. Jetzt, während des Schweigens, hörte man deutlich das Kochen des Klaviers. Wenn man nicht aufpaßte, schien es wie »wabernde Lohe« aus den Erd- hügeln aufzusteigen. Es wäre schwer zu sagen gewesen, was Walter wirklich war. Er war ein angenehmer Mensch mit sprechenden, gehaltvollen Augen, noch heute, soviel stand fest, obgleich er das vierunddreißigste Jahr schon überschritten hatte, und seit einiger Zeit war er in irgendeinem Kunstamt angestellt. Sein Vater hatte ihm diese bequeme Beam- tenstellung verschafft und die Drohung damit verknüpft, daß er ihm seine Geldunterstützung entziehen werde, wenn er sie nicht annehme. Denn eigentlich war Walter Maler; er hatte gleichzeitig mit dem Kunstgeschichtsstudium an der Universität in einer Mal- klasse der Staatsakademie gearbeitet und später eine Zeitlang in einem Atelier gewohnt. Auch als er mit Clarisse in dieses Haus unter dem freien Himmel gezogen war, er hatte sie kurz vorher geheiratet, war er Maler gewesen; aber jetzt, so schien es, war er "wieder Musiker und im Lauf seiner zehnjährigen Liebeszeit war er bald das eine, bald das andere gewesen, dazu noch Dichter, hatte eine literarische Zeitschrift herausgegeben, war, um heiraten zu können, Angesteliter eines Bühnenvertriebs geworden, hatte -51- nach wenigen Wochen auf seine Absicht verzichtet, war, um hei- raten zu können, nach einiger Zeit Theaterkapellmeister geworden, hatte nach einem halben Jahr auch diese Unmöglichkeit durch- schaut, war Zeichenlehrer, Musikkritiker, Einsiedler und manches andere gewesen, bis sein Vater und sein zukünftiger Schwieger- vater trotz aller Weitherzigkeit das nicht mehr ertrugen. Solche älteren Leute pflegten zu behaupten, daß es ihm einfach an Wil- len fehle; aber da hätte man ebensogut behaupten können, daß er sein Leben lang nur ein vielseitiger Dilettant gewesen sei, und das Merkwürdig? war doch gerade, daß sich immer auch Fachleute in der Musik, der Malerei oder dem Schrifttum gefunden hatten, die über Walteis Zukunft begeisterte Urteile abgaben. In Ulrichs Leben, zum Gegenbeispiel, obgleidi er einiges fertiggebracht hatte, dessen Wert sich nicht bestreiten ließ, hatte es sich niemals ereig- net, daß ein Mensch zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte: Sie sind der Mann, den ich immer gesucht habe und auf den meine Freunde warten! In Walters Leben war das alle Vierteljahr vor- gekommen. Und wenn das auch nicht gerade die maßgeblichsten Beurteiler gewesen sind, so waren alle doch Leute, die über irgend- einen Einfluß, einen aussichtsreichen Vorschlag, begonnene Unter- nehmen, Stellungen, Freundschaften und Förderung vei fügten, die sie dem von ihnen entdeckten Walter zur Verfügung stellten, des- sen Leben gerade dadurch einen so reichen Zickzacklauf nehmen konnte. Irgendetwas schwebte über ihm, das mein zu bedeuten schien als eine bestimmte Leistung. Vielleicht war das eine eigene Begabung, für eine große Begabung zu gelten. Und wenn das Dilettantismus sein sollte, dann beruht das Geistesleben der deut- schen Nation zu einem großen Teil auf Dilettantismus, denn diese Begabung gibt es in allen Abstufungen, bis zu den wirklich sehr begabten Menschen hinauf, denn erst bei diesen dürfte sie allem Anschein nach gewöhnlich fehlen. Und selbst die Begabung, das zu durchschauen, hatte Walter. Obgleich er natürlich wie jedermann bereit war, an seine Erfolge als ein persönliches Verdienst zu glauben, hatte ihn doch sein Vor- zug, daß er von jedem Glückszufall mit solcher Leichtigkeit em- porgehoben wurde, seit je wie ein beängstigendes Mindergewicht beunruhigt, und so oft er seine Tätigkeiten und menschlichen Ver- bindungen wechselte, geschah es nicht bloß aus Unbeständigkeit, sondern in großen inneren Anfechtungen und von einer Angst gehetzt, er müsse um der Reinheit des inneren Sinnes willen wei- terwandern, ehe er dort Boden fasse, wo sich das Trügerische schon andeute. Sein Lebensweg war eine Kette von erschütternden Er- lebnissen, aus denen der heroische Kampf einer Seele hervorging, die allen Halbheiten widerstand und keine Ahnung davon hatte, -52- daß sie damit der eigenen diente. Denn während er um die Moral seines geistigen Tuns litt und kämpfte, wie es einem Genie zu- kommt, und den vollen Einsatz für seine Begabung erlegte, die nicht zu Großem genügte, hatte ihn sein Schicksal still innen im Kreis zum Nichts zurückgeführt. Er hatte endlich den Platz er- reicht, wo ihn nichts mehr hinderte; der stille, zurückgezogene, gegen alle Unreinlichkeiten des Kunstmarkts geschützte Dienst in seiner halbgelehrten Stellung ließ ihm reichlich Unabhängigkeit und Zeit, um ganz seinem inneren Ruf zu lauschen, der Besitz der Geliebten nahm die Dornen von seinem Herz, das Haus »am Rande der Einsamkeit«, das er mit ihr nach seiner Heirat bezog, war wie geschaffen zur Schöpfung: aber, als nichts mehr da war, was über- wunden werden mußte, geschah das Unerwartete, die Werke, welche die Größe seiner Gesinnung so lange versprochen hatte, blieben aus. Walter schien nicht mehr arbeiten zu können; er ver- barg und vernichtete; er sperrte sich jeden Morgen oder nachmit- tags, wenn er heimkam, stundenlang ein, machte stundenweite Spaziergänge mit dem geschlossenen Skizzenbuch, aber das wenige, was dabei entstand, hielt er zurück oder vernichtete es. Er hatte hundert verschiedene Gründe dafür. Im ganzen begannen sich aber auch seine Anschauungen in dieser Zeit auffallend zu verändern. Er sprach nicht mehr von »Zeitkunst« und »Zukunftskunst«, Vor- stellungen, die für Clarisse seit ihrem fünfzehnten Jahre mit ihm verbunden waren, sondern zog irgendwo einen Strich — in der Musik etwa bei Bach, in der Dichtung bei Stifter, in der Malerei bei Ingres abschließend — und erklärte, daß alles, was später ge- kommen sei, überladen, entartet, überspitzt und abwärtsgerichtet wäre; ja es geschah immer heftiger, daß er behauptete, in einer derart in ihren geistigen Wurzeln vergifteten Zeit, wie es die gegenwärtige sei, müsse sich eine reine Begabung der Schöpfung überhaupt enthalten. Aber das Verräterische war, obgleich solche strenge Meinung aus seinem Munde kam, daß aus seinem Zimmer, sobald er sich einsperrte, immer öfter die Klänge Wagners zu dringen begannen, das heißt einer Musik, die er Clarisse in frü- heren Jahren als das Musterbeispiel einer philiströs überladenen, entarteten Zeit verachten gelehrt hatte, der er aber jetzt selbst wie einem dick gebrauten, heißen, betäubenden Getränk erlag. Clarisse wehrte sich dagegen. Sie haßte Wagner schon wegen seiner Samtjacke und seines Baretts. Sie war die Tochter eines Malers, dessen Bühnenentwürfe in der weiten Welt berühmt waren. Sie hatte ihre Kindheit in einem Reich von Kulissenluft und Farbengeruch verbracht, zwischen drei verschiedenen Kunst- jargons, denen des Schauspiels, der Oper und des Malerateliers, umgeben von Samt, Teppichen, Genie, Pantherfellen, Bibelots, ~S3- Pfauenwedeln, Truhen und Lauten. Sie verabscheute darum aus ihrer ganzen Seele alle Wollust der Kunst und fühlte sich zu allem Mager-Strengen hingezogen, ob es nun die Metageometrie der atonalen neuen Tondichtung war oder der enthäutete, wie ein Muskelpräparat klar gewordene Wille klassischer Formen. In ihie jungfräuliche Gefangenschaft hatte Walter die erste Botschaft davon gebracht. »Lichtpnnz« hatte sie ihn genannt, und schon als sie ein Kind war, hatten Walter und sie einander zugeschworen, nicht zu heiraten, ehe er ein König geworden sei. Die Geschichte seiner Veränderungen und Unternehmungen war zugleich eine Geschichte unermeßlicher Leiden und Entzückungen, deren Kampf- preis sie gebildet hatte. Glarisse war nicht so begabt wie Walter, das hatte sie immer gefühlt. Aber sie hielt Genie für eine Frage des Willens. Mit wilder Energie hatte sie sich das Studium der Musik anzueignen gesucht; es war nicht unmöglich, daß sie über- haupt nicht musikalisch war, aber sie besaß zehn sehnige Klavier- finger und Entschlossenheit; sie übte tagelang und trieb ihre Finger wie zehn magere Ochsen an, die etwas übermächtig Schweres aus dem Grund reißen sollen. In der gleichen Weise betrieb sie die Malerei. Sie hatte Walter seit ihrem fünfzehnten Jahr für ein Genie gehalten, weil sie stets die Absicht gehabt hatte, nur ein Genie zu heiraten. Sie erlaubte ihm nicht, keines zu sein. Und als sie sein Versagen merkte, wehrte sie sich wild gegen diese erstic- kende, langsame Veränderung in ihrer Lebensatmosphäre. Gerade da hätte nun Walter menschliche Wärme gebraucht, und er drängte, wenn ihn seine Ohnmacht quälte, zu ihr wie ein Kind, das Milch und Schlaf sucht, aber Glarissens kleiner, nervöser Leib war nicht mütterlich. Sie kam sich von einem Parasiten mißbraucht vor, der sich in ihr einnisten wollte, und sie verweigerte sich. Sie verhöhnte die wallende Waschküchenwärme, in der er Trost suchte. Es kann sein, daß das grausam war Aber sie wollte die Gefährtin eines großen Menschen sein und rang mit dem Schicksal. Ulrich hatte Glarisse eine Zigarette angeboten. Was hätte ex noch sagen sollen, nachdem er so rücksichtslos gesagt hatte, was er dachte. Der Rauch ihrer Zigaretten, der den Strahlen der Abend- sonne nachzog, vereinigte sich in einiger Entfernung von ihnen. »Wieviel weiß Ulrich davon?« dachte Glarisse auf ihrem Erd- hügel. »Ach, was könnte er überhaupt von solchen Kämpfen be- greifen!« Sic erinnerte sich daran, wie Walters Gesicht zerfiel, schmerzhaft bis zur Nichtigkeit, wenn die Leiden der Musik und Sinnlichkeit ihn bedrängten und ihr Widerstand keinen Ausweg freigab; nein — nahm sie an — von diesem Ungeheuren eines Liebesspiels wie auf dem Himalaja, aufgebaut aus Liebe. Ver- achtung, Angst und den Pflichten der Höhe, wußte Ulrich nichts. -54 - Sie hatte keine sehr günstige Meinung von Mathematik, und nie- mals hatte sie ihn für ebenso begabt gehalten wie Walter. Er war ö escheit, er war logisch, er wußte viel; aber ist das mehr als Bar- barei? Er hatte allerdings früher unvergleichlich besser Tennis gespielt als Walter, und sie konnte sich erinnern, bei seinen rück- sichtslosen Schlägen manchmal so heftig empfunden zu haben, der wird erreichen, was er will, wie sie es nie vor Walters Malerei, Musik oder Gedanken empfand. Und sie dachte: »Vielleicht weiß er doch alles von uns und sagt nichts!?« Schließlich hatte er ja vor- hin ganz deutlich auf ihre Heldenhaftigkeit angespielt. Dieses Schweigen zwischen ihnen war nun ungemein spannend. Aber Ulrich dachte: »Wie nett war Ciarisse doch vor zehn Jah- ren gewesen; dieses halbe Kind mit seiner Feuersbrunst des Glau- bens an die Zukunft von uns dreien.« Und unangenehm war sie ihm eigentlich nur ein einzigesmal geworden, damals, als Walter und sie geheiratet hatten; da hatte sie jene unangenehme Selbst- sucht zu zweien gezeigt, die junge, in ihren Mann ehrgeizig ver- liebte Frauen für andere Männer oft so unerträglich macht. »In- zwischen ist das viel besser geworden« dachte er. 15 Geistiger Umsturz Walter und er waren jung gewesen in der heute verschollenen Zeit kurz nach der letzten Jahrhundertwende, als viele Leute sich einbildeten, daß auch das Jahrhundert jung sei. Das damals zu Grabe gegangene hatte sich in seiner zweiten Hälfte nicht gerade ausgezeichnet. Es war klug im Technischen, Kaufmännischen und in der Forschung gewesen, aber außerhalb dieser Brennpunkte seiner Energie war es still und verlogen wie ein Sumpf. Es hatte gemalt wie die Alten, gedichtet wie Goethe und Schiller und seine Häuser im Stil der Gotik und Renaissance gebaut. Die Forderung des Idealen waltete in der Art eines Poli- zeipräsidiums über allen Äußerungen des Lebens. Aber vermöge jenes geheimen Gesetzes, das dem Menschen keine Nachahmung erlaubt, ohne sie mit einer Übertreibung zu verknüpfen, wurde damals alles so kunstgerecht gemacht, wie es die bewunderten Vor- bilder niemals zustandegebracht hätten, wovon man ja noch heute die Spuren in den Straßen und Museen sehen kann, und, ob das nun damit zusammenhängt oder nicht, die ebenso keuschen wie scheuen Frauen jener Zeit mußten Kleider von den Ohren bis zum Erdboden tragen, aber einen schwellenden Busen und ein üppiges -55- Gesäß aufweisen. Im übrigen kennt man aus allerlei Gründen von keiner gewesenen Zeit so wenig wie von solchen drei bis fünf Jahr- zehnten, die zwischen dem eigenen zwanzigsten Jahr und dem zwanzigsten Lebensjahr der Väter liegen. Es kann deshalb nützen, sich auch daran erinnern zu lassen, daß in schlechten Zeiten die schrecklichsten Häuser und Gedichte nach genau ebenso schönen Grundsätzen gemacht werden wie in den besten; daß alle Leute, die daian beteiligt sind, die Ki folge eines vorangegangenen guten Abschnitts zu zerstören, das Gefühl haben, sie zu verbessern; und daß sich die blutlosen jungen Leute einer solchen Zeit auf ihr junges Blut genau so viel einbilden wie die neuen Leute in allen anderen Zeiten. Und es ist jedesmal wie ein Wunder, wenn nach einer solchen flach dahinsinkenden Zeit plötzlich ein kleiner Anstieg der Seele kommt, wie es damals geschah. Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötz- lich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. Allenthalben war plötzlich der rechte Mann zur Stelle; und was so wichtig ist, Männer mit praktischer Unternehmungslust fanden sich mit den geistig Unter- nehmungslustigen zusammen. Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Alle- mannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, natu- ralistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlidien Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewal- tigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämp- fern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemein- samen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus höl- zernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Diese Illusion, die ihre Verkör- - 56 - perung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende fand, war so stark, daß sich die einen begeistert auf das neue, noch unbe- nutzte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten wie in einem Hause gehen ließen, aus dem man ohnehin aus- zieht, ohne daß sie diese beiden Verhaltensweisen als sehr unter- schiedlich gefühlt hätten. Wenn man nicht will, braucht man also diese vergangene »Be- wegung« nicht zu überschätzen. Sie vollzog sich ohnehin nur in jener dünnen, unbeständigen Menschenschicht der Intellektuellen, die von den heute Gott sei Dank wieder obenauf gekommenen Menschen mit unzerreißbarer Weltanschauung, trotz aller Unter- schiede dieser Weltanschauung, einmütig verachtet wird, und wirkte nicht in die Menge. Aber immerhin, wenn es auch kein geschichtliches Ereignis geworden ist, ein Ereignislein war es doch, und die beiden Freunde Walter und Ulrich hatten, als sie jung waren, gerade noch einen Schimmer davon erlebt. Durch das Ge- wirr von Glauben ging damals etwas hindurch, wie wenn viele Bäume sich in einem Wind beugen, ein Sekten- und Besserergeist, das selige Gewissen eines Auf- und Anbruchs, eine kleine Wieder- geburt und Reformation, wie nur die besten Zeiten es kennen, und wenn man damals in die Welt eintrat, fühlte man schon an der ersten Ecke den Hauch des Geistes um die Wangen. 16 Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit Da waren sie also wirklich vor gar nicht so langer Zeit zwei junge Männer gewesen, — dachte Ulrich, als er wieder allein war — denen die größten Erkenntnisse seltsamerweise nicht nur zuerst und vor allen anderen Menschen einfielen, sondern noch dazu gleichzeitig, denn der eine brauchte nur den Mund zu öffnen, um etwas Neues zu sagen, so machte der andere schon die gleiche un- geheure Entdeckung. Es ist etwas Sonderbares um Jugendfreund- schaften; sie sind wie ein Ei, das seine herrliche Vogelzukunft schon im Dotter fühlt, aber gegen die Welt kehrt es noch nichts heraus als eine etwas ausdruckslose Eilinie, die man von keiner anderen unterscheiden kann. Er sah deutlich das Knaben- und Studenten- zimmer vor sich, wo sie einander trafen, wenn er von seinen ersten Ausflügen in die Welt für ein paar Wochen zurückgekehrt war. Walters mit Zeichnungen, Notizen und Notenblättern bedeckten Schreibtisch, der den Glanz der Zukunft eines berühmten Mannes vorausstrahlte, und das schmale Büchergestell gegenüber, an dem -57- Walter zuweilen im Eifer wie Sebastian am Pfahle stand, Lam- penlicht auf dem schönen Haar, das Ulrich immer heimlich bewun- dert hatte. Nietzsche, Altenberg, Dostojewski oder wen immer sie gerade gelesen hatten, mußten sich bescheiden, auf der Erde oder dem Bett liegen zu bleiben, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden und d^r Strom des Gesprächs die kleinliche Störung, sie ordentlich zurückzustellen, nicht duldete. Die Oberhebung der Jugend, der die größten Geister gerade gut genug sind, um sich ihrer nach Belieben zu bedienen, kam ihm in diesem Augenblick wunderlich hold vor. Er suchte sich an die Gespräche zu erinnern. Sic waren wie Traum, wenn man im Erwachen noch die letzten Gedanken des Schlafs erwischt. Und er dachte mit einem leichten Staunen: wenn wir damals Behauptungen aufstellten, so hatten sie auch noch einen anderen Zweck als den, richtig zu sein; eben den, uns zu behaup- ten! — So viel stärker war in der Jugend der Trieb, selbst zu leuchten, als der, im Lichte zu sehen; er fühlte die Erinnerung an dieses wie auf Strahlen schwebende Gefühl der Jugend als einen schmerzlichen Verlust. Es kam Ulrich vor, daß er beim Beginn der Mannesjahre in ein allgemeines Abflauen geraten war, das trotz gelegentlicher, rasch sich beruhigender Wirbel zu einem immer lustloseren, wirren Puls- schlag verrann. Es ließ sich kaum sagen, worin diese Veränderung bestand. Gab es mit einemmal weniger bedeutende Männer? Kei- neswegs! Und überdies, es kommt auf sie gar nicht an; die Höhe einer Zeit hängt nicht von ihnen ab, zum Beispiel hat weder die Ungeistigkeit der Menschen der Sechziger- und Achtziger jähre das Werden Hebbels und Nietzsches zu unterdrücken vermocht, noch einer von diesen die Ungeistigkeit seiner Zeitgenossen. Stockte das allgemeine Leben? Nein; es war mächtiger geworden! Gab es mehr lähmende Widersprüche als früher? Es konnte kaum mehr davon geben! Waren früher keine Verkehrtheiten begangen wor- den? In Mengen! Unter uns gesagt: Man warf sich für schwache Männer ins Zeug und ließ starke unbeachtet; es kam vor, daß Dummköpfe eine Führer- und große Begabungen eine Sonder- lingsrolle spielten; der deutsche Mensch las unbekümmert um alle Geburtswehen, die er als dekadente und krankhafte Übertreibun- gen bezeichnete, seine Familienzeitschriften weiter und besuchte in unvergleichlich größeien Mengen die Glaspaläste und Künstler- häuser als die Sezessionen; die Politik schon gar kehrte sich nicht im geringsten an die Anschauungen der neuen Männer und ihrer Zeitschriften, und die Öffentlichen Einrichtungen blieben gegen das Neue wie von einem Pestkordon umzogen. — Könnte man nicht geradezu sagen, daß seither alles besser geworden sei? Menschen, die früher bloß an der Spitze kleiner Sekten gestanden haben, sind -58- inzwischen alte Berühmtheiten geworden; Verleger und Kunst- händler reich; Neues wird immer weiter gegründet; alle Welt be- sucht sowohl die Glaspaläste wie die Sezessionen und die Sezes- sionen der Sezessionen; die Familienzeitschriften haben sich die Haare kurz schneiden lassen; die Staatsmänner zeigen sich gern in den Künsten der Kultur beschlagen, und die Zeitungen machen Literaturgeschichte. Was ist also abhanden gekommen? Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinander- geraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt. Es hätten sich schlechterdings keine Einzelheiten nachweisen lassen, die nicht auch früher möglich gewesen wären, aber alle Verhältnisse hatten sich ein wenig verschoben. Vorstel- lungen, deren Geltung früher mager gewesen war, wurden dick. Personen ernteten Ruhm, die man früher nicht für voll genommen hätte. Schroffes milderte sich, Getrenntes lief wieder zusammen, Unabhängige zollten dem Beifall Zugeständnisse, der schon gebil- dete Geschmack erlitt von neuem Unsicherheiten. Die scharfen Grenzen hatten sich allenthalben verwischt, und irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen, hob neue Men- schen und Vorstellungen empor. Die waren nicht schlecht, gewiß nicht; nein, es war nur ein wenig zu viel Schlechtes ins Gute ge- mengt, Irrtum in die Wahrheit, Anpassung in die Bedeutung. Es schien geradezu einen bevorzugten Prozentsatz dieser Mischung zu geben, der in der Welt am weitesten kam; eine kleine, eben aus- reichende Beimengung von Surrogat, die das Genie erst genial und das Talent als Hoffnung erscheinen ließ, so wie ein gewisser Zu- satz von Feigen- oder Zichorienkaffee nach Ansicht mancher Leute dem Kaffee erst die rechte gehaltvolle Kaffeehaftigkeit verleiht, und mit einemmai waren alle bevorzugten und wichtigen Stel- lungen des Geistes von solchen Menschen besetzt, und alle Entscheidungen fielen in ihrem Sinne. Man kann nichts dafür verantwortlich machen. Man kann auch nicht sagen, wie alles so geworden ist. Man kann weder gegen Personen noch gegen Ideen oder bestimmte Erscheinungen kämpfen. Es fehlt nicht an Be- gabung noch an gutem Willen, ja nicht einmal an Charakteren. Es fehlt bloß ebensogut an allem wie an nichts; es ist, als ob sich das Blut oder die Luft verändert hätte, eine geheimnisvolle Krank- heit hat den kleinen Ansatz zu Genialem der früheren Zeit ver- zehr t, aber alles funkelt von Neuheit, und zum Schluß weiß man nicht mehr, ob wirklich die Welt schiechter geworden sei oder man selbst bloß älter. Dann ist endgültig eine neue Zeit gekommen. So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend -59- blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freund- lichkeit besessen, auf Ulrich zu warten. Er vergalt es seiner Zeit damit, daß er die Ursache der geheimnisvollen Veränderungen, die ihre Krankheit bildeten, indem sie das Genie aufzehrten, für ganz gewöhnliche Dummheit hielt. Durchaus nicht in einem belei- digenden Sinn. Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sähe, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches, Wenn man zum Beispiel findet, daß ein Öldruck eine kunstvollere Leistung sei als ein handgemaltes Ölbild, so steckt eben auch eine Wahrheit darin, und sie ist sicherer zu beweisen als die, daß van Gogh ein großer Künstler war. Ebenso ist es sehr leicht und loh- nend, als Dramatiker kräftiger als Shakespeare oder als Erzähler ausgeglichener als Goethe zu sein, und ein rechter Gemeinplatz hat immerdar mehr Menschlichkeit in sich als eine neue Entdeckung. Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit da- gegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil. Nach einer Weile hatte Ulrich aber in Verbindung damit einen wunderlichen Einfall. Er stellte sich vor, der große Kirchenphilo- soph Thomas von Aquino, gestorben 1274, nachdem er die Gedan- ken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung gebracht hatte, wäre damit noch gründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden; nun trat er, durch besondere Gnade jung geblieben, mit vielen Folianten unter dem Arm aus seiner rundbogigen Haustür, und eine Elektrische sauste ihm an der Nase vorbei. Das verständnislose Staunen des Doctor universalis, wie die Vergangenheit den berühmten Thomas genannt hat, belustigte ihn. Ein Motorradfahrer kam die leere Straße entlang, oarmig, obeinig donnerte er die Perspektive herauf. Sein Gesicht hatte den Ernst eines mit ungeheurer Wichtigkeit brüllenden Kindes. Ulrich erinnerte sich dabei an das Bild einer berühmten Tennisspielerin, das er vor einigen Tagen in einer Zeitschrift gesehen hatte; sie stand auf der Zehenspitze, hatte das Bein bis über das Strumpf- band entblößt und schleuderte das andere Bein gegen ihren Kopf, während sie mit dem Schläger hoch ausholte, um einen Bull zu nehmen; dazu machte sie das Gesicht einer englischen Gouvernante. In dem gleichen Heft war eine Schwimmerin abgebildet, wie sie sich nach dem Wettkampf massieren ließ; zu Füßen und zu Häup- -60- ten stand ihr je eine ernst zusehende Frauensperson in Straßen- kleidung, während sie nackt auf einem Bett am Rücken lag, ein Knie in einer Stellung der Hingabe hochgezogen, und der Masseur daneben hatte die Hände darauf ruhen, trug einen Ärztekittel und blickte aus der Aufnahme heraus, als wäre dieses Frauenfleisch enthäutet und hinge auf einem Haken. Solche Dinge begann man damals zu sehen, und irgendwie muß man sie anerkennen, so wie man die Hochbauten anerkennt und die Elektrizität. »Man kann seiner eignen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen« fühlte Ulrich. Er war auch jederzeit bereit, alle diese Gestaltungen des Lebendigen zu lieben. Was er niemals zustande brachte, war bloß, sie restlos, so wie es das soziale Wohlgefühl erfordert, zu lie- ben; seit langem blieb ein Hauch von Abneigung über allem liegen, was er trieb und erlebte, ein Schatten von Ohnmacht und Einsam- keit, eine universale Abneigung, zu der er die ergänzende Neigung nicht finden konnte. Es war ihm zuweilen geradeso zumute, als wäre er mit einer Begabung geboren, für die es gegenwärtig kein Ziel gab. 17 Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften Während Ulrich sich mit Ciarisse unterhielt, hatten die bei- den nicht bemerkt, daß die Musik hinter ihnen zeitweilig aus- setzte. Walter trat dann ans Fenster. Er konnte die beiden nicht sehn, aber er fühlte, daß sie knapp vor der Grenze seines Gesichts- felds standen. Eifersucht quälte ihn. Gemeiner Rausch schwer sinn- licher Musik lockte ihn zurück. Das Klavier in seinem Rücken stand offen wie ein Bett, das ein Schläfer zerwühlt hat, der nicht auf- wachen mag, um der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu müs- sen. Die Eifersucht eines Gelähmten, der die Gesunden schreiten fühlt, peinigte ihn, und er brachte es nicht übei sich, sich ihnen an- zuschließen; denn sein Schmerz bot keine Möglichkeit, sich gegen sie zu verteidigen. Wenn Walter sich morgens erhob und ins Büro eilen mußte, wenn er tagsüber mit Menschen sprach und wenn er nachmittags zwischen ihnen nach Hause fuhr, fühlte er, daß er ein bedeutender Mensch sei und zu Besonderem berufen. Er glaubte dann alles an- ders zu sehen; ihn konnte das ergreifen, woran andere achtlos vor- beigingen, und wo andere achtlos nach einem Ding griffen, dort war für ihn schon die Bewegung des eigenen Arms voll geistiger -61- Abenteuer oder in sich seihst verliebter Lähmung'. Er war emp- findsam, und sein Gefühl war immer bewegt von Grübeleien, (trü- ben, wogenden Tälern und Bergen; er war niemals gleichgültig, sondern sah in allem ein Glück oder ein Unglück und hatte dadurch stets die Gelegenheit zu lebhaften Gedanken. Solche Menschen üben eine ungewöhnliche Anziehung auf andere aus, weil sich die moralische Bewegung, in der sie sich unausgesetzt befinden, diesen mitteilt; in ihren Gesprächen nimmt alles eine persönliche Bedeu- tung an, und weil man sich im Verkehr mit ihnen unausgesetzt mit sich selbst beschäftigen darf, beieiten sie ein Vergnügen, das man sonst nur gegen Honorar bei einem Psychoanalytiker oder Indivi- dualpsychologen gewinnt, noch dazu mit dem Unterschied, daß man sich dort krank fühlt, während Waltei den Menschen dazu verhalf, sich aus Gründen, die ihnen bisher entgangen waien, sehr wichtig vorzukommen. Mit dieser Eigenschaft, geistige Selbst- beschäftigung zu verbreiten, hatte er auch Claiisse erobert und mit der Zeit alle Mitbewerber aus dem Feld geschlagen; ei konnte» weil ihm alles zu ethischer Bewegung winde, überzeugend von der Unmoral des Ornaments, der Hygiene der glatten Form und dem Bierdunst der Wagnennnsik sprechen, wie es dem neuen Kunst- geschmack entsprach, und selbst seinen zukünftigen Schwiegei papa, der ein Malergehirn wie ein Pfauenrad hatte, setzte er damit in Schrecken. Es stand also außer Zweifel, daß Walter auf Erfolge zurückblicken durfte. Trotzdem, sobald er voll von Eindrücken und Plänen, die viel- leicht so reif und neu waren wie nie vorher, zu Hause anlangte, ging jetzt eine entmutigende Veränderung mit ihm vor, Ei brauchte nur eine Leinwand auf die Staffelei zu stellen oder ein Papier auf den Tisch zu legen, so war dies das Zeichen einer* für (hier liehen Flucht aus seinem Herzen. Sein Kopf blieb klar, und dei Plan dann schwebte gleichsam in einer sehr durchsichtigen und deutlichen Luft, ja der Plan spaltete sich und wurde */ai zwei oder mehr Plä- nen, die um den Vorrang hätten streiten können; aber die Verbin- dung vom Kopf zu den ersten Bewegungen, die zur Ausführung notwendig gewesen wären, war wie abgeschnitten. Walter konnte sich nicht entschließen, auch nur einen Finger zu nihien. Er stund einfach nicht von dem Platz auf, wo er gerade saß, und seine Ge- danken glitten an der Aufgabe, die et sich gestellt hatte, wie Schnee ab, der im Augenblick des Falls zergeht. Er wußte nicht, wovon die Zeit ausgefüllt wurde, aber ehe er sich dessen versah, ward es Abend, und da er nach einigen solchen Erfahrungen .schon mit der Angst vor ihnen nach Hause kam, fingen ganze Wochen- reihen zu gleiten an und vergingen wie ein wüster Halbschlaf. Durch Aussichtslosigkeit in allen seinen Entscheidungen und Be- - 62 » wegungen verlangsamt, litt er an bitterer Traurigkeit, und seine Unfähigkeit wurde zu einem Schmerz, der oft wie Nasenbluten hinter seiner Stirne saß, sobald er sich entschließen wollte» etwas zu unternehmen Walter war furchtsam, und die Ei scheinungen, die er an sich wahrnahm, hindeiten ihn nicht nur an der Arbeit, sondern sie ängstigten ihn auch sehr; denn sie waren scheinbar so unabhängig von seinem Willen, daß sie oft auf ihn den Eindruck eines beginnenden geistigen Verfalls machten. Aber während sein Zustand im Lauf des lc zten Jahrs immer schlimmer geworden war, hatte er zugleich eine wunde* bare Hilfe an einem Gedanken gefunden, den er früher nie genug geschätzt hatte. Dieser Gedanke war kein anderer als der, daß das Europa, in dem er zu leben gezwungen war, rettungslos entartet sei. In Zeitaltern, denen es äußerlich gut geht, während sie innerlich jenes Zurücksinken durchmachen, das wahrscheinlich jede Angelegen- heit und darum auch die geistige Entwicklung erfährt, wenn man ihr nicht besondcie Anstrengungen und neue Ideen zuwendet, müßte es wohl eigentlich die nächstliegende Frage sein, was man dagegen unternehmen könne; aber das Gewirr von klug, dumm, gemein, schon ist gerade in solchen Zeiten so dicht und verwickelt, daß es offenbar vielen Menschen einfacher erscheint, an ein Ge- heimnis zu glauben, weshalb sie einen unaufhaltsamen Niedergang von irgendetwas vei künden, das sich dem genauen Urteil entzieht und von feiei lieber Unscharfe ist. Es ist dabei im Grunde ganz gleich, ob das die Rasse, die Pilanzenrohkost oder die Seele sein soll; denn wie bei jedem gesunden Pessimismus kommt es nur darauf an, daß man etwas Unentrinnbares hat, woran man sich halten kann. Auch Walter, obgleich er in besseren Jahren über solche Leinen zu lachen vermocht hatte, kam, als er es selbst mit ihnen zu versuchen begann, bald auf ihre großen Vorteile. War bis dahin er arbeitsunfähig gewesen und hatte sich schlecht gefühlt, so war jetzt die Zeil unfähig und er gesund. Sein Leben, das zu nichts geführt hatte, fand mit einemmal eine ungeheure Erklärung, eine Rechtfertigung in säkularen Ausmaßen, die seiner würdig war; ja es nahm geradezu die Art eines großen Opfers an, wenn er den Stift oder die Feder in die Hand nahm und wieder weg- legte. Jedoch hatte Walter noch mit sich zu kämpfen, und Ciarisse quälte ihn. Für zeitkritische Gespräche war sie nicht zu haben; sie glaubte schmustiacks an das Genie. Was das sei, wußte sie nicht; aber ihr ganzer Kttiper begann zu zittern und sich zu spannen, wenn davon die Rede wai ; man fühlt es oder man fühlt es nicht, das war ihr einziges Beweisstück. Immer blieb sie das kleine, grau- same, fünfzehnjährige Mädihen für ihn. Niemals hatte sie sein - 63 - Fühlen ganz verstanden oder hatte er sie beherrschen können. Aber so kalt und hart, wie sie war, und dann wieder so begeistert, mit ihrem substanzlos flammenden Willen, besaß sie eine geheimnis- volle Fähigkeit, auf ihn einzuwirken, als ob Stöße durch sie hin- durch aus einer Richtung kämen, die in den diei Dimensionen des Raums nicht unterzubiingen war. Es grenzte manchmal ans Un- heimliche. Namentlich wenn sie gemeinsam musizierten, fühlte er das. Clarissens Spiel war hart und farblos, einem ihm fremden Gesetz der Erregung gehorchend; wenn die Körper bis zum Durch- schimmern der Seele glühten, kam es erschreckend zu ihm herübei. Etwas Unbestimmbares iiß sich dann los in ihr und drohte mit ihrem Geist davonzufliegen. Es kam aus einem geheimen Hohlraum in ihrem Wesen, den man ängstlich verschlossen halten mußte: er wußte nicht, woran er das fühlte und was es war; aber es peinigte ihn mit einer unaussprechlichen Angst und dem Bedürfnis, etwas Entscheidendes dagegen zu tun, was er nicht vermochte, denn nie- mand außer ihm bemerkte etwas davon. Es war ihm halbklar bewußt, während er durch das Fenster Ciarisse zurückkehren sah, daß er dem Bedürfnis, schlecht von Ulrich zu sprechen, wieder nicht werde widerstehen können. Ulrich war zur Unzeit zurückgekommen. Er schädigte Ciarisse. Er ver- schlimmerte ruchlos in ihr, woran Walter sich nicht zu rühren ge- traute, die Kaverne des Unheils, das Arme, Kranke, unselig Genia- lische in Ciarisse, den geheimen leeren Raum, wo es an Ketten riß, die eines Tags ganz nachlassen konnten. Nun stand sie barhaupt vor ihm, eben eingetreten, den Gartenhut in der Hand, und er sah sie an. Ihre Augen waren spöttisch, klar, zärtlich; vielleicht ein wenig zu klar. Zuweilen hatte er das Gefühl, daß sie einfach eine Kraft besitze, die ihm fehle. Wie einen Stachel, der ihn nicht zur Ruhe kommen lassen sollte, hatte er sie schon als Kind empfunden, und offenbar hatte er sie selbst nie anders gewollt; das war viel- leicht das Geheimnis seines Lebens, das die beiden anderen nicht verstanden. »Tief sind unsere Schmerzen!« dachte er. »Ich glaube, daß es nicht oft vorkommt, daß zwei einander so tief lieben, wie wir es tun müssen.« Und er fing ohne Übergang zu sprechen an: »Ich will nicht wissen, was dir Ulo erzählt hat; aber ich kann dir sagen, seine Kraft, die du anstaunst, ist nichts als Leere!« Clansse sah das Kla- vier an und lächelte; er hatte sich unwillkürlich wieder neben dem off enen Flügel niedergesetzt. Er fuhr fort: »Es muß leicht sein, hero- isch zu empfinden, wenn man von Natur unempfindlich ist, und in Kilometern zu denken, wenn man gar nicht weiß, welche Fülle jeder Millimeter verbergen kann!« Sie sagten zuweilen Ulo von ihm, wie sie es in seiner Jugendzeit getan hatten, und er liebte sie -64- deshalb, wie man seiner Amme eine lächelnde Ehrfurcht bewahrt. »Er ist steckengeblieben!« setzte Walter hinzu. »Das bemerkst du nicht; aber du brauchst nicht zu glauben, daß ich ihn nicht kenne!« Ciarisse zweifelte. Walter sagte heftig: »Heute ist alles Zerfall! Ein bodenloser Ab- grund von Intelligenz! Er hat auch Intelligenz, das gebe ich dir zu; aber von der Macht einer ganzen Seele weiß er nichts. Was Goethe Persönlichkeit nennt, was Goethe bewegliche Ordnung nennt, da- von ahnt ihm nicht einmal etwas. JDieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung '« Der Vers schwebte in Wellen von den Lippen. Ciarisse staunte die Lippen freundlich an, wie wenn sie ein nettes Spielzeug hätten abfliegen lassen. Dann erinnerte sie sich und schaltete als kleines Hausmütterchen ein: »Willst du Bier?« — »Ja? Warum nicht? Ich trinke doch immer eins.« »Aber ich habe keines im Haus!« »Schade, daß du mich gefragt hast« seufzte Walter. »Ich hätte vielleicht gar nicht daran gedacht.« Damit war die Frage für Ciarisse erledigt. Aber Walter war nun aus dem Gleichgewicht geraten; er fand nicht mehr die rechte Fort- setzung. »Erinnerst du dich noch an unser Gespräch vom Künstler?« fragte er unsicher. »Welches?« »Das vor ein paar Tagen. Ich habe dir erklärt, was ein leben- diges Formprinzip in einem Menschen bedeutet. Erinnerst du dich nicht, wie ich zu dem Schluß gekommen bin, daß früher statt Tod und logischer Mechanisierung Blut und Weisheit geherrscht haben?« »Nein.« Walter war gehemmt, suchte, schwankte. Auf einmal platzte er los: »Er ist ein Mann ohne Eigenschaften!« »Was ist das?« fragte Ciarisse kichernd. »Nichts. Eben nichts ist das!« Aber Ciarisse war durch das Wort neugierig geworden. »Das gibt es heute in Millionen« behauptete Walter. »Das ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat!« Das un- versehens hervorgebrachte Wort hatte ihm selbst gefallen; als be- gänne er ein Gedicht, trieb ihn das Wort vorwärts, ehe er den Sinn hatte. »Sieh ihn dir an! Wofür würdest du ihn halten? Sieht er aus wie ein Arzt, wie ein Kaufmann, ein Maler oder ein Diplomat?« Das ist er doch auch nicht« meinte Clarisse nüchtern. »Nun, sieht er vielleicht wie ein Mathematiker aus?!« »Das weiß ich nicht; ich weiß doch nicht, wie ein Mathematiker aussehen soll!« 5 Musil» Mann — $5 — »Da sagst du etwas, das sehr richtig ist! Ein Mathematiker sieht nach gar nichts aus; das heißt, er wird so allgemein intelligent aus- sehen, daß es keinen einzigen bestimmten Inhalt hat! Mit Aus- nahme der römischkatholischen Geistlichen sieht heule überhaupt niemand mehr so aus, wie er sollte, weil wir unseren Kopf noch un- persönlicher gebrauchen als unsere Hände; aber Mathematik, das ist der Gipfel, das weiß bereits so wenig von sich selbst, wie die Menschen, wenn sie sich dereinst statt von Fleisch und Brot von Kraftpillcn nähren werden, noch von Wiesen und jungen Kalbern und Hühnern wissen dürften 1 « — Ciarisse hatte inzwischen das einfache Abendbrot auf den Tisch gestellt, und Walter hatte sich schon tüchtig damit beschäftigt; vielleicht hatte ihm das diesen Vei- gleich eingegeben. Ciarisse sah seinen Lippen zu. Sie erinnerten sie an seine verstorbene Mutter, es waren klüftig weibliche Lippen, die das Essen wie eine Hausarbeit betrieben und ein kleines ge- schnittenes Bartchen obenauf trugen. Seine Augen glänzten wie frisch ausgeschälte Kastanien, auch wenn er nur ein Stück Käse in der Schüssel suchte. Obgleich er klein und eher weichlich als zait gebaut war, machte er Eindruck und gehörte zu den Menschen, die immer gut beleuchtet erscheinen. Ei fuhr nun in seinem Gespräch weiter fort: »Du kannst keinen Beruf aus seiner Erscheinung er- raten, und doch sieht er auch nicht wie ein Mann aus, dvr keinen Beruf hat. Und nun überleg dir einmal, wie ei ist: Ei weiß im- mer, was er zu tun hat; er kann einer Frau in die Augen schaun; er kann in jedem Augenblick tüchtig über alles nachdenken; er kann boxen. Er ist begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, aus- dauernd, draufgängerisch, besonnen — ich will das gar nicht im einzelnen prüfen, er mag alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht! Sic haben das aus ihm gemacht, was er ist, und seinen Weg bestimmt, und sie gehören doch nicht zu ihm. Wenn er zornig ist, lacht etwas in ihm. Wenn er traurig ist, bereitet er etwas vor. Wenn er von etwas gerührt wird, lehnt er es ab. Jede schlechte Handlung wird ihm in irgendeiner Beziehung gut erschei- nen. Immer wird für ihn erst ein möglicher Zusammenhang ent- scheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort, jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes ,wie es ist*, irgendeine Zutat, kommt es ihm immer an. Ich weiß nicht, ob ich mich dir verständlich machen kann?« »Doch« sagte Ciarisse. »Aber ich finde das sehr nett von ihm.« Walter hatte unwillkürlich mit Zeichen wachsender Abneigung -66- gesprochen; das alte Knabengefühl des schwächeren Freunds ver- größerte seine Eifersucht. Denn obwohl er überzeugt war, daß Ulrich außer ein paar nackten Verstandesproben nie etwas gelei- stet habe, wurde er heimlich den Eindruck nicht los, ihm immer körperlich unterlegen gewesen zu sein. Das Bild, das er entwarf, befreite ihn wie das Gelingen eines Kunstwerks; nicht er stellte es aus sich hinaus, sondern an das geheimnisvolle Gelingen eines Anfangs geknüpft, hatte sich außen Wort an Wort gesetzt, und in seinem Inneren löste sich dabei etwas auf, das ihm nicht bewußt wurde. Als er fertig war, hatte er erkannt, daß Ulrich nichts aus- drücke als dieses aufgelöste Wesen, das alle Erscheinungen heute haben. »Dir gefällt das?« fragte er nun, schmerzlich überrascht. »Das darfst du nicht im Ernst sagen!« Ciarisse kaute Brot mit weichem Käse; sie konnte nur mit den Augen lächeln. »Ach,« sagte Walter »so ähnlich haben wir vielleicht früher auch gedacht. Aber man darf darin doch nicht mehr als eine Vorstufe sehen! So ein Mensch ist doch kein Mensch !« Nun war Ciarisse fertig. »Das sagt er doch selbst!« behauptete sie. »Was sagt er selbst?!« »Ach, weiß ich's!? Daß heute alles aufgelöst ist. Er sagt, alles ist jetzt steckengeblieben, nicht nur er. Aber er nimmt es nicht so übel wie du. Er hat mir einmal eine lange Geschichte erzählt: Wenn man das Wesen von tausend Menschen zerlegt, so stö&t man auf zwei Dutzend Eigenschaften, Empfindungen, Abiaufarten, Aufbau- formen und so weiter, aus denen sie alle bestehn. Und wenn man unseren Leib zerlegt, so findet man nur Wasser und einige Dut- zend Stoffhäufdien, die darauf herumschwimmen. Das Wasser steigt in uns genau so wie in die Bäume, und es bildet die Tier- leiber, wie es die Wolken bildet. Ich finde das hübsch. Man weiß dann bloß nicht recht, was man zu sich sagen soll. Und was man tun soll.« Ciarisse kicherte. »Ich habe ihm darauf erzählt, daß du tagelang fischen gehst, wenn du frei hast, und am Wasser liegst.« »Nun, und? Ich möchte wissen, ob er das auch nur zehn Minu- ten aushielte? Aber Menschen« sagte Walter fest »tun das seit zehntausend Jahren, starren den Himmel an, spüren die Erdwärme und zerlegen das so wenig wie man seine Mutter zerlegt!« Ciarisse mußte wieder kichern. »Er sagt, das hat sich seither sehr verwickelt. So wie wir auf dem Wasser schwimmen, schwimmen wir auch in einem Meer von Feuer, einem Sturm von Elektrizität, einem Himmel von Magnetismus, einem Sumpf von Wärme und so weiter. Alles aber unfühlbar. Zum Schluß bleiben überhaupt -67- nur Formeln übrig'. Und was die menschlich bedeuten, kann man nicht recht ausdrücken; das ist das Ganze. Ich habe schon verges- sen, was ich im Lyzeum gelernt habe; aber irgendwie stimmt es wohl. Und wenn einer heute, sagt er, so wie der heilige Franzis- kus oder du zu den Vögeln Bruder sagen wolle, dann dürfe er sichs nicht bloß so angenehm machen, sondern müsse sich auch ent- schließen können, in den Ofen zu fahren, durch die Leitungsstange einer Elektrischen in die Erde zu springen oder durch eine Ab- waschvorrichtung in den Kanal zu pritscheln.« »Ja, ja!« unterbrach Walter diesen Bericht. »Erst weiden aus den vier Elementen einige Dutzend, und zum Schluß schwimmen wir bloß noch auf Beziehungen, auf Vorgängen, auf einem Spülicht von Vorgängen und Formeln, auf irgendetwas, wovon man weder weiß, ob es ein Ding, ein Vorgang, ein Gedankengespenst oder ein Ebengottweißwas ist! Dann besteht zwischen einer Sonne und einem Zündholz kein Unterschied mehr, und zwischen dem Mund als dem einen Ende des Verdauungskanals und seinem anderen Ende auch keiner! Die gleiche Sache hat hundert Seiten, die Seite hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle. Das Menschenhirn hat dann glücklich die Dinge geteilt; aber die Dinge haben das Menschenherz geteilt!« Er war aufgesprungen; aber er blieb hinter dem Tisch stehen. »Ciarisse!« sagte er. »Er ist eine Gefahr für dich! Schau, Glarisse, jeder Mensch braucht heute nichts so nötig wie Einfachheit, Erdnähe, Gesundheit — und ja, ganz gewiß, da kannst du sagen, was du willst — auch ein Kind, weil ein Kind es ist, was einen fest an den Boden bindet. Was dir Ulo erzählt, ist alles unmenschlich. Ich versichere dir, ich habe den Mut, wenn ich nach Hause komme, einfach mit dir Kaffee zu trin- ken, den Vögeln zuzuhören, ein bißchen spazierenzugehn, mit den Nachbarn ein paar Worte zu wechseln und den Tag ruhig ausklin- gen zu lassen: Das ist Menschenleben!« Die Zärtlichkeit dieser Vorstellungen hatte ihn langsam ihr näher geführt; aber sowie Vatergefühle von fern ihre sanfte Baß- stimme erhoben, wurde Ciarisse störrisch, Ihr Gesicht verstummte, während er sich ihr näherte, und nahm eine Verteidigungsstellung an. Als er bei ihr angelangt war, strömte er eine warme Sanftheit aus wie ein guter Bauernofen. Ciarisse schwankte einen Augen- blick in ihren Strömen. Dann sagte sie: »Nix, mein Lieber!« Sie raffte ein Stück Käse und Brot vom Tisch und küßte ihn rasch auf die Stirn. »Ich geh nachschaun, ob keine Nachtfalter da sind.« »Aber Ciarisse,« bat Walter »in dieser Jahreszeit gibt es doch keine Schmetterlinge mehr.« -68- »Ach, das kann man nicht wissen!« Es blieb von ihr nur das Lachen im Zimmer zurück. Mit ihrem Stück Brot und Käse streifte sie über die Wiesen; die Gegend war sicher, und sie brauchte keine Begleitung. Walters Zärtlichkeit sank zusammen wie ein vom Feuer zur Unzeit weggerissener Auflauf. Er seufzte tief auf. Dann setzte er sich zögernd wieder ans Kla- vier und schlug einige Tasten an. Ob er es wollte oder nicht, es wurden Phantasien über Motive aus Wagneropern daraus, und in dem Geplätscher dieser zuchtlos quellenden Substanz, die er sich einst in den Zeiten des Hochmuts versagt hatte, schilften und gur- gelten seine Finger durch die Tonflut. Mochte man es weithin hö- ren! Sein Rückenmark wurde von der Narkose dieser Musik ge- lähmt und sein Schicksal erleichtert. Moosbrugger Zu dieser Zeit beschäftigte der Fall Moosbrugger die Öffentlich- keit. Moosbrugger war ein Zimmermann, ein großer, breitschultriger Mensch ohne überflüssiges Fett, mit einem Kopfhaar wie braunes Lammsfell und gutmütig starken Pranken. Gutmütige Kraft und der Wille zum Rechten sprachen auch aus seinem Gesicht, und hätte man sie nicht gesehn, so hätte man sie doch gerochen, an dem der- ben, biederen, trockenen Werktagsgeruch, der zu dem Vierund- dreißigj ährigen gehörte und vom Umgang mit Holz und einer Arbeit kam, die ebensoviel Bedachtsamkeit wie Anstrengung for- dert. Man blieb wie eingewurzelt stehn, wenn man diesem von Gott mit allen Zeichen der Güte gesegneten Gesicht zum erstenmal be- gegnete, denn Moosbrugger war gewöhnlich von zwei bewaffneten Justizsoldaten begleitet und hatte die eng aneinandergebundenen Hände vor dem Leib, an einem starken stählernen Kettchen, des- sen Knebel einer seiner Begleiter hielt. Wenn er bemerkte, daß man ihn ansah, zog über sein breites, gutmütiges Gesicht mit dem ungepflegten Haar und dem Schnurr- bart samt dazugehöriger Fliege ein Lächeln; er hatte einen kurzen schwarzen Rock mit hellgrauen Beinkleidern an, seine Haltung war breitbeinig und militärisch, aber dieses Lächeln war es, was die Berichterstatter des Gerichtssaals am meisten beschäftigt hatte. Es mochte ein verlegenes Lächeln sein oder ein verschlagenes, ein iro- nisches, heimtückisches, schmerzliches, irres, blutrünstiges, unheim- -69- liches — : sie tasteten ersichtlich nach widerspi echentlen Ausdrücken und schienen in diesem Lächeln verzweifelt etwas zu suchen, das sie offenbar in der ganzen redlichen Erscheinung sonst nirgends fanden. Denn Moosbrugger hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregender Weise getötet. Die Be- richterstatter hatten genau eine vom Kehlkopf bis zum Genick rei- chende Halswunde, ebenso die zwei Stichwunden in der Brust, welche das Herz durchbohrten, die zwei in der linken Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste beschrieben, die man fast abheben konnte; sie hatten ihren Abscheu davor ausgedrückt, aber sie hörten nicht auf, bevor sie fünfunddreißig Stiche im Bauch ge- zählt und die fast vom Nabel bis zum Kreuzbein reichende Schnitt- wunde erklärt hatten, die sich in einer Unzahl kleinerer den Rük- ken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgspuien tiug. Sie fanden von solchen Schrecknissen den Weg zu Moosbruggers gut- mütigem Gesicht nicht zurück, obgleich sie selbst gutmütige Men- schen waren und trotzdem das Geschehene sachlich, fachkundig und in atemloser Spannung beschrieben. Selbst von der nächstliegenden Erklärung, daß man einen Geisteskranken vor sich habe — denn Moosbrugger war wegen ähnlicher Verbrechen schon einigemal in Irrenhäusern gewesen — machten sie wenig Gebrauch, obgleich ein guter Berichterstatter sich heute in solchen Fragen tiefflich aus- kennt; es sah so aus, als sträubten sie sich vorläufig noch, auf den Bösewicht zu verzichten und das Geschehnis aus dei eigenen Welt in die der Kranken zu entlassen, worin sie mit den Psychiatern übereinstimmten, die ihn schon ebenso oft für gesund wie für un- zurechnungsfähig erklärt hatten» Und es ei eignete sich des wei- teren auch das Merkwürdige, daß die krankhaften Ausschreitungen Moosbruggers, als sie noch kaum bekannt geworden waren, schon von tausenden Menschen, welche die Sensationsgiei der Zeitun- gen tadeln, als »endlich einmal etwas Interessantes« empfun- den wurden; von eiligen Beamten wie von vierzehnjährigen Söh- nen und durch Haussorgen umwölkten Gattinnen. Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr inner- licher beschäftigt als vom eigenen Lebensberuf» Ja, es mochte sich ereignen, daß in diesen Tagen beim Zubettgehn ein koi rekter Herr Sektionschef oder ein Bankprokurist zu seiner schläfrigen Gattin sagte: »Was würdest du jetzt anfangen, wenn ich ein Moosbrugger wäre . . .« Ulrich war, als sein Blick auf dieses Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft über Handschellen traf, rasch umgekehrt, hatte einem Wachsoldaten des naheliegenden Landesgeiiehts ei- nige Zigaretten geschenkt und nach dem Konvoi gefragt, der erst -70- vor kurzem das Tor verlassen haben mußte; so erfuhr er : doch so muß derartiges sich wohl früher abgespielt haben, da man es oft in dieser Weise berichtet findet, und Ulrich glaubte beinahe selbst daran, aber die zeitgenössische Wahrheit war, daß er alles bloß in der Zeitung gelesen hatte. Es dauerte noch lange, ehe er Moosbrugger persönlich kennenlernte, und ihn vorher leibhaft zu sehn, gelang ihm nur einmal während der Verhandlung. Die Wahr- scheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfah- ren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere, und das Be- langlosere im Wirklichen. Was Ulrich auf diesem Wege von der Geschichte Moosbruggers erfuhr, war ungefähr das Folgende: Moosbrugger war als Junge ein armer Teufel gewesen, ein Hü- terbub in einer Gemeinde, die so klein war, daß sie nicht einmal eine Dorfstraße hatte, und er war so arm, daß er niemals mit einem Mädel sprach. Er konnte Mädels immer nur sehn; auch später in der Lehre und dann gar auf den Wanderungen. Nun braucht man sich ja bloß vorzustellen, was das heißt. Etwas, wonach man so na- türlich begehrt wie nach Brot oder Wasser, darf man immer nur sehn. Man begehrt es nach einiger Zeit unnatürlich. Es geht vor- über, die Röcke schwanken um seine Waden. Es steigt über einen Zaun und wird bis zum Knie sichtbar. Man blickt ihm in die Au- gen, und sie werden undurchsichtig. Man hört es lachen, dreht sich rasch um sich und sieht in ein Gesicht, das so reglos rund wie ein Erdloch ist, in das eben eine Maus schlüpfte. Man könnte also verstehn, daß Moosbrugger schon nach dem ersten Mädchenmord sich damit verantwortete, daß er stets von Geistern verfolgt werde, die ihn bei Tag und Nacht riefen. Sie warfen ihn aus dem Bett, wenn er schlief, und störten ihn bei der Arbeit; dann hörte er sie tags und nachts miteinander sprechen und streiten. Das war keine Geisteskrankheit, und Moosbrugger mochte es nicht leiden, wenn man derart von ihm sprach; er putzte es freilich selbst manchmal mit Erinnerungen an geistliche Reden auf oder legte es nach den Ratschlägen des Simulierens an, die man in den Gefängnissen erhält, aber das Material dazu war immer bereit; bloß etwas verblaßt, wenn man nicht gerade darauf achtete. So war es auch auf den Wanderschaften gewesen. Im Winter ist für einen Zimmermann schwer Arbeit zu finden, und Moos- brugger lag oft wochenlang auf der Straße. Nun ist man tageweit gewandert, gelangt in den Ort und findet kein Unterkommen. Muß bis spät in die Nacht weitermarschieren. Für eine Mahlzeit hat man kein Geld, so trinkt man Schnaps, bis hinter den Augen zwei Ker- zen leuchten und der Körper allein geht. In der »Station« will man -71- nicht um ein Nachtlager bitten, trotz der wannen Suppe, teils we- gen des Ungeziefers und teils wegen der kiänkenden Scheret ei; so bettelt man lieber ein paar Kreuzer zusammen und kriecht einem Bauern ins Heu. Ohne ihn zu bitten, natürlich, denn was soll man erst lang fragen und sich doch nur beleidigen lassen. Am Moigen gibt das freilich oft Streit und Anzeigen wegen Gewalttätigkeit, Vagabundage und Bettelei, und schließlich cigibt es einen inunei dicker werdenden Bund solcher Vorstrafen, den jeder neue Rich- ter wichtigtuerisch aufmacht, als ob Moosbiugger daiin erklärt wäre. Und wer denkt daran, was es heißt, sich tage- und wochenlang nicht richtig waschen zu können. Die Haut wiid so steif, daß sie nur grobe Bewegungen erlaubt, selbst wenn man zärtliche machen wollte, und unter einer solchen Kruste erstarrt die lebendige Seele. Der Verstand mag weniger davon berühit werden, das Notwen- dige wird man ganz vernünftig tun; er mag eben wie ein kleines Licht in einem riesigen wandelnden Lieuchttuim brennen, der voll zerstampfter Regenwürmer oder Heuschrecken ist, aber alles Per- sönliche ist daiin zerquetscht, und es wandelt nui die gärende orga- nische Substanz. Dann begegneten dem wandernden Moosbrugger, wenn er di **ch die Dorfer kam oder auch auf der einsamen Stzaßc, ganze Proze Jonen von Frauen, Jetzt eine, und eine halbe Stunde später zwar wieder eine Frau, aber wenn sie selbst in so großen Zwischenräumen kamen und gar nichts miteinander zu tun hatten, im ganzen waren es doch Prozessionen. Sie gingen von einem Doif zum andern oder hatten nur soeben vors Haus gesehn, sie trugen dicke Tücher oder Jacken, die in einer steifen Schlangenlinie um die Hüften standen, sie traten in warme Stuben ein oder trieben ihre Kinder vor sich her oder waren auf der Straße so allein, daß man sie mit einem Stein hätte werfen können wie eine Krähe. Moosbrugger behauptete, daß er kein Lustmörder sein könne, weil ihn immer nur Gefühle der Abneigung g^gen diese Frauensper- sonen beseelt hätten, und das erscheint nicht unwahrscheinlich, denn man will doch auch eine Katze verstehn, die vor einem Bauer sitzt, in dem ein dicker blonder Kanarienvogel auf und nieder hüpft; oder eine Maus schlägt, ausläßt, wieder schlägt, nur um sie noch einmal fliehen zu sehn; und was ist ein Hund, der einem rollenden Rad nachläuft, nur noch im Spiel beißend, er, der Freund des Menschen?: da ist im Verhalten zum Lebendigen, Bewegten, stumm vor sich hin Rollenden oder Huschenden eine geheime Ab- neigung gegen das sich seiner selbst freuende Mitgeschöpf beiührt. Und was sollte man schließlich machen, wenn sie schrie? Man könnte nur zur Besinnung kommen oder, wenn man das eben nicht kann, ihr Gesicht zu Boden drücken und Erde ihr in den Mund stopfen. -72- Moosbrugger war nur ein Zimmermannsgeselle, ein ganz ein- samer Mensch, und obgleich er auf allen Plätzen, wo er arbeitete, von den Kameraden gut gelitten war, hatte er keinen Freund. Der stärkste Trieb wendete von Zeit zu Zeit sein Wesen grausam nach außen; aber vielleicht hatte ihm wirklich, wie er sagte, nur die Erziehung und die Gelegenheit gefehlt, um etwas anderes daraus zu machen, einen Massenwürgengel oder Theaterbrandstifter, einen großen Anarchisten; denn die Anarchisten, die sich in Geheim- bünden zusammentun, nannte er mit Verachtung die falschen. Er war ersichtlich krank; aber wenn auch offenbar seine krankhafte Natur den Grund für sein Verhalten abgab, die ihn von den an- deren Menschen absonderte, ihm kam das wie ein stärkeres und höheres Gefühl von seinem Ich vor. Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, um Geltung da- für zu erzwingen. Er hatte schon als Bursche einem Brotherrn die Finger gebrochen, als dieser ihn züchtigen wollte. Einem andern verschwand er mit Geld; aus notwendiger Gerechtigkeit, wie er sagte. Er hielt es auf keinem Platz lange aus; solang er in seiner wortkarg mit freundlicher Ruhe und riesigen Schultern arbeiten- den Art, wie es anfangs immer geschah, die Leute in Scheu hielt, blieb er; sobald sie vertraulich und respektlos mit ihm umzugehen begannen, als hätten sie ihn nun erkannt, packte er sich fort, denn ein unheimliches Gefühl ergriff ihn dann, so als wäre er nicht fest in seiner Haut. Einmal hatte er es zu spät getan; da verschworen sich vier Maurer auf einem Bau, ihn ihre Überlegen- heit fühlen zu lassen und vom obersten Stockwerk das Gerüst hin- unterzustürzen; er hörte sie schon hinter seinem Rücken kichern und herankommen, da warf er sich mit seiner unermeßlichen gan- zen Kraft auf sie, stürzte den einen zwei Treppen hinab und zer- schnitt zwei andren alle Sehnen des Arms. Daß er dafür bestraft wurde, hatte sein Gemüt erschüttert, wie er sagte. Er wanderte aus. In die Türkei; und wieder zurück, denn die Welt hielt über- all gegen ihn zusammen; kein Zauberwort kam gegen diese Ver- schwörung auf und keine Güte. Solche Worte hatte er in den Irrenhäusern und Gefängnissen eifrig gelernt; französische und lateinische Scherben, die er an den unpassendsten Stellen in seine Reden steckte, seit er herausbekom- men hatte, daß es der Besitz der Sprachen war, was den Herrschen- den das Recht gab, über sein Schicksal zu »befinden«. Aus dem glei- chen Grund bemühte er sich auch in Verhandlungen, ein gewähl- tes Hochdeutsch zu sprechen, sagte etwa, »das muß als Grundlage meiner Brutalität dienen« oder »ich hatte sie mir noch grausamer vorgestellt, als ich derlei Weiber sonst einschätze«; wenn er aber sah, daß auch das den Eindruck verfehlte, schwang er sich nicht -73- selten zu einer großen schauspielerischen Pose auf und erklärte sich höhnisch als »theoretischen Anarchisten^, der sich von den Sozial- demokraten jederzeit retten lassen könnte, wenn er von diesen ärgsten jüdischen Ausbeutern des arbeitenden, unwissenden Volks etwas geschenkt nehmen wollte: Da hatte auch er eine »Wissen- schaft«, ein Gebiet, auf das ihm die gelehrte Anmaßung seiner Richter nicht folgen konnte. Gewöhnlich trug ihm das die Gcrichtssaalzensui der ^bemer- kenswerten Intelligenz«, ehrenvolle Beachtung während der Ver- handlung und sti engere Strafen ein, aber im Grunde empfand seine geschmeichelte Eitelkeit diese Verhandlungen als che Ehren- zeiten seines Lebens. Deshalb haßte er auch niemand so inbrünstig wie die Psychiater, die glaubten, sein ganzes schwieriges Wesen mit ein paar Fremdworten abtun zu können, als wäre es für sie eine alltägliche Sache. Wie immer in solchen Fällen, schwankten unter dem Druck der sich ihnen überordnenden juristischen Vor- stellungswelt die medizinischen Gutachten über seinen Geistes- zustand, und Moosbrugger ließ sich keine dieser Gelegenheiten entgehn, um in öffentlicher Verhandlung seine Überlegenheit über die Psychiater zu beweisen und sie als aufgeblasene Tröpfe und Schwindler zu entlarven, die ganz unwissend seien und ihn, wenn er simuliere, ins Irrenhaus aufnehmen müßten, statt ihn ins Zucht- haus zu schicken, wohin er gehöre. Denn er leugnete seine Taten nicht, er wollte sie als Unglücksfälle einer großen Lebensauffas- sung verstanden wissen. Die kichernden Weiber waren vor allem gegen ihn verschworen; sie hatten alle ihre Schürzenbuben, und das gerade Wort eines ernsten Mannes achteten sie für nichts, wenn nicln gar für eine Beleidigung. Er ging ihnen aus dem Weg, solang er konnte, um sich nicht reizen zu lassen; aber nicht allzeit war das möglich. Es kommen Tage, wo man als Mann ganz dumm im Kopf wird und nichts mehr anpacken kann, weil die Hände vor Unruhe schwitzen. Und muß man dann nachgeben, so kann man sicher sein, daß schon beim ersten Schritt, fern über den Weg wie eine Vorpatrouille, welche die andren geschickt haben, solch ein wandelndes Gift kreuzt, eine Betrügerin, die den Mann heimlich auslacht, während sie ihn schwächt und ihm ihr Theater vormacht, wenn sie nicht noch viel Schlimmeres ihm in ihrer Gewissenlosig- keit antut! Und so war das Ende jener Nacht gekommen, einer teilnahms- los durchzechten Nacht mit viel Lärm zur Beschwichtigung der in- neren Unruhe. Es kann, auch ohne daß man betrunken ist, die Welt unsicher sein. Die Straßenwände wanken wie Kulissen, hin- ter denen etwas auf das Stichwort wartet, um herauszutreten. Am Rand der Stadt wird es ruhiger, wo man ins freie, vom Mond er- -74- hellte Feld kommt Dort mußte Moosbrugger umkehren, um in einem Bogen nach Haus zu finden, und da, bei der eisernen Brücke, sprach ihn das Mädchen an. Es war so ein Mädchen, wie sie sich unten in den Auen an Männer vermieten, ein stellenloses, davon- gelaufenes Dienstmädchen, eine kleine Person, von der man nur zwei lockende Mausaugen unter dem Kopftuch sah. Moosbrugger wies sie ab und beschleunigte seinen Gang; aber sie bettelte, daß er sie mit nach Haus nehmen möge. Moosbrugger ging; gradaus, um die Ecke, schließlich hilflos hin und her; er machte große Schritte, und sie lief neben ihm; er blieb stehn, und sie stand wie ein Schatten. Er zog sie hinter sich drein, das war es. Da machte er noch einen Versuch, sie zu verscheuchen; er drehte sich um und spuckte ihr zweimal ins Gesicht. Aber es half nicht; sie war un- verwundbar. Das geschah in dem stundenweiten Park, den sie an seiner schmälsten Stelle durchqueren mußten. Da wurde es zunächst Moosbrugger gewiß, daß ein Beschützer des Mädchens in der Nähe sein müsse; denn woher hätte sie sonst den Mut nehmen können, ihm trotz seines Unwillens zu folgen? Er griff nach dem Steck- messer in die Hosentasche, denn man wollte ihn zum besten haben; vielleicht wieder über ihn herfallen; immer steckt ja hinter den Weibern der andere Mann, der einen verhöhnt. Überhaupt, kam sie ihm nicht wie ein verkleideter Mann vor? Er sah Schatten sich bewegen und hörte das Holz knacken, während die Schleicherin neben ihm wie eine ganz weit ausschwingende Uhr immer wieder nach einer Weile ihre Bitte wiederholte; aber es war nichts zu finden, worauf sich seine Riesenkraft hätte stürzen können, und er begann sich vor diesem unheimlichen Nichtgeschehen zu fürchten. Als sie in die erste, noch sehr düstere Straße kamen, stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und er zitterte. Er sah nicht zur Seite und wandte sich in ein Kaffeehaus, das noch offenstand. Er stürzte einen schwarzen Kaffee und drei Kognaks hinunter und durfte ruhig sitzen, vielleicht eine Viertelstunde lang; als er aber zahlte, war wieder der Gedanke da, was er beginnen werde, wenn sie nun draußen gewartet habe? Es gibt solche Gedanken, die wie Bind- faden sind und sich in endlosen Schlingen um Arme und Beine legen. Und als er kaum ein paar Schritte in die dunkle Straße ge- tan hatte, fühlte er das Mädchen an seiner Seite. Sie war jetzt gar nicht mehr demütig, sondern frech und sicher; sie bat auch nicht mehr, sondern schwieg nur. Da erkannte er, daß er niemals von ihr loskommen werde, weil er es selbst war, der sie hinter sich herzog. Ein weinerlicher Ekel füllte seinen Hals aus. Er ging, und das, halb hinter ihm, war wiederum er. Genau so, wie er auch immer Prozessionen begegnet war. Er hatte sich einmal einen gro- -75» ßen Holzsplitter selbst aus dem Bein geschnitten, weil er zu unge- duldig war, um auf den Arzt zu warten; ganz ähnlich fühlte er jetzt wieder sein Messer, lang und hart lag es in seiner Tasche. Aber Moosbrugger verfiel mit einer geradezu überirdischen An- strengung seiner Moral auf noch einen Ausweg. Hinter der Planke, längs der jetzt der Weg führte, lag ein Sportplatz; da war man ganz ungesehen, und er bog ein. In dem engen Kassenhäuschen legte er sich nieder und drängte den Kopf in die Ecke, wo es am dunkelsten war; das weiche verfluchte zweite Ich legte sich neben ihn. Er tat deshalb so, als ob er gleich einschliefe, um später davon- schleichen zu können. Aber als er leise, mit den Füßen voran, hin- auskroch, war es wieder da und schlang die Arme um seinen Hals. Da fühlte er etwas Hartes in ihrer oder seiner Tasche; er zerrte es hervor. Er wußte nicht recht, war es eine Schere oder ein Messer; er stach damit zu. Sie hatte behauptet, es sei nur eine Schere, aber es war sein Messer. Sie fiel mit dem Kopf in das Häuschen; er schleppte sie ein Stück heraus, auf die weiche Erde, und stach so lange auf sie ein, bis ei sie ganz von sich losgetrennt hatte. Dann stand ei vielleicht noch eine Viertelstunde bei ihr und betrachtete sie, während die Nacht wieder ruhiger und wundersam glatt wurde. Nun konnte sie keinen Mann mehr beleidigen und sich an ihn hän- gen. Schließlich trug er die Leiche über die Straße und legte sie vor ein Gebüsch, damit sie leichter gefunden und bestattet werden könne, wie er behauptete, denn nunkonnte sie ja nichts mehr dafür. In der Verhandlung bereitete Moosbrugger seinem Verteidiger die unvorhersehbarsten Schwierigkeiten. Er saß bteit wie ein Zu- schauer auf seiner Bank, rief dem Staatsanwalt Bravo zu, wenn dieser etwas für seine Gemeingefährlichkeit vorbrachte, das ihm seiner würdig erschien, und teilte lobende Zensuren au Zeugen aus, die erklärten, niemals etwas an ihm bemerkt zu haben, was auf Unzurechnungsfähigkeit schließen ließe. »Sie sind ein drolliger Kauz« schmeichelte ihm von Zeit zu Zeit der die Verhandlung leitende Richter und zog gewissenhaft die Schlingen zusammen, die sich der Angeklagte gelegt hatte. Dann stand Moosbrugger einen Augenblick lang erstaunt wie ein in der Arena gehetzter Stier, ließ die Augen wandern und merkte an den Gesichtern der Umsitzenden, was er nicht verstehen konnte, daß er sich abermals eine Lage tiefer in seine Schuld hineingearbeitet hatte. Es zog Ulrich besonders an, daß seiner Verteidigung offenbar ein schattenhaft kenntlicher Plan zugrunde lag. Er war weder mit der Absicht ausgegangen zu töten, noch durfte er seiner Würde halber krank sein; von Lust konnte überhaupt nicht gesprochen werden, sondern nur von Ekel und Verachtung; also mußte die Tat ein Totschlag sein, zu dem ihn das verdächtige Benehmen des Wei- -76- bes, »dieser Karikatur eines Weibes«, wie er sich ausdrückte, ver- leitet hatte. Wenn man ihn recht verstand, verlangte er sogar, daß man seinen Mord für ein politisches Verbrechen ansehe, und machte manchmal den Eindruck, daß er gar nicht für sich, sondern für diese Rechtskonstruktion kämpfe. Die Taktik, die der Richter dagegen anwandte, war die übliche, in allem nur die plump listigen An- strengungen eines Mörders zu sehn, der sich seiner Verantwortung entziehen will. »Warum haben Sie sich die blutigen Hände ab- gewischt? — Warum haben Sie das Messer weggeworfen? — War- um haben Sie nach der Tat frische Kleider und Wäsche angezogen? — Weil es Sonntag war? Nicht, weil sie blutig waren? — Wes- halb sind Sie zu einer Unterhaltung gegangen? Die Tat hat Sie also nicht gehindert, das zu tun? Haben Sie überhaupt Reue emp- funden?« Ulrich verstand gut die tiefe Entsagung, mit der Moos- brugger in solchen Augenblicken seine unzureichende Erziehung anklagte, die ihn verhinderte, dieses aus Unverständnis gefloch- tene Netz aufzuknoten, was aber in der Sprache des Richters mit strafendem Nachdruck hieß: »Sie wissen immer anderen die Schuld zu geben!« Dieser Richter faßte alles in eins zusammen, ausgehend von den Polizeiberichten und der Landstreicherei, und gab es als Schuld Moosbruggers; für den aber bestand es aus lauter einzelnen Vorfällen, die nichts miteinander zu tun hatten und jeder eine andere Ursache besaßen, die außerhalb Moosbruggers und irgend- wo im Ganzen der Welt lag. In den Augen des Richters gingen seine Taten von ihm aus, in den seinen waren sie auf ihn zuge- kommen wie Vögel, die herbeifliegen. Für den Richter war Moos- brugger ein besonderer Fall; für sich war er eine Welt, und es ist sehr schwer, etwas Überzeugendes über eine Welt zu sagen. Es waren zwei Taktiken, die miteinander kämpften, zwei Einheiten und Folgerichtigkeiten; aber Moosbrugger hatte den ungünstige- ren Stand, denn seine seltsamen Schattengründe hätte auch ein Klügerer nicht ausdrücken können. Sie kamen unmittelbar aus dem verwirrt Einsamen seines Lebens, und während alle anderen Le- ben hundertfach bestehen — in der gleichen Weise gesehn von denen, die sie führen, wie von allen anderen, die sie bestätigen — war sein wahres Leben nur für ihn vorhanden. Es war ein Hauch, der sich immerfort deformiert und die Gestalt wechselt. Freilich hätte er seine Richter fragen können, ob ihr Leben denn im Wesen anders sei? Aber so etwas dachte er gar nicht. Vor der Justiz lag alles, was nacheinander so natürlich gewesen war, sinnlos neben- einander in ihm, und er bemühte sich mit den größten Anstren- gungen, einen Sinn hineinzubringen, der der Würde seiner vor- nehmen Gegner in nichts nachstehen sollte. Der Richter wirkte bei- nahe gütig in seinem Bemühen, ihn dabei zu unterstützen und ihm -77- Begriffe zur Verfügung zu stellen, selbst wenn es solche waren, die Moosbrugger den fürchterlichsten Folgen auslieferten. Es war der Kampf eines Schattens mit der Wand, und zum Schluß flackerte Moosbruggers Schatten nur noch gräßlich. Bei die- ser letzten Verhandlung war Ulrich dabei. Als der ^Vorsitzende das Gutachten vorlas, das ihn als verantwortlich erklärte, erhob sich Moosbrugger und tat dem Gerichtshof kund: »Ich hin damit zufrieden und habe meinen Zweck en eicht,« Spöttischer Unglaube in den Augen rings umher antwortete ihm, und er fugte zornig hinzu; »Dadurch, daß ich die Anklage erzwungen habe, bin ich mit dem Beweisverfahren zufrieden!« Der Vorsitzende, der jetzt ganz Strenge und Strafe geworden war, verwies es ihm mit der Bemer- kung, daß es dem Gerichtshof nicht auf seine Zufriedenheit an- komme. Dann las er ihm das Todesurteil vor, genau so, als ob der Unsinn, den Moosbrugger zum Vergnügen aller Anwesenden wäh- rend der ganzen Verhandlung gesprochen hatte, nun auch einmal ernst beantwortet werden müßte. Da sagte Moosbrugger nichts, damit es nicht wie ein Schreck aussehe. Dann wurde die Verhand- lung geschlossen, und alles war vorbei. Da aber wankte doch sein Geist; er wich zurück, ohnmächtig gegen den Hochmut der Ver- ständnislosen; er drehte sich um, den schon die Justizsoldaten hin- ausführten, kämpfte um Worte, reckte die Hände empor und rief mit einer Stimme, welche die Stöße seiner Wächter abschüttelte: »Ich bin damit zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestchen muß, daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben!« Das war eine Inkonsequenz; aber Ulrich saß atemlos. Das war deutlich Irrsinn, und ebenso deutlich bloß ein verzerrter Zusam- menhang unsrer eignen Elemente des Seins. Zerstückt und durch- dunkelt war es; aber Ulrich fiel irgendwie ein: wenn die Mensch- heit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehn. Kr ernüchterte sich erst, als der »elende Hanswurst von Verteidiger«, wie ihn Moosbruggers Undank einmal im Lauf der Verhandlung genannt hatte, wegen irgendwelcher Einzelheiten die Nichtigkeitsbeschwerde anmeldete, während ihrer beider riesiger Klient abgeführt wurde. 19 Briefliche Ermahnung und Gelegenheit, Eigenschaften zu erwerben Konkurrenz zweier ^Thronbesteigungen In solcher Weise verging die Zeit, da empfing Ulrich einen Brief seines Vaters. »Mein lieber Sohn! Es sind nunmehr wieder Mo- nate verflossen, ohne daß Deinen spärlichen Nachrichten zu ent- nehmen gewesen wäre, daß Du auf Deiner Laufbahn den gering- sten Schritt vorwärts getan oder einen solchen vorbereitet hättest. Ich will freudig anerkennen, daß mir im Laufe der letzten Jahre von mehreren geschätzten Seiten die Genugtuung zuteil geworden ist, Deine Leistungen loben und auf Grund ihrer Dir eine aussichts- reiche Zukunft zusprechen zu hören. Aber einerseits Dein, aller- dings nicht von mir, ererbter Hang, zwar, wenn Dich eine Aufgabe lockt, die ersten Schritte stürmisch zurückzulegen, dann aber gleich- sam ganz zu vergessen, was Du Dir und denen schuldest, die ihre Hoffnungen auf Dich gesetzt haben, andrerseits der Umstand, daß ich Deinen Nachrichten auch nicht das geringste Zeichen zu ent- nehmen vermag, das auf einen Plan für Dein weiteres Verhalten schließen ließe, erfüllen mich mit schwerer Sorge. Nicht nur bist Du in einem Alter, wo andere Männer sich schon eine feste Stellung im Leben geschaffen haben, sondern ich kann jederzeit sterben, und das Vermögen, das ich Dir und Deiner Schwester zu gleichen Teilen hinterlassen werde, wird zwar nicht gering sein, unter heutigen Verhältnissen aber doch nicht so groß, daß sein Besitz allein Dir eine gesellschaftliche Position sichern könnte, die Du Dir also vielmehr selbst endlich schaffen mußt. Der Gedanke, daß Du seit Deinem Doktorat nur ganz ungefähr von Plänen sprichst, die sich auf verschiedensten Gebieten bewe- gen sollen und die Du in Deiner gewohnten Art vielleicht stark überschätzt, nie aber von einer Befriedigung schreibst, die Dir ein Lehrauftrag gewähren würde, noch von einer Fühlungnahme we- gen solcher Pläne mit irgendeiner Universität, noch sonst von Füh- lung mit maßgebenden Kreisen, das ist es, was mich zuweilen mit schwerer Sorge erfüllt. Ich kann gewiß nicht in den Verdacht kom- men, daß ich die wissenschaftliche Selbständigkeit herabsetzen will, der ich vor siebenundvierzig Jahren in meinem Dir bekannten, jetzt in 12. Auflage erscheinenden Werk ,Die Zurechnungslehre des Samuel Pufendorf und die moderne Jurisprudenz', die wahren Zusammenhänge ans Licht setzend, als erster mit den diesbezüg- lichen Vorurteilen der älteren Strafrechtsschule gebrochen habe, allein ebensowenig vermag ich nach den Erfahrungen eines arbeits- reichen Lebens anzuerkennen, daß man sich nur auf sich selbst stelle und die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehun- gen vernachlässige, welche der Arbeit des Einzelnen erst den Rück- halt leihen, durch welchen sie in einen fruchtbaren und förderlichen Zusammenhang gerät. Ich hoffe deshalb zuversichtlich, baldigst von Dir zu hören und die Aufwendungen, welche ich für Dein Vorwärtskommen gemacht habe, dadurch belohnt zu finden, daß Du solche Beziehungen nun -79- nach Deiner Rückkehr in die Heimat anknüpfest und nicht länger vernachlässigst. Ichhabe auch in diesem Sinne an meinen langjähri- gen wahren Fieund und Schützer, den ehemaligen Präsidenten der Rechnungskammer und jetzigen Vorsitzenden der Allerhöchsten Familiengerichtspartikularität beim Hofmarschallamt, Exzellenz Grafen Stallburg, geschrieben und ihn gebeten, Deine Bitte, die Du ihm demnächst vortragen wirst, wohlwollend entgegenzuneh- men. Mein hochgestellter Freund hatte auch bereits die Güte, mir umgehend zu antworten, und Du hast das Glück, daß er Dich nicht nur empfangen wird, sondern Deinem, ihm von mir geschilderten Werdegang warmes Interesse entgegenbringt. Hiemit ist, soweit es in meiner Kraft und in meinem Ermessen steht und vorausge- setzt, daß Du es verstehst, Seine Exzellenz für Dich einzunehmen und gleichzeitig die Anschauungen der maßgebenden akademischen Kreise über Dich zu befestigen, Deine Zukunft gesichert. Was die Bitte betrifft, die Du gewiß gerne Seiner Exzellenz vor- tragen wirst, sobald Du weißt, worum es sich handelt, so ist ihr Gegenstand der folgende: In Deutschland soll im Jahre 1918, u. zw. in den Tagen um den 15. VI. herum, eine große, der Welt die Größe und Macht Deutsch- lands ins Gedächtnis prägende Feier des dann eingetretenen 30- jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms IL stattfinden; ob- wohl es bis dahin noch mehrere Jahre sind, weiß man doch aus verläßlicher Quelle, daß heute schon Vorbereitungen dazu getrof- fen werden, wenn auch selbstverständlich vorläufig ganz inoffiziell. Nun weißt Du wohl auch, daß in dem gleichen Jahre unser ver- ehrungswürdiger Kaiser das 70jährige Jubiläum Seiner Thron- besteigung feiert und daß dieses Datum auf den 2. Dezember fällt. Bei der Bescheidenheit, die wir Österreicher allzusehr in allen Fragen haben, die unser eigenes Vaterland betreffen, steht zu be- furchten, daß wir, ich muß schon sagen, wieder einmal ein König- grätz erleben, das heißt, daß uns die Deutschen mit ihrer auf Effekt geschulten Methodik zuvorkommen werden, so wie sie damals das Zündnadelgewehr eingeführt hatten, bevor wir an eine Über- raschung dachten. Glücklicherweise wurde meine Befürchtung, die ich eben äußerte, von anderen patriotischen Persönlichkeiten mit guten Beziehungen schon vorweggenommen, und ich kann Dir verraten, daß in Wien eine Aktion im Gange ist, um das Eintreffen dieser Befürchtung zu verhindern und das volle Gewicht eines 70jährigen, segens- und sorgenreichen Jubiläums gegenüber einem bloß 30jährigen zur Geltung zu bringen. Da der 2. XII. natürlich durch nichts vor den 15. VI. gerückt werden könnte, ist man auf den glücklichen Gedanken verfallen, das ganze Jahr 1918 zu einem Jubiläumsjahr -80- unseres Friedenskaisers auszugestalten. Ich bin darüber allerdings nur soweit unterrichtet, als die Körperschaften, denen ich ange- höre, Gelegenheit hatten, zu der Anregung Stellung zu nehmen, das Nähere wirst Du selbst erfahren, sobald Du Dich bei Gf. Stall- burg meldest, der Dir im vorbereitenden Komitee eine Deine Ju- gend ehrende Stellung zugedacht hat. Desgleichen muß ich Dir nahelegen, die Beziehungen zu der Fa- milie dts Sektionschefs Tuzzi vom Ministerium des Äußeren und des Kaiserlichen Hauses, die ich Dir schon so lange empfohlen habe, nicht länger in der gleichen, für mich geradezu peinlichen Weise nicht aufzunehmen, sondern sofort seiner Gattin, welche, wie Du weißt, die Tochter eines Vetters der Frau meines verstor- benen Bruders und sonach Deine Kusine ist, Deine Aufwartung zu machen, denn, wie man mir sagt, nimmt sie eine hervorragende Stellung in dem Projekt ein, von dem ich Dir soeben schrieb, und mein verehrter Freund, Graf Stallburg, hatte bereits die überaus große Güte, ihr Deinen Besuch in Aussicht zu stellen, weshalb Du keinen Augenblick zögern darfst, das zu erfüllen. Von mir ist nichts weiter zu berichten; die Arbeit an der Neu- auflage meines besagten Buchs nimmt außer den Vorlesungen meine ganze Zeit in Anspruch und den Rest von Arbeitskraft, über den man im Alter noch verfügt. Man muß seine Zeit gut ausnüt- zen, denn sie ist kurz. Von Deiner Schwester höre ich nur, daß sie gesund ist; sie hat einen tüchtigen und braven Mann, wenn sie auch niemals ein- gestehen wird, daß sie mit ihrem Lose zufrieden ist und sich darin glücklich fühlt. Es segnet Dich Dein Dich liebender Vater.« (; Mnsil Mann ZWEITERTEIL Seinesgleichen Geschieht 20 Berührung der Wirklichkeit. Ungeachtet des Fehlens von Eigenschaften benimmt sich Ulrich tatkräftig und feurig Daß Ulrich sich wirklich entschloß, dem Grafen Stallburg seine Aufwartung zu machen, hatte unter verschiedenen Gründen nicht zuletzt den, daß er neugierig geworden war. Graf Stallburg amtierte in der kaiserlichen und königlichen Hofburg, und der Kaiser und König von Kakanien war ein sagen- hafter alter Herr. Seither sind ja viele Bücher über ihn geschrieben worden, und man weiß genau, was er getan, verhindert oder unter- lassen hat, aber damals, im letzten Jahrzehnt von seinem und Ka- kaniens Leben, gerieten jüngere Menschen, die mit dem Stand der Wissenschaften und Künste vertraut waren, manchmal in Zweifei, ob es ihn überhaupt gebe. Die Zahl der Bilder, die man von ihm sah, war fast ebenso groß wie die Einwohnerzahl seiner Reiche; an seinem Geburtstag wurde ebensoviel gegessen und getrunken wie an dem des Erlösers, auf den Bergen flammten die Feuer, und die Stimmen von Millionen Menschen versicherten, daß sie ihn wie einen Vater liebten; endlich war ein zu seinen Ehren klingendes Lied das einzige Gebilde der Dichtkunst und Musik, von dem jeder Kakanier eine Zeile kannte: aber diese Popularität und Publizität war so über-überzeugend, daß es mit dem Glauben an ihn leicht ebenso hätte bestellt sein können wie mit Sternen, die man sieht, obgleich es sie seit Tausenden von Jahren nicht mehr gibt. Das erste, was nun geschah, als Ulrich zur kaiserlichen Hofburg fuhr, war, daß der Wagen, der ihn dahin bringen sollte, schon im äußeren Burghof anhielt, und es begehrte der Kutscher abge- lohnt zu werden, indem er behauptete, daß er zwar durchfahren, aber im inneren Hof nicht stehenbleiben dürfe. Ulrich ärgerte sich über den Kutscher, den er für einen Schwindler oder einen Hasen- fuß hielt, und suchte ihn anzutreiben; aber er verblieb ohnmäch- tig gegenüber dessen ängstlicher Weigerung, und plötzlich fühlte er in ihr die Ausstrahlung einer Gewalt, die mächtiger war als er. Als er den inneren Hof betrat, fielen ihm darauf die zahlreichen roten, blauen, weißen und gelben Röcke, Hosen und Helmbüsche sehr in die Augen, die dort steif in der Sonne standen wie Vögel auf einer Sandbank. Er hatte bis dahin »Die Majestät« für eine bedeutungslose Redewendung gehalten, die man eben noch beibe- halten hat, geradeso wie man ein Atheist sein kann und doch »Grüß Gott« sagt; nun aber strich sein Blick an hohen Mauern empor, und -85- er sah eine Insel grau, abgeschlossen und bewaffnet daliegen, an der die Schnelligkeit der Stadt ahnungslos vorbeischoß. Er wurde, nachdem er sein Begehren angemeldet hatte, über Treppen und Gänge, durch Zimmer und Säle geführt. Obgleich er sehr gut gekleidet war, fühlte er sich dabei von jedem Blick, dem er begegnete, vollkommen richtig eingeschätzt. Kein Mensch schien hier daran zu denken, geistige Vornehmheit mit wirklicher zu ver- wechseln, und es verblieb Ulrich keine andere Genugtuung als die durch ironischen Protest und bürgerliche Kritik. Er stellte fest, daß er durch ein großes Gehäuse mit wenig Inhalt gehe; die Säle waren fast unmöbliert, aber dieser leere Geschmack hatte nicht die Bitter- keit eines großen Stils; er kam an einer lockeren Folge einzelner Gardisten und Diener vorbei, die einen mehr unbeholfenen als prunkvollen Schutz bildeten, dtn ein halbes Dutzend gut bezahl- ter und ausgebildeter Detektive wirkungsvoller besorgt hätte; und vollends die wie Bankboten grau bekleidete und bekappte Diener- art, die sich zwischen den Lakaien und Garden umtrieb, ließ ihn an einen Rechtsanwalt oder Zahnarzt denken, der Büro und Pri- vatwohnung nicht genügend trennt. »Man fühlt deutlich hindurch,« dachte er »wie das als Pracht dereinst biedermeierische Menschen eingeschüchtert haben mag, aber heute hält es nicht einmal den Vergleich mit der Schönheit und Annehmlichkeit eines Hotels aus und gibt sich darum recht schlau als vornehme Zurückhaltung und Steifheit.« Als er aber beim Grafen Stallburg eintrat, empfing ihn Se. Ex- zellenz in einem großen hohlen Prisma von bester Proportion, in dessen Mitte der unscheinbare, kahlköpfige Mann, leicht vorgeneigt und oranghaft geknickt in den Beinen, in einer Weise vor ihm stand, wie eine hohe Hofcharge aus vornehmer Familie unmöglich durch sich selbst aussehen konnte, sondern nur in Nachahmung von irgend etwas. Die Schultern hingen ihm vor, und die Lippe her- unter; er glich einem alten Amtsdiener oder einem braven Rech- nungsbeamten. Und plötzlich bestand kein Zweifel mehr, an wen er erinnerte; Graf Stallburg wurde durchsichtig, und Ulrich be- griff, daß ein Mann, der seit siebzig Jahren der Allerhöchste Mit- telpunkt höchster Macht ist, eine gewisse Genugtuung darin finden muß, hinter sich selbst zurückzutreten und dreinzuschaun wie der subalternste seiner Untertanen, wonach es einfach zu gutem Be- nehmen in der Nähe dieser Allerhöchsten Person und zur selbst- verständlichen Form der Diskretion wird, nicht persönlicher aus- zusehen als säe. Dies scheint der Sinn dessen gewesen zu sein, daß sich die Könige so gern auch die ersten Diener ihres Staates nann- ten, und mit einem raschen Blick überzeugte sich Ulrich, daß Se. Exzellenz wirklich jenen eisgrauen, kurzen, am Kinn ausrasierten -86- Backenbart trug, den alle Amtsdiener und Eisenbahnportiers in Kakanien besaßen. Man hatte geglaubt, daß sie in ihrem Aussehen ihrem Kaiser und Könige nachstrebten, aber das tiefere Bedürfnis beruht in solchen Fällen auf Gegenseitigkeit. Ulrich hatte Zeit, sich das zu überlegen, weil er eine Weile war- ten mußte, ehe Se. Exzellenz ihn ansprach. Der schauspielerische Verkleidungs- und Verwandlungsurtrieb, der zu den Lüsten des Lebens gehört, bot sich ihm ohne den geringsten Beigeschmack, ja wohl ganz ohne Ahnung von Schauspielerei dar; so stark, daß ihm die bürgerliche Gepflogenheit, Theater zu baun und aus dem Schauspiel eine Kunst zu machen, die man stundenweise mietet, neben dieser unbewußten dauernden Kunst der Selbstdarstellung als etwas ganz und gar Unnatürliches, Spätes und Entzweigespal- tenes vorkam. Und als Se. Exzellenz endlich eine Lippe von der anderen gehoben hatte und zu ihm sagte: »Ihr lieber Vater . . .« und schon steckenblieb, in der Stimme aber doch etwas lag, was die bemerkenswert schönen gelblichen Hände wahrnehmen machte und etwas wie eine gespannte Moralität rings um die ganze Er- scheinung, fand Ulrich das reizend und beging einen Fehler, den geistige Menschen leicht begehn. Denn Se. Exzellenz fragte ihn dann, was er sei, und sagte: »So, sehr interessant, an welcher Schule?« als Ulrich Mathematiker geantwortet hatte; und als Ulrich versicherte, daß er mit Schule nichts zu tun habe, sagte Se. Exzel- lenz: »So, sehr interessant, ich verstehe, Wissenschaft, Universi- tät.« Und das kam Ulrich so vertraut und ordentlich genau so vor, wie man sich ein feines Konversationsstück vorstellt, daß er sich unversehens benahm, als sei er hier zu Hause, und seinen Gedan- ken folgte, statt dem gesellschaftlichen Gebot der Lage. Es fiel ihm plötzlich Moosbrugger ein. Hier war die Macht der Begnadigung ja in der Nähe, und nichts erschien ihm einfacher als der Versuch, ob man von ihr Gebrauch machen könnte. »Exzellenz,« fragte er »darf ich mich bei dieser günstigen Gelegenheit für einen Mann verwenden, der mit Unrecht zum Tod verurteilt worden ist?« Bei dieser Frage riß Exzellenz Stallburg die Augen auf. »Einen Lustmördei, allerdings,« gestand Ulrich zu, aber in die- sem Augenblick sah er selbst ein, daß er sich unmöglich benahm. »Ein geisteskranker natürlich« suchte er sich rasch zu verbessern, und »Exzellenz wissen, daß unsere Gesetzgebung aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts in diesem Punkt rückständig ist«, hätte er beinahe hinzugefügt, aber er mußte schlucken und saß fest. Es war eine Entgleisung, diesem Mann eine Erörterung zuzumuten, wie sie Leute, denen an geistigen Umtrieben gelegen ist, oft ganz zwecklos auf sich nehmen. So ein paar Worte, richtig eingestreut, können fruchtbar wie lockere Gartenerde sein, aber an diesem Ort _87- wirkten sie wie ein Häuflein Erde, das einer versehentlich an den Schuhen ins Zimmer getragen hat. Aber nun, da Graf Stallburg seine Verlegenheit bemerkte, bewies er ihm wahrhaft großes Wohl- wollen. »Ja, ja, ich erinnere mich,« sagte er, nachdem Ulrich den Namen genannt hatte, mit einiger Überwindung »und Sie sagen also, daß das ein Geisteskranker sei, und möchten diesem Men- schen helfen?« »Er kann nichts dafür.« »Ja, das sind immer besonders unangenehme Fälle.« Graf Stall- burg schien sehr unter ihren Schwierigkeiten zu leiden. Er sah Ulrich hoffnungslos an und fragte ihn, als sei doch nichts anderes zu erwarten, ob Moosbrugger schon endgültig abgeurteilt sei. Ulrich mußte verneinen. »Ach, nun sehen Sie,« fuhr er erleich- tert fort »dann hat es ja noch Zeit«, und er begann von »Papa« zu sprechen, den Fall Moosbrugger in freundlicher Unklarheit zurücklassend. Ulrich war durch seine Entgleisung einen Augenblick geistes- ungegenwärtig geworden, aber merkwürdigerweise hatte dieser Fehler auf Exzellenz keinen schlechten Eindruck gemacht. Graf Stallburg war zwar anfangs beinahe sprachlos gewesen, so als ob man in seiner Gegenwart dtn Rock ausgezogen hätte; dann aber kam ihm diese Unmittelbarkeit an einem so gut empfohlenen Mann tatkräftig und feurig vor, und er war froh, diese zwei Woite ge- funden zu haben, denn er war des Willens, sich einen guten Ein- druck zu bilden. Er schrieb sie (»Wir dürfen hoffen, einen tatkräf- tigen und feurigen Helfer gefunden zu haben«) sogleich in das Einführungsschreiben, das er an die Hauptperson der großen vater- ländischen Aktion aufsetzte. Als Ulrich einige Augenblicke später dieses Schreiben empfing, kam er sich wie ein Kind vor, das man verabschiedet, indem man ihm ein Stückchen Schokolade ins Händ- chen preßt. Er hielt nun etwas zwischen den Fingern und nahm Weisungen für einen weiteren Besuch entgegen, die ebensogut ein Auftrag wie eine Bitte sein konnten, ohne daß sich eine Gelegen- heit bot, Einspruch dagegen zu erheben. »Das ist ja ein Mißver- ständnis, ich habe doch nicht im mindesten die Absicht gehabt — « hätte er sagen mögen; aber da war er schon auf dem Weg, zurück durch die großen Gänge und Säle. Er blieb plötzlich stehen und dachte: »Das hat mich ja wie einen Kork gehoben und irgendwo abgesetzt, wohin ich gar nicht wollte!« Er betrachtete neugierig die hinterlistige Einfachheit der Einrichtung. Er durfte sich ruhig sagen, sie mache auch jetzt keinen Eindruck auf ihn; das war bloß eine nicht weggeräumte Welt. Aber welche starke, sonderbare Eigen- schaft hatte sie ihn doch fühlen lassen? Zum Teufel, man konnte es kaum anders ausdiücken: sie war einfach überraschend wirklich. -88- 21 Die wahre Erfindung der Parallelaktion durch Graf Leinsdorf Die wahrhaft treibende Kraft der großen patriotischen Aktion — die von nun an, der Abkürzung wegen und weil sie »das volle Gewicht eines 70jährigen segens- und sorgenreichen Jubi- läums gegenüber einem bloß 30jährigen zur Geltung zu bringen« hatte, auch die Parallelaktion genannt werden soll — war aber nicht Graf Stallburg, sondern dessen Freund, Se. Erlaucht Graf Leinsdorf. In dem schönen, hochfenstrigen Arbeitszimmer dieses großen Herrn — inmitten vielfacher Schichten von Stille, Devotion, Goldtressen und Feierlichkeit des Ruhms — stand zu der Zeit, wo Ulrich seinen Besuch in der Hofburg machte, der Sekretär mit einem Buch in der Hand und las Se. Erlaucht eine Stelle daraus vor, die zu finden er beauftragt gewesen war. Es war diesmal etwas aus Joh. Gottl. Fichte, das er in den »Reden an die deut- sche Nation« aufgetrieben hatte und für sehr geeignet hielt. »Zur Befreiung von der Erbsünde der Trägheit« las er vor »und ihrem Gefolge, der Feigheit und Falschheit, bedürfen die Menschen der Vorbilder, die ihnen das Rätsel der Freiheit vorkonstruieren, wie ihnen solche in den Religionsstiftern erstanden sind. Die notwen- dige Verständigung über sittliche Überzeugung geschieht in der Kirche, deren Symbole nicht als Lehrstücke, sondern nur als Lehr- mittel für die Verkündigung der ewigen Wahrheiten anzusehen sind.« Er hatte die Worte Trägheit, vorkonstruieren und Kirche betont, Se. Erlaucht hatte wohlwollend zugehört, ließ sich das Buch zeigen, aber schüttelte dann den Kopf. »Nein,« sagte der reichs- unmittelbare Graf »das Buch wäre schon gut, aber diese protestan- tische Stelle mit der Kirche geht nicht!« — Der Sekretär sah bitter drein wie ein kleiner Beamter, der sich das Konzept eines Akts zum fünftenmal vom Vorstand zurückweisen lassen muß, und wandte vorsichtig ein: »Der Eindruck Fichtes auf nationale Kreise würde aber vorzüglich sein?« — »Ich glaube,« entgegnete Se. Er- laucht »daß wir vorläufig darauf verzichten müssen.« Mit dem zu- klappenden Buch klappte auch sein Gesicht zu, mit dem wortlos befehlenden Gesicht klappte auch der Sekretär zu einer ergebenen Verbeugung zusammen und nahm Fichte in Empfang, um ihn ab- zuservieren und nebenan in der Bibliothek zwischen allen andren philosophischen Systemen der Welt wieder einzureihen; man kocht nicht selbst, sondern läßt das durch seine Leute besorgen. »Es bleibt also,« sagte Graf Leinsdorf »vorderhand bei den vier Punkten: Friedenskaiser, europäischer Markstein, wahres öster- - 89 - reich und Besitz und Bildung. Danach müssen Sie das Rundschrei- ben abfassen.« Se. Erlaucht hatte in diesem Augenblick einen politischen Ge- danken gehabt, und in Worte gebxacht bedeutete er ungefähr: Sie werden von selbst kommen! Er meinte jene Kreise seines Vater- lands, die sich weniger diesem angehören fühlten als der deutschen Nation. Sie waren ihm unangenehm. Hätte sein Sekretär ein pas- senderes Zitat gefunden, um ihrem Empfinden zu schmeicheln (denn dazu war Job. Gottl. Fichte ausgewählt worden), so wäre die Stelle auch niedergeschrieben worden; aber im Augenblick, wo eine störende Einzelheit das hinderte, atmete Graf Leinsdorf be- freit auf. Se. Erlaucht war der Erfinder der großen vaterländischen Aktion. Ihm war, als die aufregende Nachricht aus Deutschland kam, zu- erst das Wort Friedenskaiser eingefallen. Es hatte sich sofort da- mit die Vorstellung eines 88jährigen Herrschers verknüpft, eines wahren Vaters seiner Völker, und einer 70jährigen ununterbro- chenen Regierung. Diese beiden Vorstellungen trugen wohl natür- lich die ihm vertrauten Zügt seines kaiserlichen Herrn, aber die Glorie, die auf ihnen lag, war nicht die der Majestät, sondern der stolzen Tatsache, daß sein Vaterland den ältesten und am längsten regierenden Herrscher der Welt besaß. Unverständige könnten sich nun versucht fühlen, darin bloß die Freude an einer Rarität zu erblicken (etwa wie wenn Graf Leinsdorf den Besitz der viel selteneren quergestreiften Sahara mit Wasserzeichen und einem fehlenden Zahn höher gestellt hätte als den eines Greco, was er auch in Wahrheit tat, wenngleich er beide besaß und die berühmte Bildersammlung seines Hauses nicht ganz außer acht ließ), aber sie verstehen eben nicht, welche bereichernde Kraft ein Gleichnis selbst noch vor dem größten Reichtum voraus hat. In diesem Gleich- nis von dem alten Herrscher lag für Graf Leinsdorf zugleich sein Vaterland, das er liebte, und die Welt, der es ein Vorbild sein sollte. Große und schmerzliche Hoffnungen bewegten Graf Leins- dorf. Er hätte nicht sagen können: war es mehr Schmerz über sein Vaterland, das er nicht ganz den Ehrenplatz »in der Familie der Völker« einnehmen sah, der ihm gebührte, oder war, was ihn be- wegte, Eifersucht auf Preußen, das Österreich von diesem Platz hinabgestoßen hatte (im Jahre 1866, durch Heim-Tücke!), oder er- füllten ihn einfach Stolz auf den Adel eines alten Staats und das Verlangen, ihn vorbildlich zu beweisen; denn die Völker Europas trieben nach seiner Meinung alle im Strudel einer materialistischen Demokratie dahin, und es schwebte ihm ein erhabenes Symbol vor, das ihnen zugleich Mahnung und Zeidien der Einkehr sein sollte. Es war ihm klar, daß etwas geschehen müsse, was Osterreich allen -90- voranstellen sollte, damit diese »glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs« für die ganze Welt »ein Markstein« sei, somit ihr diene, ihr eigenes wahres Wesen wiederzufinden, und daß dies alles mit dem Besitz eines 88jährigen Friedenskaisers verknüpft war. Mehr oder Genaueres wußte Graf Leinsdorf in der Tat noch nicht. Aber es war sicher, daß ihn ein großer Gedanke ergriffen hatte. Nicht nur entflammte dieser seine Leidenschaft — wogegen ein streng und verantwortlich erzogener Christ immerhin hätte mißtrauisch bleiben müssen •— , sondern mit heller Evidenz ergoß sich dieser Gedanke unmittelbar in so erhabene und strahlende Vorstellungen wie die des Herrschers, des Vaterlands und des Weltglücks. Und was diesem Gedanken noch an Dunkel anhaftete, vermochte Se. Erlaucht nicht zu beunruhigen. Se. Erlaucht kannte sehr wohl die theologische Lehre von der contemplatio in caligine divina, der Beschauung im göttlichen Dunkel, das in sich unend- lich klar ist, aber für den menschlichen Intellekt Blendung und Finsternis; und im übrigen war es seine Lebensüberzeugung, daß ein Mann, der Großes tut, gewöhnlich nicht weiß warum — sagt doch schon Cromwell: »Ein Mann kommt nie weiter, als wenn er nicht weiß, wohin er geht!« Graf Leinsdorf gab sich also befriedigt dem Genuß seines Gleichnisses hin, dessen Unsicherheit ihn, wie er fühlte, kräftiger erregte als Sicherheiten. Von Gleichnissen abgesehn, hatten seine politischen Anschau- ungen aber eine außerordentliche Festigkeit und jene Freiheit eines großen Charakters, die nur durch die vollkommene Abwesenheit von Zweifeln ermöglicht wird. Er war als Majoratsherr Mitglied des Herrenhauses, aber weder politisch aktiv, noch bekleidete er ein Amt am Hofe oder im Staate; er war »nichts als Patriot«. Aber gerade dadurch und durch seinen unabhängigen Reichtum war er zum Mittelpunkt aller anderen Patrioten geworden, die mit Be- sorgnis die Entwicklung des Reichs und der Menschheit verfolg- ten. Die ethische Verpflichtung, nicht ein gleichgültiger Zuschauer zu sein, sondern der Entwicklung »von oben helfend die Hand zu bieten«, durchdrang sein Leben. Er war vom »Volk* überzeugt, daß es »gut« sei; da nicht nur seine vielen Beamten, Angestellten und Diener von ihm abhingen, sondern in ihrem wirtschaftlichen Be- stehen zahllose Menschen, hatte er es nie anders kennengelernt, aus- genommen die Sonn- und Feiertage, wo es als freundlich buntes Gewimmel aus den Kulissen quillt wie ein Operachor. Was nicht zu dieser Vorstellung stimmte, führte er deshalb auf »hetzerische Elemente« zurück; es war für ihn das Werk verantwortungsloser, unreifer und sensationssüchtiger Individuen. Religiös und feudal erzogen, niemals im Verkehr mit bürgerlichen Menschen dem Widerspruch ausgesetzt, nicht unbelesen, aber durch die Nachwir- -91- kung der geistlichen Pädagogik, die seme Jugend behütet hatte, zeitlebens gehindert, in einem Buch etwas anderes zu erkennen als Übereinstimmung oder irrende Abweichung von seinen eigenen Grundsätzen, kannte er das Weltbild zeitgemäßer Menschen nur aus den Parlaments- und Zeitungskämpfen; und da er genug Wis- sen besaß, um die vielen Oberflächlichkeiten in diesen zu erkennen, wurde er täglich in seinem Vorurteil bestärkt, daß die wahre, tie- fer verstandene bürgerliche Welt nichts anderes sei, als was er selbst meine. Oberhaupt war der Zusatz »der wahre« zu politischen Gesinnungen eine seiner Hilfen, um sich in einer von Gott ge- schaffenen, aber ihn zu oft verleugnenden Welt zurechtzufinden. Er war fest überzeugt, daß sogar der wahre Sozialismus mit seiner Auffassung übereinstimme; ja es war von Anfang an seine per- sönlichste Idee, die er sogar sich selbst noch teilweise verbarg, eine Brücke zu schlagen, auf der die Sozialisten in sein Lager marschie- ren sollten. Es ist ja klar, daß den Armen zu helfen eine ritter- liche Aufgabe ist und daß für den wahren Hochadel eigentlich kein so großer Unterschied zwischen einem bürgerlichen Fabri- kanten und seinem Arbeiter bestehen kann; »wir alle sind ja im Innersten Sozialisten« war ein Lieblingsausspruch von ihm und hieß ungefähr so viel und nicht mehr, wie daß es im Jenseits keine sozialen Unterschiede gibt. In der Welt hielt er sie aber für not- wendige Tatsachen und erwartete von der Arbeiterschaft, wenn man ihr bloß in den Fragen des materiellen Wohlbefindens ent- gegenkomme, daß sie von unvernünftigen, in sie hineingetragenen Schlagworten abstehn und die natürliche Weltordnung einsehn werde, wo jeder in dem ihm bestimmten Kreis Pflicht und Ge- deihen findet. Der wahre Adelige erschien ihm darum so wichtig wie der wahre Handwerker, und die Lösung der politischen und wirtschaftlichen Fragen lief für ihn eigentlich auf eine harmonische Vision hinaus, die er Vaterland nannte. Se. Erlaucht hätte nicht anzugeben vermocht, was davon er wäh- rend der Viertelstunde seit dem Abgang seines Sekretärs gedacht hatte. Vielleicht alles. Der mittelgroße, etwa sechzigjährige Mann saß reglos vor seinem Schreibtisch, die Hände im Schoß verschränkt, und wußte nicht, daß er lächelte. Er trug einen niederen Kragen, weil er Anlage zu einem Blähhals hatte, und einen Knebelbart entweder aus dem gleichen Grund oder weil er damit ein wenig an die Bilder böhmischer Aristokraten aus der Zeit Wallensteins erinnerte. Ein hohes Zimmer stand um ihn, und dieses war wieder von den großen, leeren Räumen des Vorzimmers und der Biblio- thek umgeben, um welche, Schale über Schale, weitere Räume. Stille, Devotion, Feierlichkeit und der Kranz zweier geschwunge- nen Steintreppen sich legten; wo diese in die Einfahrt mündeten, -92- stand in schwerem, tressenbeladenem Mantel, seinen Stab in der Hand, der große Türhüter, er sah durch das Loch des Torbogens in die helle Flüssigkeit des Tags, und die Fußgänger schwammen vorbei wie in einem Goldfischglas. An der Grenze dieser beiden Welten zogen sich die spielerischen Ranken einer Rokokofassade hoch, die unter den Kunstgelehrten nicht nur wegen ihrer Schön- heit berühmt war, sondern auch weil sie hoher war als breit; sie gilt heute als der erste Versuch, die Haut eines breit bequemen Landschlößchens über das auf bürgerlich beengtem Grundriß hoch- geratene Gerüst des Stadthauses zu spannen, und damit als einer der wichtigsten Übergänge von der feudalen Grundherrlichkeit zum Stil der bürgerlichen Demokratie. Hier ging die Existenz der Leinsdorfs kunstbücherlich beglaubigt in den Weltgeist über. Wer das aber nicht wußte, sah so wenig davon wie der vorüberschie- ßende Wasser tropfen von der Wand seines Kanals; er bemerkte nur das weiche grauliche Torloch in der sonst festen Straße, eine überraschende, fast erregende Vertiefung, in deren Höhle das Gold der Tressen und des großen Knopfes am Türhüterstab erglänzten. Bei schönem Wetter kam dieser Türhüter vor die Einfahrt; dann stand er dort wie ein bunter, weit sichtbarer Edelstein, in eine Häuserflucht eingesprengt, die in niemandes Bewußtsein tritt, ob- gleich es erst ihre Wände sind, die das zahl- und namenlos vor- beitreibende Gewimmel zur Ordnung einer Straße erheben. Es ist zu wetten, daß ein großer Teil des »Volks«, über dessen Ordnung Graf Leinsdorf besorgt und unablässig wachte, mit seinem Namen, wenn er fiel, nichts als die Erinnerung an diesen Türsteher verband. Aber Se. Erlaucht hätte darin keine Zurücksetzung erblickt; eher dürfte ihm schon der Besitz derartiger Türhüter als die »wahre Selbstlosigkeit« vorgekommen sein, die einem vornehmen Mann ansteht. 22 Die Parallelaktion steht in Gestalt einer einfluß- reichen Dame von unbeschreiblicher geistiger Anmut bereit, Ulrich zu verschlingen Diesen Grafen Leinsdorf hatte Ulrich nach dem Wunsch des Grafen Stallburg aufsuchen sollen, aber er hatte beschlossen, es nicht zu tun; dagegen nahm er sich vor, seiner »großen Kusine« den ihm von seinem Vater empfohlenen Besuch zu machen, weil ihm daran gelegen war, sie einmal mit eigenen Augen zu sehn. Er kannte sie nicht, aber er hatte schon seit einiger Zeit eine ganz -93- ihm Leute, die von seiner Verwandtschaft wußten und es gut mit ihm meinten, rieten: »Diese Frau müßten gerade Sie kennenler- nen!« Es geschah immer mit jener besonderen Betonung des Sie, die gerade den Angeredeten als ausnehmend geeignet zum Ver- ständnis eines solchen Juwels hervorheben will und ebensogut eine aufrichtige Schmeichelei bedeuten kann wie ein Versteck für die Überzeugung, daß man der rechte Narr für eine solche Bekannt- schaft sei. Er hatte sich deshalb schon oft nach den besondren Eigen- schaften dieser Frau erkundigt, aber niemals darauf befriedigende Antwort erhalten. Es hieß entweder: »Sie hat eine unbeschreibliche geistige Anmut« oder: »Sie ist unsere schönste und gescheiteste Frau«, und manche sagen einfach: »Sie ist eine ideale Frau!« — »Wie alt ist denn diese Person?« fragte Ulrich, aber niemand wußte es, und gewöhnlich war der Befragte darüber erstaunt, daß er selbst noch nicht darauf gekommen sei, sich das zu fragen. »Und wer ist denn nun eigentlich ihr Geliebter?« fragte Ulrich schließ- lich ungeduldig. »Ein Verhältnis?« Der nicht unerfahrene junge Mann, zu dem er so sprach, staunte. »Sie haben ganz recht. Kein Mensch käme auf diese Vermutung.« »Also eine geistige Schön- heit,« sagte sich Ulrich; »eine zweite Diotima.« Und von diesem Tag an nannte er sie in Gedanken so, nach jener berühmten Dozen- tin der Liebe. In Wirklichkeit hieß sie aber Ermelinda Tuzzi und in Wahrheit sogar nur Hermine. Nun ist Ermelinda zwar nicht einmal die Obersetzung von Hermine, aber sie hatte das Recht auf diesen schönen Namen doch eines Tags durch intuitive Eingebung er- worben, indem er plötzlich als höhere Wahrheit vor ihrem geisti- gen Ohre stand, wenngleich ihr Gatte auch weiterhin Hans und nicht Giovanni hieß und trotz seines Familiennamens die italie- nische Sprache erst auf der Konsularakademie erlernt hatte. Gegen diesen Sektionschef Tuzzi besaß Ulrich kein geringeres Vorurteil wie gegen seine Gattin. Er war in einem Ministerium, das als Ministerium des Äußern und des Kaiserlichen Hauses noch viel feudaler war als die anderen Regierungsbüros, der einzige bür- gerliche Beamte in maßgebender Stellung, leitete darin die ein- flußreichste Sektion, galt als die rechte Hand, gerüchtweise sogar als der Kopf seiner Minister und gehörte zu den wenigen Män- nern, die auf die Geschicke Europas Einfluß hatten. Wenn aber in so stolzer Umgebung ein Bürgerlicher zu solcher Stellung auf- steigt, darf man füglich einen Schluß auf Eigenschaften ziehen, die in einer vorteilhaften Weise persönliche Unentbehrlichkeit mit bescheidenem Zurücktretenkönnen vereinen müssen, und Ulrich war nicht weit davon entfernt, sich den einflußreichen Sektions- -94- chef als eine Art properen Kavalleriewachtmeister vorzustellen, der hochadelige Einjährige kommandieren muß. Dazu paßte als Ergänzung eine Lebensgefährtin, die er sich, trotz der Anpreisun- gen ihrer Schönheit, nicht mehr jung, ehrgeizig und mit einem bürgerlichen Korsett von Bildung dachte. Aber Ulrich wurde heftig überrascht. Als er ihr seine Aufwar- tung machte, empfing ihn Diotima mit dem nachsichtigen Lächeln der bedeutenden Frau, die weiß, daß sie auch schön ist, und den oberflächlichen Männern verzeihen muß, daß sie daran immer zu- erst denken. »Ich habe Sie schon erwartet« sagte sie, und Ulrich wußte nicht recht, war das liebenswürdig oder tadelnd. Die Hand, welche sie ihm reichte, war fett und gewichtslos. Er hielt sie einen Augenblick zu lang fest, seine Gedanken ver- mochten sich nicht gleich von dieser Hand zu trennen. Wie ein dickes Blütenblatt lag sie in der seinen; die spitzen Nägel wie Flügeldecken, schienen imstande zu sein, mit ihr jeden Augenblick ins Unwahrscheinliche davonzufliegen. Die Überspanntheit der Frauenhand hatte ihn überwältigt, eines im Grunde ziemlich schamlos menschlichen Organs, das wie eine Hundeschnauze alles betastet, aber öffentlich der Sitz von Treue, Adel und Zartheit ist. Während dieser Sekunden stellte er fest, daß Diotimas Hals meh- rere Wülste trug, von zartester Haut überzogen; ihr Haar war zu einem griechischen Knoten geschlungen, der starr abstand und in seiner Vollkommenheit einem Wespennest glich. Ulrich fühlte sich von etwas Feindseligem bedrängt, einer Lust, diese lächelnde Frau zu empören, aber er konnte sich der Schönheit Diotimas nicht ganz entziehen. Auch Diotima sah ihn lange und beinahe prüfend an. Sie hatte manches von diesem Vetter gehört, das für ihr Ohr eine leichte Schattierung von privatem Skandal besaß, und außerdem war dieser Mann mit ihr verwandt. Ulrich nahm wahr, daß auch sie sich dem körperlichen Eindruck nicht ganz entziehen konnte, den er auf sie machte. Er war ihn gewohnt. Er war glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös, sein Gesicht war hell und undurchsichtig; mit einem Wort, er kam sich manchmal selbst wie ein Vorurteil vor, das sich die meisten Frauen von einem ein- drucksvollen noch jungen Mann bilden, und hatte bloß nicht immer die Kraft, sie rechtzeitig davon abzubringen. Diotima aber wehrte sich dagegen, indem sie ihn geistig bemitleidete. Ulrich konnte beobachten, daß sie dauernd seine Erscheinung betrachtete und offenbar nicht ungefällige Gefühle dabei hatte, während sie sich vielleicht sagte, daß die edlen Eigenschaften, die er so sinn- fällig zu besitzen schien, durch ein schlechtes Leben unterdrückt -95- 3cm iiiuiitcn una gerettet werden konnten. Von ihrem Aussehen ging, obgleich sie nicht viel jünger als Ulrich und körperlich in aufgeschlossener Vollblüte war, geistig etwas unerschlossen Jung- fräuliches aus, das einen sonderbaren Gegensatz zu ihrem Selbst- bewußtsein bildete. So betrachteten sie einander noch, während sie schon sprachen. Diotima begann damit, daß sie die Parallelaktion für eine ge- radezu nie wiederkehrende Gelegenheit erklärte, das zu verwirk- lichen, was man für das Wichtigste und Größte halte. »Wir müs- sen und wollen eine ganz große Idee verwirklichen. Wir haben die Gelegenheit und dürfen uns ihr nicht entziehn!« Ulrich fragte naiv: »Denken Sie an etwas Bestimmtes?« Nein, Diotima dachte nicht an etwas Bestimmtes. Wie hätte sie das auch tun können! Niemand, der vom Größten und Wichtigsten der Welt spricht, meint, daß es das wirklich gebe. Aber welcher sonderbaren Eigenschaft der Welt kommt das gleich? Alles läuft darauf hinaus, daß das eine größer, wichtiger oder auch schöner oder trauriger ist als das andere, also auf eine Rangordnung und einen Komparativ, und dazu gibt es nun keine Spitze und keinen Superlativ? Macht man jedoch jemand, der gerade vom Wichtig- sten und Größten sprechen will, darauf aufmerksam, so faßt er das Mißtrauen, es mit einem gefühllosen und unidealistischen Menschen zu tun zu haben. So ging es Diotima, und so hatte Ulrich gesprochen. Diotima fand, als eine Frau, deren Geist bewundert wurde, Ulrichs Einwand respektlos. Sie lächelte nach einer Weile und antwortete: »Es gibt so viel Großes und Gutes, was noch nicht verwirklicht ist, daß die Wahl nicht leicht fallen wird, Aber wir werden Ausschüsse aus allen Kreisen der Bevölkerung einsetzen, die uns behilflich sein sollen. Oder glauben Sie nicht, Herr von . . ., daß es einen ungeheuren Vorzug bedeutet, eine Nation, ja eigent- lich die ganze Welt bei einer solchen Gelegenheit dazu aufrufen zu dürfen, daß sie sich inmitten eines materialistischen Treibens auf das Geistige besinne? Sie sollen nicht annehmen, daß wir etwas im längst verbrauchten Sinn Patriotisches anstreben.« Ulrich wich mit einem Scherz aus, Diotima lachte nicht; sie lächelte bloß. Sie war geistreiche Män- ner gewohnt; aber diese waren auch sonst noch etwas. Paradoxe als solche erschienen ihr unreif und erregten das Bedürfnis, ihren Verwandten auf den Ernst der Wirklichkeit hinzuweisen, welcher dem großen patriotischen Unternehmen sowohl Würde wie Ver- antwortung lieh. Sie sprach nun in einem anderen Ton, abschlie- ßend und eröffnend; Ulrich suchte unwillkürlich zwischen ihren Worten nach jenen schwarz-gelben Bindfäden, mit denen in den -96- Ministerien die Aktenblätter durchschossen und aneinandergehef- tet werden. Es kamen aber keineswegs nur regierungsfähige, son- dern auch geistige Kennerworte aus Diotimas Mund, wie »seelen- lose, bloß von Logik und Psychologie beherrschte Zeit« oder »Ge- genwart und Ewigkeit«, und plötzlich war dazwischen auch von Berlin und dem »Schatz von Gefühl« die Rede, den das öster- reichertum im Gegensatz zu Preußen noch bewahre. Ulrich machte einigemal den Versuch, diese geistige Thronrede zu stören; aber augenblicklich wölkte Sakristeigeruch des hohen Bürokratismus über die Unterbrechung hin, ihre Taktlosigkeit zart verhüllend. Ulrich staunte. Er erhob sich, sein erster Besuch war offenbar zu Ende. In diesen Augenblicken des Rückzugs behandelte ihn Diotima mit jener sanften, vorsichtshalber und ostensibel ein wenig über- triebenen Zuvorkommenheit, die sie ihrem Mann abgelernt hatte; der machte von ihr im Verkehr mit jungen Adeligen Gebrauch, die seine Untergebenen waren, aber eines Tags seine Minister sein konnten. Es lag etwas von der überheblichen Unsicherheit des Geistes gegenüber roherer Lebenskraft in der Art, wie sie ihn zum Wiederkommen aufforderte. Als er ihre milde, gewicht- lose Hand wieder in der seinen hielt, sahen sie einander in die Augen, Ulrich hatte den bestimmten Eindruck, daß sie aus- erwählt seien, einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe zu bereiten. »Wahrhaftig,« dachte er »eine Hydra von Schönheit!« Er hatte die Absicht, die große vaterländische Aktion vergeblich auf sich warten zu lassen, aber sie schien in Diotima Gestalt angenommen zu haben und war bereit, ihn zu verschlingen. Es war ein halb spaßiger Eindruck; trotz seiner Jahre und Erfahrung kam er sich wie ein schädlicher kleiner Wurm vor, den ein großes Huhn auf- merksam betrachtet. »Um Gotteswillen,« dachte Ulrich »nur nicht von dieser Seelenriesin sich zu kleinen Schandtaten herausfordern lassen!« Er hatte von seinem Verhältnis zu Bonadea genug und machte sich äußerste Zurückhaltung zur Pflicht. Beim Verlassen der Wohnung tröstete ihn ein Eindruck, den er schon beim Kommen angenehm empfunden hatte. Ein kleines Stu- benmädchen mit träumerischen Augen geleitete ihn. Im Dunkel des Vorzimmers waren ihre Augen wie ein schwarzer Schmetter- ling gewesen, als sie zum erstenmal an ihm emporflatterten; jetzt beim Fortgehn sanken sie durch das Dunkel wie schwarze Schnee- flocken. Etwas Arabisch- oder Algerisch-Jüdisches, eine Vorstel- lung, die er nicht deutlich in sich aufgenommen hatte, war so un- beachtet lieblich um diese Kleine, daß Ulrich auch jetzt vergaß, sich das Mädchen genau anzusehn; erst als er sich auf der Straße 7 Mu&il, Mann - 97 - befand, fühlte er, daß nach Diotimas Gegenwart der Anblick die- ser kleinen Person etwas ungemein Lebendiges und Erfrischendes gewesen war. 23 Erste Einmischung eines großen Mannes Diotima und ihr Stubenmädchen blieben nach Ulrichs Fortgang in einer leisen Angeregtheit zurück. Aber während es der kleinen schwarzen Eidechse jedesmal, wenn sie einen vornehmen Besucher hinausbegleitete, zumute war, als ob sie blitzschnell an einer gie- ßen schimmernden Mauer hinaufhuschen dürfte, behandelte Dio- tima die Erinnerung an Ulrich mit der Gewissenhaftigkeit einer Frau, die es nicht ungern sieht, unrecht berührt zu werden, weil sie in sich die Macht sanfter Zurechtweisung fühlt. Ulrich wußte nicht, daß am gleichen Tag ein anderer Mann in ihr Leben ge- treten war, der sich unter ihr wie ein riesiger Aussichtsberg em- porhob. Dr. Paul Arnheim hatte ihr kurz nach seinem Eintreffen seine Aufwartung gemacht. Er war unermeßlich reich. Sein Vater war der mächtigste Be- herrscher des »eisernen Deutschland«, und sogar Sektionschef Tuzzi hatte sich zu diesem Wortspiel herbeigelassen; Tuzzis Grundsatz war, daß man im Ausdruck sparsam sein müsse und Wortspiele, wenn man ihrer auch im geistvollen Gespräch nicht ganz entbeh- ren könne, niemals zu gut sein dürfen, weil das bürgerlich sei. Er selbst hatte seiner Gattin empfohlen, den Besuch mit Auszeichnung zu behandeln; denn wenn diese Art Leute im Deutschen Reich auch noch nicht obenauf waren und an Einfluß bei Hof nicht mit den Krupps verglichen werden konnten, so konnte dies seiner Ansicht nach immerhin morgen der Fall sein, und er fügte den Inhalt eines intimen Gerüchts hinzu, wonach dieser Sohn — der übrigens schon weit über Vierzig war — durchaus nicht bloß nach der Stel- lung seines Vaters strebe, sondern, auf den Zug der Zeit und seine internationalen Beziehungen gestützt, sich auf eine Reichsminister- schaft vorbereite. Nach der Meinung des Sektionschefs Tuzzi war dies freilich ganz und gar ausgeschlossen, außer es ginge ein Welt- untergang voran. Er ahnte nicht, welchen Sturm er damit in der Phantasie seiner Gattin erregte. Es gehörte selbstverständlich zu den Oberzeugun- gen ihres Kreises, »Händler« nicht allzu hoch zu schätzen, aber wie alle Menschen bürgerlicher Gesinnung, bewunderte sie Reichtum -98- in einer Tiefe des Herzens, die von Überzeugungen ganz unab- hängig ist, und die persönliche Begegnung mit einem so über die Maßen reichen Mann wirkte auf sie wie goldene Engelsfittiche, die sich zu ihr niedergelassen hatten. Ermelinda Tuzzi war seit dem Aufstieg ihres Gatten den Verkehr mit Ruhm und Reichtum wohl nicht ungewohnt; aber Ruhm, durch geistige Leistungen er- worben, zerfließt merkwürdig rasch, sobald man mit seinen Trä- gern verkehrt, und feudaler Reichtum hat entweder die Form törichter Schulden junger Attaches oder er ist an einen überliefer- ten Lebensstil gebunden, ohne je das Überschäumende frei auf- gehäufter Geldberge zu gewinnen und den sprühend ausgeschütte- ten Schauder des Goldes, mit dem große Banken oder Weltindu- strien ihre Geschäfte besorgen. Das einzige, was Diotima vom Bankwesen wußte, war, daß selbst mittlere Angestellte auf Dienst- reisen in der ersten Klasse fuhren, während sie immer zweiter reisen mußte, wenn sie sich nicht in Gesellschaft ihres Mannes befand, und sie hatte sich danach eine Vorstellung von dem Luxus gemacht, der die obersten Despoten eines solchen orientalischen Betriebs umgeben müsse. Ihre kleine Zofe Rachel — es versteht sich von selbst, daß Dio- tima, wenn sie sie rief, diesen Namen französisch aussprach — hatte traumhafte Dinge gehört. Das mindeste, was sie zu erzählen wußte, war, daß der Nabob mit seinem eigenen Zuge angekommen sei, ein ganzes Hotel gemietet habe und einen kleinen Negerskla- ven mit sich führe. Die Wahrheit war wesentlich bescheidener; schon deshalb, weil Paul Arnheim sich niemals auffällig benahm. Nur der Mohrenknabe war Wirklichkeit. Ihn hatte Arnheim vor Jahren auf einer Reise im äußersten Süden Italiens aus einer Truppe von Tänzern herausgegriffen und zu sich genommen, in einer Mischung des Wunsches, sich selbst zu schmücken, mit der Anwandlung, eine Kreatur aus der Tiefe zu heben und, indem er ihr das Leben des Geistes erschloß, an ihr Gottes Werk zu tun. Er hatte aber später bald die Lust daran verloren und verwendete den Kleinen, der jetzt sechzehn Jahre alt war, nur noch als Be- dienten, während er ihm vor dem vierzehnten Jahr Stendhal und Dumas zu lesen gegeben hatte. Aber obgleich die Gerüchte, die ihre Zofe nach Hause gebracht hatte, so kindlich in ihrer Über- treibung waren, daß Diotima lächeln mußte, ließ sie sich doch alles Wort für Wort wiederholen, denn sie fand es so unverdorben, wie das nur in dieser einzigen Großstadt vorkommen konnte, die »bis zur Unschuld kulturvoll« war. Und der Mohrenjunge ergriff merk- würdigerweise sogar ihre eigene Phantasie. Sie war die älteste von den drei Töchtern eines Mittelschulleh- rers gewesen, der kein Vermögen besaß, so daß ihr Gatte für sie -99- schon als gute Partie gegolten hatte, als er noch nichts als einen unbekannten bürgerlichen Vizekonsul darstellte. Sie hatte in ihrer Mädchenzeit nichts gehabt als ihren Stolz, und da dieser hinwieder nichts hatte, worauf er stolz sein konnte, war er eigentlich nur eine eingerollte Korrektheit mit ausgestreckten Taststacheln der Emp- findsamkeit gewesen. Aber auch eine solche verbirgt manchmal Ehrgeiz und Träumerei und kann eine unberechenbare Kraft sein. Hatte Diotima anfangs die Aussicht auf ferne Verwicklungen in fernen Ländern gelockt, so kam bald die Enttäuschung; denn das bildete nach wenigen Jahren nur noch Freundinnen gegenüber, die sie um ihren Hauch Exotik beneideten, einen diskret benützten Vorteil und vermochte nicht die Erkenntnis zurückzudämmen, daß in den Hauptdingen das Leben auf den Missionen das mit dem andren Gepäck von zu Hause mitgebrachte Leben bleibt. Diotimas Ehrgeiz war lange Zeit nahe daran gewesen, in der vornehmen Aussichtslosigkeit der fünften Rangsklasse zu enden, ehe durch einen Zufall plötzlich der Aufstieg ihres Mannes damit begann, daß ein wohlwollender und »fortschrittlich« gesinnter Minister sich den Bürgerlichen in die Präsidialkanzlei der Zentralstelle holte. In dieser Stellung kamen nun viele Leute zu Tuzzi, die etwas von ihm wollten, und von diesem Augenblick an belebte sich auch in Diotima fast zu ihrem eigenen. Erstaunen ein Schatz von Erinne- rungen an »geistige Schönheit und Größe«, den sie sich angeblich im kulturvollen Elternhaus und in den Zentren der Welt, in Wahrheit aber wohl auf der höheren Töchterschule als vorzüg- liches Lernkind angeeignet hatte, und sie fing an, ihn vorsichtig zu verwerten. Der nüchterne, aber ungemein verläßliche Verstand ihres Mannes hatte die Aufmerksamkeit unwillkürlich auch auf sie gelenkt, und sie handelte nun vollkommen arglos wie ein feuch- tes Schwämmchen, welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung in sich aufgespeichert hat, indem sie, so- bald sie wahrnahm, daß man ihre geistigen Vorzüge bemerkte, mit großer Freude kleine »hochgeistige« Ideen an passenden Plätzen in ihre Unterhaltung einflocht. Und allmählich, während ihr Mann weiter emporstieg, fanden sich immer mehr Leute ein, die seine Nähe suchten, und ihr Haus wurde zu einem »Salon«, der in dem Ruf stand, daß »Gesellschaft und Geist« dort einander begegneten. Jetzt, im Verkehr mit Menschen, die auf verschiedenen Gebieten etwas bedeuteten, begann Diotima auch ernstlich sich selbst zu ent- decken. Ihre Korrektheit, die noch immer aufpaßte wie in der Schule, das Gelernte gut behielt und es zu einer freundlichen Einheit verknüpfte, wurde geradezu von selbst zu Geist, ein- fach durch Erweiterung, und das Haus Tuzzi gewann eine an- erkannte Stellung. -100- 24 Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen Zu einem feststehenden Begriff wurde es aber erst durch die Freundschaft Diotimas mit Sr. Erlaucht dem Grafen Leinsdorf. Von den Körperteilen, nach denen Freundschaften benannt wer- den, lag- der gefährlich Leinsdorf sehe an einem solchen Ort zwi- schen Kopf und Herz, daß man Diotima nicht anders als seine Busenfreundin nennen dürfte, wenn dieses Wort noch gebräuch- lich wäre. Se. Erlaucht verehrte Diotimas Geist und Schönheit, ohne sich unerlaubte Absichten zu gestatten. Durch sein Wohl- wollen gewann Diotimas Salon nicht nur eine unerschütterliche Stellung, sondern erfüllte, wie er sich auszudrücken pflegte, ein Amt. Für seine Person war Se. Erlaucht der reichsunmittelbare Graf > nichts als Patriot«. Aber der Staat besteht nicht nur aus der Krone und dem Volk, dazwischen die Verwaltung, sondern es gibt in ihm außerdem noch eins: den Gedanken, die Moral, die Idee! — So religiös Se. Erlaucht war, so wenig verschloß er sich, als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb, der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fa- brik, eine Börsenbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen Grundsätzen zu leiten wären, während andrerseits ohne Börse und Industrie ein moderner Großgrundbesitz rationell nicht zu denken ist; und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines Wirtschaftsdirektors empfing, der ihm zeigte, daß in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe ein Geschäft besser zu machen sei als an der Seite des heimischen Grundadels, so mußte Se. Erlaucht sich in den meisten Fällen für das erste ent- scheiden, denn die sachlichen Zusammenhänge haben ihre eigene Vernunft, der man sich nicht einfach nach Gefühl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter einer großen Wirtschaft die Verant- wortung nicht für sich allein, sondern auch für ungezählte andere Existenzen trägt. Es gibt etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht, und Graf Leins- dorf war überzeugt, daß selbst der Kardinal Erzbischof dabei nicht andeis handeln könnte als er. Freilich war Graf Leinsdorf auch jederzeit bereit, dies in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedau- ern und die Hoffnung auszusprechen, daß das Leben zu der Ein- -101- fachheit, Natürlichkeit, Übernatürlichkeit, Gesundheit und Not- wendigkeit der christlichen Grundsätze wieder zurückfinden werde. Das war, sobald er zu solchen Ausführungen den Mund öffnete, wie wenn man einen Kontaktstöpsel herausgezogen hätte, und er floß in einem anderen Stromkreis. Übrigens geht es den meisten Menschen so, wenn sie sich öffentlich äußern; und wenn jemand Sr. Erlaucht vorgeworfen hätte, daß er für seine Person das tue, was er in der Öffentlichkeit bekämpfe, so würde Graf Leinsdorf es mit heiliger Überzeugung als das demagogische Gerede von wieglerischen Elementen gebrandmarkt haben, die von der aus- gebreiteten Verantwortlichkeit des Lebens keine Ahnung besäßen. Trotzdem erkannte er selbst, daß eine Verbindung zwischen den ewigen Wahrheiten und den Geschäften, die so viel verwickelter sind als die schöne Einfachheit der Überlieferung, eine Angelegen- heit von größter Wichtigkeit darstelle, und er hatte auch erkannt, daß sie nirgends anders zu suchen sei als in der vertieften bür- gerlichen Bildung; mit ihren großen Gedanken und Idealen auf den Gebieten des Rechts, der Pflicht, des Sittlichen und des Schö- nen reichte sie bis zu den Tageskämpfen und täglichen Wider- sprüchen und erschien ihm wie eine Brücke aus lebendem Pflan- zengewirr. Man konnte zwar nicht so fest und sicher auf ihr fußen wie auf den Dogmen der Kirche, aber es war nicht weniger not- wendig und verantwortungsvoll, und aus diesem Grunde war Graf Leinsdorf nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leiden- schaftlicher ziviler Idealist. Diesen Überzeugungen Sr. Erlaucht entsprach in seiner Zusam- mensetzung der Salon Diotimas. Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort an großen Tagen auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte, weil sie in irgend- einem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neu- igkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissensbe- zirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte. Es gab da Kenzinisten und Kanisisten, es konnte vorkom- men, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, ein Tokontologe auf einen Quantentheoretiker stieß, abzusehen von den Vertretern neuer Richtungen in Kunst und Dichtung, die jedes Jahr die Bezeichnung wechselten und neben ihren arrivierten Fach- genossen in beschränktem Maße dort verkehren durften. Im all- gemeinen war dieser Verkehr so eingerichtet, daß alles durchein- ander kam und sich harmonisch mischte; nur die jungen Geister hielt Diotima gewöhnlich durch gesonderte Einladungen abseits und seltene oder besondre Gäste verstand sie unauffällig zu be- vorzugen und einzurahmen. Was das Haus Diotimas vor allen ähnlichen auszeichnete, war übrigens, wenn man so sagen darf, -102- gerade das Laienelement; jenes Element der praktisch angewand- ten Ideen, das sich — um mit Diotima zu sprechen — einst um den Kern der Gotteswissenschaften als ein Volk von gläubig Schaffenden verteilte, eigentlich als eine Gemeinschaft von lauter Laienbrüdern und -Schwestern, kurz gesagt, das Element der Tat; — und heute, wo die Gotteswissenschaften durch Nationalökono- mie und Physik verdrängt worden sind und Diotimas Verzeichnis einzuladender Verweser des Geistes auf Erden mit der Zeit an den Catalogue of Scientific Papers der British Royal Society her- anwuchs, bestanden die Laienbrüder und -Schwestern dementspre- chend aus Bankdirektoren, Technikern, Politikern, Ministerial- räten und den Damen wie Herrn der hohen und der ihr ange- schlossenen Gesellschaft. Besonders die Frauen ließ Diotima sich angelegen sein, aber sie bevorzugte dabei die »Damen« vor den »Intellektuellen«. »Das Leben ist heute viel zu sehr von Wissen belastet,« pflegte sie zu sagen »als daß wir auf die »ungebrochene Frau' verzichten dürften.« Sie war überzeugt, daß nur die unge- brochene Frau noch jene Schicksalsmacht besitze, die den Intellekt mit Seinskräften zu umschlingen vermöge, was dieser ihrer An- sicht nach zu seiner Erlösung offenbar sehr nötig hatte. Diese Auf- fassung von der umschlingenden Frau und der Kraft des Seins wurde ihr übrigens auch von dem männlichen jungen Adel, der bei ihr verkehrte, weil es als Gepflogenheit galt und Sektionschef Tuzzi nicht unbeliebt war, hoch angerechnet; denn das unzersplit- terte Sein ist nun einmal etwas für den Adel, und im besonderen war das Haus Tuzzi, wo man sich paarweise in Gespräche ver- tiefen durfte, ohne aufzufallen, für liebende Zusammenkünfte und lange Aussprachen, ohne daß Diotima das ahnte, noch viel belieb- ter als eine Kirche. Se. Erlaucht Graf Leinsdorf umfaßte diese zwei in sich so viel- fältigen Elemente, die sich bei Diotima mischten, wenn er sie nicht gerade die »wahre Vornehmheit« nannte, mit der Bezeichnung »Besitz und Bildung«; noch lieber verwandte er aber für sie jene Vorstellung »Amt«, die in seinem Denken einen bevorzugten Platz einnahm. Er vertrat die Auffassung, daß jede Leistung — nicht nur die eines Beamten, sondern ebensogut die eines Fabrikarbei- ters oder eines Konzertsängers — ein Amt darstelle. »Jeder Mensch,« pflegte er zu sagen »besitzt ein Amt im Staate; der Ar- beiter, der Fürst, der Handwerker sind Beamte!«; es war dies ein Ausfluß seines stets und unter allen Umständen sachlichen Den- kens, das keine Protektion kannte, und in seinen Augen erfüllten auch die Herrn und Damen der obersten Gesellschaft, indem sie mit den Erforschern der Boghazkoitexte oder der Plättchenfrage plaudei ten und sich die anwesenden Gattinnen der Hochfinanz an- -103- sahen, ein wichtiges, wenn auch nicht genau zu umschreibendes Amt Dieser Begriff Amt ersetzte ihm das, was Diotima als die seit dem Mittelalter abhanden gekommene religiöse Einheit des mensch- lichen Tuns bezeichnete. Und im Grunde entspringt auch wirklich alle solche gewaltsame Geselligkeit wie die bei ihr, wenn sie nicht ganz naiv und roh ist, dem Bedürfnis, eine menschliche Einheit vorzutäuschen, welche die so sehr verschiedenen menschlichen Betätigungen umfassen soll und niemals vorhanden ist. Diese Täuschung nannte Diotima Kul- tur und gewöhnlich mit einem besonderen Zusatz die alte öster- reichische Kultur. Seit ihr Ehrgeiz durch Erweiterung zu Geist geworden war, hatte sie dieses Wort immer häufiger gebrauchen gelernt. Sie verstand darunter: Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher gewesen ist. Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. Das von Tradition schwere hö- fische Zeremoniell. Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschegeschäfte eines Fünfzigmillionenreichs zu- sammengedrängt hatten. Die diskrete Art hoher Beamten Die Wiener Küche. Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. Den, manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton clei Gesellschaft. Sie verstand auch die Tatsache darunter, daß ihr in diesem Lande ein so großer Herr wie Graf Leinsdorf seine Auf- merksamkeit schenkte und seine eigenen kulturellen Bestrebungen in ihr Haus verlegte. Sie wußte nicht, daß Se. Erlaucht das auch deshalb tat, weil es ihm unpassend erschien, sein eigenes Palais einer Neuerung zu öffnen, über die man leicht die Aufsicht ver- liert Graf Leinsdorf war oft heimlich entsetzt über die Freiheit und Nachsicht, mit der seine schöne Freundin von menschlichen Leidenschaften und den Verwirrungen sprach, die sie anrichten, oder von revolutionären Ideen. Aber Diotima bemerkte es nicht. Sie hielt eine Trennung ein, zwischen sozusagen amtlicher \Jn~ keuschheit und privater Keuschheit, wie eine Ärztin oder eine so- ziale Fürsorgerin; sie war empfindlich wie an einer verletzten Stelle, wenn ein Wort ihr persönlich zu nahe kam, aber unpersön- lich sprach sie über alles und konnte dabei nur fühlen, daß Graf Leinsdorf sich von dieser Mischung sehr angezogen zeige. Allein, das Leben baut nichts auf, wozu es nicht die Steine an- derswo ausbricht. Zu Diotimas schmerzlicher Überraschung war ein sehr kleiner, träumerisch süßer Mandelkern von Phantasie, den ihr Dasein einst einschloß, als es sonst noch gar nichts enthielt, der auch noch dagewesen war, als sie sich den wie ein lederner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen aussehenden Vizekonsul -104- Tuzzi zu heiraten entschloß, in den Jahren des Erfolgs verschwun- den. Freilich war vieles von dem, was sie unter alter österreichi- scher Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, einst nur eine lästige Lernaufgabe gewesen, während mitten dazwischen sich leben zu wissen ihr jetzt ein bezaubernder Reiz erschien, der eben- so heroisch ist wie das hochsommerliche Summen der Bienen; aber mit der Zeit wurde das nicht nur eintönig, sondern auch an- strengend und sogar hoffnungslos. Es ging Diotima mit ihren be- rühmten Gästen nicht anders wie dem Grafen Leinsdorf mit sei- nen Bankverbindungen; man mochte noch so sehr wünschen, sie in Einheit mit der Seele zu bringen, es gelang nicht. Von Automobi- len und Röntgenstrahlen kann man ja sprechen, das löst noch Ge- fühle aus, aber was sollte man mit allen unzähligen anderen Er- findungen und Entdeckungen, die heute jeder Tag hervorbringt, anderes anfangen, als ganz im allgemeinen die menschliche Er- findungsgabe zu bewundern, was auf die Dauer recht schleppend wirkt! Se. Erlaucht kam gelegentlich und sprach mit einem Poli- tiker oder ließ sich einen neuen Gast vorstellen, er hatte es leicht, von vertiefter Bildung zu schwärmen; wenn man aber so einge- hend mit ihr zu tun hatte wie Diotima, zeigte es sich, daß nicht die Tiefe, sondern ihre Breite das Unüberwindliche war. Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfäl- tigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf. Diotima machte die Erfahrung, daß sich auch die berühmten Gäste an ihren Abenden immer paarweise unterhielten, weil ein Mensch schon damals höchstens noch mit einem zweiten Menschen sachlich und vernünf- tig sprechen konnte, und sie konnte es eigentlich mit keinem. Da- mit hatte Diotima aber an sich das bekannte Leiden des zeitgenös- sischen Menschen entdeckt, das man Zivilisation nennt. Es ist ein hinderlicher Zustand, voll von Seife, drahtlosen Wellen, der an- maßenden Zeichensprache mathematischer und chemischer For- meln, Nationalökonomie, experimenteller Forschung und der Un- fähigkeit zu einem einfachen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen. Und auch das Verhältnis des ihr selbst innewohnenden Geistesadels zum gesellschaftlichen Adel, das Diotima große Vor- sicht auferlegte und trotz aller Erfolge manche Enttäuschung ein- trug, erschien ihr mit der Zeit immer mehr so beschaffen zu sein, wie es kein Kultur-, sondern nur ein Zivilisationszeit alter kenn- zeichnet. Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen konnte. Und darum war es seit langem und voi allem auch ihi Mann, 10:)-. 25 Leide?i einer verheirateten Seele Sie las in ihrem Leiden viel und entdeckte, daß ihr etwas ver- lorengegangen war, von dessen Besitz sie vordem nicht viel ge- wußt hatte: eine Seele. Was ist das? — £s ist negativ leicht bestimmt, es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört. Aber positiv^ Es scheint, daß es sich da allen Bemühungen, die es fassen wollen, erfolgreich entzieht. Es mag sein, daß einstmals etwas Ursprüngliches in Diotima gewesen war, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit, damals eingerollt in das dünngebürstete Kleid ihrer Korrektheit, was sie jetzt Seele nannte und in der gebatik- ten Metaphysik Maeterlincks wiederfand, in Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von Dünnromantik und Gottessehn- sucht, die das Menschenzeitalter als Äußerung des geistigen und künstlerischen Protestes gtgtn sich selbst ein Weile lang ausge- spritzt hat. Es mag auch sein, daß dieses Ursprüngliche in Diotima als ein Etwas von Stille, Zärtlichkeit, Andacht und Güte genauer zu bestimmen war, das nie einen rechten W^g gefunden hatte und beim Bleigießen, welches das Schicksal mit uns veranstaltet, in die komische Form ihres Idealismus geraten war. Vielleicht war es Phantasie; vielleicht eine Ahnung von der instinktiven vegeta- tiven Arbeit, die täglich unter der Decke des Leibes vor sich geht, über der der seelenvolle Ausdruck einer schönen Frau uns anblickt; vielleicht kamen bloß unbezeichenbare Stunden, wo sie sich weit und warm fühlte, die Empfindungen beseelter zu sein schienen als gewöhnlich, wo Ehrgeiz und Wille schwiegen, eine leise Lebens- berauschung und Lebensfülle sie ergriff, die Gedanken sich weit weg von der Oberfläche nach der Tiefe richteten, selbst wenn sie nur dem Geringsten galten, und die Weltereignisse fern lagen wie Lärm vor einem Garten. Diotima meinte dann unmittelbar das Wahre in sich zu sehen, ohne sich darum zu bemühen; zarte Er- lebnisse, die noch keine Namen trugen, hoben ihre Schleier; und sie fühlte sich — um nur einiges aus den vielen Beschreibungen anzuführen, die sie in der Literatur dafür vorfand — harmonisch, human, religiös, nah einer Ursprungstiefe, die alles heilig macht, was aus ihr aufsteigt, und alles sündhaft sein läßt, was nicht aus ihrer Quelle kommt: Aber wenn das auch alles recht schön zu den- ken war, über solche Ahnungen und Andeutungen eines besonde- ren Zustands kam nicht nur Diotima niemals hinaus, sondern ebensowenig taten es die zu Rate gezogenen prophetischen Bücher, die von dem Gleichen in den gleichen, geheimnisvollen und un- -106- genauen Worten sprachen. Es blieb Diotima nichts übrig, als daß sie auch daran die Schuld einem Zivilisationszeitalter zuschrieb, worin der Zugang zur Seele eben verschüttet worden ist. Wahrscheinlich war, was sie Seele nannte, nichts als ein kleines Kapital von Liebesfähigkeit, das sie zur Zeit ihrer Heirat beses- sen hatte; Sektionschef Tuzzi bot nicht die rechte Anlagemöglich- keit dafür. Seine Überlegenheit über Diotima war anfangs und durch lange Zeit die des älteren Mannes gewesen; später kam noch die des erfolgreichen Mannes in geheimnisvoller Stellung dazu, der seiner Frau wenig Einblick in sich gewährt und den Nichtig- keiten, die sie treibt, mit Wohlwollen zusieht. Und von der Zeit der Bräutigamszärtlichkeiten abgesehn, war Sektionschef Tuzzi immer ein Nützlichkeits- und Verstandesmensch gewesen, den sein Gleichgewicht niemals verließ. Dennoch umgaben ihn die gut sit- zende Ruhe seiner Handlungen und seines Anzugs, der, man könnte sagen, höflich ernste Geruch seines Körpers und Bartes, der vor- sichtige feste Bariton, in dem er sprach, mit einem Hauch, der die Seele des Mädchens Diotima ähnlich erregte wie die Nähe des Herrn die des Jagdhunds, der die Schnauze auf sein Knie legt. Und so wie dieser gefühlhaft umfriedet hinterdreintrabt, hatte auch Diotima unter ernster, sachlicher Führung die unendliche Landschaft der Liebe betreten. Sektionschef Tuzzi bevorzugte darin die geraden Wege. Seine Lebensgewohnheiten waren die eines ehrgeizigen Arbeiters. Er stand früh am Morgen auf, um entweder auszureiten oder, noch lieber, eine Stunde spazierenzugehn, was nicht nur der Erhaltung der Elastizität diente, sondern auch eine pedantisch einfache Ge- wohnheit darstellte, die, unerschütterlich durchgeführt, vorzüglich zum Bild verantwortungsvoller Leistungen paßt. Und daß er abends, wenn sie nicht eingeladen waren oder Gäste hatten, sich alsbald in sein Arbeitszimmer zurückzog, versteht sich von selbst, denn er war gezwungen, sein großes sachliches Wissen auf jener Höhe zu halten, in der seine Überlegenheit über die adeligen Kol- legen und Vorgesetzten bestand. Ein solches Leben setzt feste Schranken und ordnet die Liebe der übrigen Tätigkeit ein. Wie alle Männer, deren Phantasie nicht vom Erotischen versehrt wird, war Tuzzi in seiner Junggesellenzeit — wenn er sich auch hie und da des diplomatischen Rufes halber in Gesellschaft sei- ner Freunde mit kleinen Theaterchoristinnen gezeigt hatte — ein ruhiger Bordellbesucher gewesen und übertrug den regelmä- ßigen Atemzug dieser Gewohnheit auch in die Ehe. Diotima lernte deshalb die Liebe als etwas Heftiges, Anfaiiweises, kurz Ange- bundenes kennen, das von einer noch stärkeren Gewalt nur ein- mal in jeder Woche losgelassen wurde. Diese Veränderung des We- -107- sens zweier Menschen, die auf die Minute begann, um wenige Mi- nuten später in ein kurzes Gespräch über nachzutragende Tages- ereignisse und dann in planen Schlaf überzugehn, etwas, wovon man in der Zwischenzeit nie oder höchstens in Andeutungen und Anspielungen sprach (etwa so, daß man über die »patrie hon- teuse« des Körpers einen diplomatischen Scherz macht), hatte je- doch unerwartete und widerspruchsvolle Folgen für sie. Einesteils wurde es die Ursache ihrer übermäßig angeschwol- lenen Idealität; jener offiziösen, nach außen gewandten Persön- lichkeit, deren Liebeskraft, deren seelisches Verlangen sich auf alles Große und Edle ausdehnte, das in ihrem Umkreis sichtbar wurde, und so innig sich daran verteilte und damit verband, daß Diotima jenen die Männerbegriffe verwirrenden Eindruck einer mächtig glühenden, aber platonischen Liebessonne hervorrief, durch dessen Schilderung Ulrich auf ihre Bekanntschaft neugierig geworden war. Andrerseits aber hatte sich der breite Rhythmus ehelicher Berührung rein physiologisch in ihr zu einer Gewohn- heit entwickelt, die ihre Bahnung für sich besaß und sich ohne Verbindung mit den höheren Teilen ihres Wesens wie der Hun- ger eines Knechts meldete, dessen Mahlzeiten spärlich, aber kräf- tig sind. Mit der Zeit, als kleine Härchen aus Diotimas Oberlippe brachen und in ihr mädchenhaftes Wesen sich die männliche Selb- ständigkeit der gereiften weiblichen Person mischte, kam ihr das als Schrecken zu Bewußtsein. Sie liebte ihren Gatten, aber es mengte sich ein wachsendes Maß Abscheu darein, ja eine fürch- terliche Beleidigung der Seele, die man schließlich nur den Emp- findungen vergleichen konnte, die der in seine großen Unterneh- mungen vertiefte Archimedes gehabt haben würde, wenn ihn der fremde Soldat nicht erschlagen, sondern ihm ein sexuelles An- sinnen gestellt hätte. Und da ihr Gatte das weder merkte, noch ebenso darüber gedacht haben würde, ihr Körper aber sie gegm ihren Willen schließlich doch jedesmal an ihn verriet, fühlte sie sich einer Zwangsherrschaft unterworfen; es war wohl eine, die nicht für untugendhaft gilt, aber ihr Ablauf war genau so quä- lend, wie sie sich das Auftreten eines Tics oder die Unentrinn- barkeit des Lasters vorstellte. Nun wäre Diotima dadurch viel- leicht nur ein wenig schwermütig und noch mehr ideal geworden, aber das fiel unglücklicherweise gerade in die Zeit, wo auch ihr Salon begann, ihr seelische Schwierigkeiten zu bereiten. Sektions- chef Tuzzi förderte sehr natürlich die geistigen Bestrebungen sei- ner Frau, da er bald erkannt hatte, welcher Vorteil für seine eigene Stellung sich mit ihnen verband, aber er hatte niemals Teil an ihnen genommen, und man kann wohl auch sagen, er nahm sie nicht ernst; denn ernst nahm dieser erfahrene Mann nur die Macht, die Pflicht, -108- hohe Abkunft und in einigem Abstand davon die Vernunft, Er warnte sogar Diotima wiederholt davor, in ihre schöngeistigen Regierungsgeschäfte zu v : Hl Ehrgeiz zu setzen, denn wenn Kultur auch sozusagen das Salz in der Speise des Lebens sei, so liebe feine Gesellschaft doch nicht eine allzu gesalzene Küche; er sagte das ganz ohne Ironie, denn es war seine Oberzeugung, aber Diotima fühlte sich gering geschätzt. Sie fühlte beständig ein Lächeln in der Schwebe, mit dem ihr Gatte ihre idealen Bestrebungen beglei- tete; und ob er sich zu Hause befand oder nicht, und ob dieses Lächeln — falls er wirklich lächelte, was keineswegs immer sicher war — in besonderer Weise ihr galt oder nur zu dem Gesichts- ausdruck eines Mannes gehörte, der. von Berufswegen jederzeit überlegen aussehen mußte, es wurde ihr mit der Zeit immer un- erträglicher, ohne daß sie sich von dem infamen Schein von Be- rechtigung zu befreien vermochte, den es sich anmaßte. Diotima gab zuweilen einer materialistischen Geschichtsperiode die Schuld daran, die aus der Welt ein böses, zweckloses Spiel gemacht hat, zwischen dessen Atheismus, Sozialismus und Positivismus ein see- lenvoller Mensch nicht die Freiheit findet, sich zu seinem wahren Wesen zu erheben; aber auch das nützte nicht oft. So waren die Verhältnisse im Hause Tuzzi beschaffen, als die große patriotische Aktion die Ereignisse beschleunigte. Seit Graf Leinsdorf, um den Adel nicht zu exponieren, deren Mittelpunkt in das Haus seiner Freundin verlegt hatte, waltete dort eine un- ausgesprochene Verantwortung, denn Diotima war entschlossen, jetzt oder nie ihrem Gatten zu beweisen, daß ihr Salon kein Spiel- zeug sei. Se. Erlaucht hatte ihr anvertraut, daß die große patrio- tische Aktion eine krönende Idee brauche, und es war ihr bren- nender Ehrgeiz, sie zu finden. Die Vorstellung, mit den Mitteln eines ganzen Reichs und vor den aufmerksamen Augen der Welt etwas verwirklichen zu müssen, was einer der größten Kultur- inhalte sein sollte, oder bescheidener eingeschränkt, vielleicht et- was, das die österreichische Kultur in ihrem innersten Wesen zei- gen sollte, — diese Vorstellung wirkte auf Diotima, als ob die Türe ihres Salons aufgesprungen wäre und an die Schwelle schlüge wie eine Fortsetzung seines Fußbodens das unendliche Meer. — Es ließ sich nicht leugnen, daß das erste, was sie dabei empfand, eine unermeßliche, augenblicklich sich öffnende Leere war. Erste Eindrücke haben so oft etwas Richtiges an sich! Diotima war sicher, daß etwas Unvergleichliches geschehen werde, und rief ihre vielen Ideale auf; sie mobilisierte das Pathos ihrer Geschichts- stunden als kleines Mädchen, wo sie mit Reichen und Jahrhunder- ten rechnen gelernt hatte; sie tat überhaupt alles, was man in einer solchen Lage tun muß, aber nachdem einige Wochen in dieser -109 - Weise vergangen waren, mußte sie beobachten, daß ihr keines- wegs etwas eingefallen war. Es wäre Haß gewesen, was Diotima in diesem Augenblick gegen ihren Gatten empfand, wenn sie des Hasses — einer niederen Regung! — überhaupt fähig gewesen wäre; deshalb wurde es Schwermut, und ein bis dahin unbekannter »Groll gegen alles« stieg in ihr auf. Das war der Zeitpunkt, wo Dr. Arnheim in Begleitung seines kleinen Negers eintraf und Diotima kurz darauf seinen bedeu- tungsvollen Besuch empfing. 26 Die Vereinigung von Seele und Wirtschaft. Der Mann, der das kann, will den Barockzauber alter österreichischer Kultur genießen. Der Parallel- aktion wird dadurch eine Idee geboren Diotima kannte keine unrechten Gedanken, aber wahrschein- lich verbarg sich an diesem Tag vielerlei hinter dem unschuldigen kleinen Mohrenknaben, mit dem sie sich beschäftigte, nachdem sie ihre Zofe »Rachelle« aus dem Zimmer geschickt hatte. Sie hatte deren Erzählung noch einmal freundlich angehört, seit Ulrich das Haus seiner Großen Kusine verlassen hatte, und die schöne, ge- reifte Frau fühlte sich jung und wie mit einem klingelnden Spiel- zeug beschäftigt. Einst hatte sich der Adel, hatte die Vornehmheit sich Mohren gehalten; es fielen ihr reizende Bilder ein, von Schlit- tenfahrten mit bewimpelten Pferden, fe der geschmückten Lakaien und reifgepuderten Bäumen; aber diese phantasievolle Seite der Vornehmheit war längst eingegangen. »Das Gesellschaftsleben ist heute seelenlos geworden« dachte sie. Es war etwas in ihrem Her- zen, das für den kühnen Außenseiter Partei nahm, der es noch wagte, sich einen Mohren zu halten, für den inkorrekt vornehmen Bürgerlichen, den Eindringling, der die erbgesessene Macht be- schämte, wie der gelehrte griechische Sklave einst seine römischen Herren beschämt hat. Ihr von vielerlei Rücksichten krummgeschlos- senes Selbstbewußtsein desertierte ihm als Schwestergeist entge- gen, und dieses im Vergleich mit allen ihren anderen sehr natür- liche Gefühl ließ sie sogar darüber hinwegsehn, daß Dr. Arnheim — wenn sich auch die Gerüchte widersprachen und verläßliche Nachrichten noch nicht vorlagen — von jüdischer Abstammung sein sollte: von seinem Vater wurde das nämlich mit Sicherheit erzählt, nur die Mutter war schon so lange tot, daß eine Weile vergehen mußte, ehe man Genaues erfuhr. Es wäre übrigens mög- »110- lieh gewesen, daß ein gewisser grausamer Weltschmerz in Dioti- mas Herz gar nicht nach einem Dementi verlangte. Vorsichtig hatte Diotima ihren Gedanken erlaubt, den Mohren zu verlassen und sich seinem Herrn zu nähern. Dr. Paul Arnheim war nicht nur ein reicher Mann, sondern er war auch ein bedeu- tender Geist. Sein Ruhm ging darüber hinaus, daß er der Erbe weitumspannender Geschäfte war, und er hatte in seinen Muße- stunden Bücher geschrieben, die in vorgeschrittenen Kreisen als außerordentlich galten. Die Menschen, die solche rein geistigen Kreise bilden, sind über Geld und bürgerliche Auszeichnung er- haben; aber man darf nicht vergessen, daß es gerade darum für sie etwas besonders Hinreißendes hat, wenn ein reicher Mann sich zu ihresgleichen macht, und Arnheim verkündete in seinen Pro- grammen und Büchern noch dazu nichts Geringeres als gerade die Vereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht. Die empfindsamen, mit der feinsten Witterung für das Kommende begabten Geister verbreiteten die Meldung, daß er diese beiden, in der Welt gewöhnlich getrennten Pole in sich vereine, und be- günstigten das Gerücht, daß eine moderne Kraft auf dem Wege und berufen sei, einstmals noch die Geschicke des Reichs und wer weiß vielleicht der Welt zum Besseren zu lenken. Denn daß die Grundsätze und Verfahren der alten Politik und Diplomatie Eu- ropa in den Graben kutschierten, war ein seit langem allgemein verbreitetes Gefühl, und überhaupt hatte damals in allem schon die Periode der Abkehr von den Fachleuten begonnen. Auch Diotimas Zustand ließ sich als Auflehnung gegen die Denkweise der älteren Diplomatenschule ausdrücken; darum be- griff sie sogleich die wundersame Ähnlichkeit, die zwischen ihrer und der Stellung dieses genialen Außenseiters bestand. Der be- rühmte Mann hatte ihr überdies, sobald es nur anging, seine Auf- wartung gemacht, ihr Haus war bei weitem das erste, dem diese Auszeichnung widerfuhr, und das Einführungsschreiben einer ge- meinsamen Freundin sprach von der alten Kultur der Habsbur- gerstadt und ihrer Menschen, die der Arbeitsame zwischen unver- meidlichen Geschäfte zu genießen hoffe; Diotima fühlte sich aus- gezeichnet wie ein Schriftsteller, der zum erstenmal in die Sprache eines fremden Landes übersetzt wird, als sie daraus entnahm, daß dieser berühmte Ausländer den Ruf ihres Geistes kannte. Sie be- merkte, daß er nicht im geringsten jüdisch aussah, sondern ein vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus war. Aber auch Arnheim wurde entzückt, als er in Diotima eine Frau antraf, die nicht nur seine Bücher gelesen hatte, sondern als eine von leichter Korpulenz bekleidete Antike auch seinem Schönheits- ideal entsprach, das hellenisch war, mit einem bißchen mehr Fleisch, - Ul - damit das Klassische nicht so starr ist. Es blieb Diotima bald nicht verborgen, daß der Eindruck, den sie in einem Gespräch von zwan- zig Minuten Dauer auf einen Mann mit wirklichen Weltbeziehun- gen zu machen imstande war, gründlich alle Zweifel zerstreute, durch die ihr eigener, doch wohl in etwas veralteten diplomatischen Methoden befangener Mann ihre Bedeutung beleidigte. Mit sanftem Behagen wiederholte sie sich dieses Gespräch. Es hatte noch kaum begonnen, als Arnheim schon sagte, er sei in diese alte Stadt nur gekommen, um sich im Barockzauber alter öster- reichischer Kultur ein wenig vom Rechnen, vom Materialismus, von der bden Vernunft eines heute schaffenden Zivilisationsmen- schen zu erholen. Es sei eine so heitere Seeienhaftigkeit in dieser Stadt — hatte Diotima erwidert, und sie war es zufrieden. »Ja,« hatte er gesagt »wir haben keine inneren Stimmen mehr; wir wissen heute zuviel, der Verstand tyrannisiert unser Leben.« Da hatte sie geantwortet: »Ich verkehre gern mit Frauen; weil sie nichts wissen und ungebrochen sind.« Und Arnheim hatte ge- sagt: »Trotzdem versteht eine schöne Frau weit mehr als ein Mann, der trotz Logik und Psychologie gar nichts vom Leben weiß.« Und da hatte sie ihm nun erzählt, daß ein ähnliches Problem wie die Befreiung der Seele von der Zivilisation, nur ins Große und Staat- liche projiziert, hier die maßgebenden Kreise beschäftige; »man müßte — « hatte sie gesagt, und Arnheim unterbrach sie: Das sei ganz wundervoll; »neue Ideen oder, wenn es erlaubt sei zu sagen (hier seufzte er leicht), überhaupt erst Ideen in Machtsphären zu tragen!« Und Diotima war fortgefahren: Man wolle Komitees aus allen Kreisen der Bevölkerung bilden, um diese Ideen zu ermit- teln. — Aber eben da hatte Arnheim etwas ungemein Wichtiges, in einem solchen Ton freundschaftlicher Wärme und Achtung hatte er es gesagt, daß sich die Warnung Diotima tief einprägte: Nicht leicht, hatte er ausgerufen, werde auf diese Weise etwas Großes zustande kommen; nicht eine Demokratie von Ausschüssen, son- dern nur einzelne starke Menschen, mit Erfahrung sowohl in der Wirklichkeit wie im Gebiet der Ideen, würden die Aktion lenken können! — Bis hieher hatte sich Diotima das Gespräch wörtlich wiederholt, aber an diesem Punkt löste es sich in Glanz auf; sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie selbst erwidert habe. Ein unbestimm- tes, spannendes Glücks- und Erwaitungsgefühl hatte sie die ganze Zeit über immer höher gehoben; nun glich ihr Geäst einem aus- gekommenen, kleinen, bunten Kinderballon, der herrlich leuchtend hoch oben gegen die Sonne schwebt. Und im nächsten Augenblick zerplatzte er. -U2- Da war der großen Parallelaktion eine Idee geboren, die ihr bis dahin gefehlt hatte. 27 Wesen und Inhalt einer großen Idee Es wäre leicht zu sagen, worin diese Idee bestand, aber in sei- ner Bedeutung könnte es kein Mensch beschreiben! Denn das ist es, was eine ergreifende große Idee von einer gewöhnlichen, vielleicht sogar unbegreiflich gewöhnlichen und verkehrten un- terscheidet, daß sie sich in einer Art Schmelzzustand befindet, durch den das Ich in unendliche Weiten gerät und umgekehrt die Wei- ten der Welten in das Ich eintreten, wobei man nicht mehr erken- nen kann, was zum eigenen und was zum Unendlichen gehört. Deshalb bestehen ergreifende große Ideen aus einem Leib, welcher wie der des Menschen kompakt, aber hinfällig ist, und aus einer ewigen Seele, die ihre Bedeutung ausmacht, aber nicht kompakt ist, sondern bei jedem Versuch, sie mit kalten Worten anzufassen, sich in nichts auflöst. Dies vorausgeschickt, muß gesagt werden, daß Diotimas große Idee in nichts anderem bestand, als daß der Preuße Arnheim die geistige Leitung der großen österreichischen Aktion übernehmen müsse, obgleich diese eine Eifersuchtsspitze gegen Preußen- Deutschland besaß. Aber das ist nur der tote Wortleib der Idee, und wer ihn unbegreiflich oder lächerlich findet, mißhandelt einen Leichnam. Was dagegen die Seele dieser Idee angeht, muß gesagt werden, daß es eine keusche und erlaubte war, und für alle Fälle hing Diotima ihrem Beschluß sozusagen noch ein Kodizill für Ulrich an. Sie wußte nicht, daß auch ihr Vetter — wenngleich auf einem weit tieferen Plan als Arnheim und durch dessen Wirkung verdeckt — ihr Eindruck gemacht hatte, und sie hätte sich wahr- scheinlich verachtet, wenn ihr das klar gewesen wäre; aber in- stinktiv hatte sie trotzdem eine Gegenmaßnahme getroffen, indem sie ihn vor ihrem Bewußtsein für »unreif« erklärte, obgleich Ulrich älter war als sie selbst. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu be- mitleiden, und das erleichterte die Überzeugung, daß es eine Pflicht sei, Arnheim statt seiner für die Führung der verantwortungsvol- len Aktion zu erwählen; aber andrerseits, nachdem sie diesen Ent- schluß geboren hatte, meldete sich auch die weibliche Vorstellung, daß der Zurückgesetzte nun ihrer Hilfe bedürftig und würdig sei. Fehlte ihm irgend etwas, so konnte er es auf keine Weise besser er- werben als durch eine Mitverwendung in der großen Aktion, die 8 Musil, Mann « 1 13 - ihm Gelegenheit bot, viel in ihier und Arnheims Nahe zu weilen. Also beschloß Diotima auch noch dies, abci das waren alleidings bloß ergänzende Überlegungen. 28 Ein Kapitel, das jeder über sc klagen kann, da von dei Beschäftigung mit Gedanken keine besonder e Meinung hat Ulrich saß inzwischen zu Hause an seinem Schreibtisch und arbeitete. Er hatte die Untersuchung hervoi geholt, die er vor Wochen, als er den Entschluß zur Ruckkehr faßte, mitten abge- brochen hatte; er wollte sie nicht zu Ende fühien, es machte ihm bloß Vergnügen, daß er alles das noch immer zuwege bi achte. Das Wetter war schön, aber er hatte in den letzten Tagen nur für kurze Wege das Haus verlassen, er ging nicht einmal in den Garten hin- aus, er hatte die Vorhänge zugezogen und aibeitete im gedämpf- ten Licht wie ein Akrobat, dei m einem halbdunklen Ziikus, ehe noch die Zuschauer zugelassen sind, einem Parkett von Kennein gefährliche neue Spiünge vorführt. Die Genauigkeit, Kiaft und Sicherheit dieses Denkens, die nirgends im Leben ihiesgleichen hat, erfüllte ihn fast mit Schwermut. Er schob das mit Formeln und Zeichen bedeckte Papier nun zu- rück und hatte zuletzt eine Zustandsglcichung des Wasseis dar- auf geschrieben, als physikalisches Beispiel, um einen neuen ma- thematischen Vorgang anzuwenden, den er beschrieb; aber seine Gedanken waren wohl schon vor einer Weile abgeschweift. »Habe ich nicht Ciarisse etwas vom Wasser erzählt?« fragte er sich, vermochte jedoch nicht, sich deutlich zu erinnern. Doch das war auch gleichgültig, und seine Gedanken bi eitel cn sich nach- lässig aus. Es ist leider in der schönen Literatur nichts so schwer wieder- zugeben wie ein denkender Mensch. Ein großer Entdecken hat, als man ihn einmal befragte, wie er es anstelle, daß ihm so viel Neues eingefallen sei, darauf geantwortet: indem ich unablässig daran dachte. Und in der Tat, man darf wohl sagen, daß sich die uner- warteten Einfalle durch nichts anderes einstellen, als daß man sie erwartet. Sie sind zu einem nicht kleinen Teil ein Ei folg des Cha- rakters, beständiger Neigungen, ausdauernden Ehigeizes und un- ablässiger Beschäftigung. Wie langweilig muß solche Beständig- keit sein! In anderer Hinsicht wiedei vollzieht sich die Lösung einer geistigen Aufgabe nicht viel anders, wie wenn ein Hund, -114- der einen Stock im Maul trägt, durch eine schmale Tür will; er dreht dann den Kopf solange links und rechts, bis der Stock hin- durchrutscht, und ganz ähnlich tun wir's, bloß mit dem Unter- schied, daß wir nicht ganz wahllos darauflos versuchen, sondern schon durch Erfahrung ungefähr wissen, wie man es zu machen hat. Und wenn ein kluger Kopf natürlich auch weit mehr Geschick und Erfahrung in den Drehungen hat als ein dummer, so kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einem- mal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verdutztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, daß sich die Gedanken selbst ge- macht haben, statt auf ihren Urheber zu warten. Dieses verdutzte Gefühl nennen viele Leute heutigentags Intuition, nachdem man es früher auch Inspiration genannt hat, und glauben etwas Über- persönliches darin sehen zu müssen; es ist aber nur etwas Unper- sönliches, nämlich die Affinität und Zusammengehörigkeit der Sa- chen selbst, die in einem Kopf zusammentreffen. Je besser der Kopf, desto weniger ist dabei von ihm wahrzuneh- men. Darum ist das Denken, solange es nicht fertig ist, eigentlich ein ganz jämmerlicher Zustand, ähnlich einer Kolik sämtlicher Gehirnwindungen, und wenn es fertig ist, hat es schon nicht mehr die Form des Gedankens, in der man es erlebt, sondern bereits die des Gedachten, und das ist leider eine unpersönliche, denn der Ge- danke ist dann nach außen gewandt und für die Mitteilung an die Welt hergerichtet. Man kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unper- sönlichen erwischen, und darum ist offenbar das Denken eine sol- che Verlegenheit für die Schriftsteller, daß sie es gern vermeiden. Der Mann ohne Eigenschaften dachte aber nun einmal nach. Man ziehe den Schluß daraus, daß dies wenigstens zum Teil keine persönliche Angelegenheit war. Was ist es dann? Aus- und eingehende Welt; Seiten der Welt, die sich in einem Kopf zu- sammenbilden. Es war ihm durchaus nichts Wichtiges eingefallen; nachdem er sich mit dem Wasser als Beispiel beschäftigt hatte, war ihm nichts eingefallen, als daß Wasser ein Wesen, dreimal so groß wie das Land ist, selbst wenn man bloß das berücksichtigt, was jeder als Wasser erkennt, Fluß, Meer, See, Quelle. Man hat lange geglaubt, es sei verwandt mit der Luft. Der große Newton hat das getan und ist in den meisten anderen seiner Gedanken trotzdem noch wie von heute. Nach der Meinung der Griechen waren die Weit und das Leben aus dem Wasser hervorgegangen. Es war ein Gott; Okeanos. Später erfand man Nixen, Elfen, Undinen, Nym- phen. Man hat Tempel und Orakel an seinen Ufern gegründet. Man hat aber auch die Dome von Hildesheim, Paderborn, Bremen über Quellen gebaut, und siehe, diese Dome stehen doch noch? -115- Und man tauft auch noch mit Wasser? Und gibt es nicht Wasser- freunde und Naturheilapostel, deren Seele so etwas eigenartig grabhaft Gesundes hat? Da war also in der Welt eine Stelle wie ein verwischter Punkt oder niedergetietenes Gras. Und natürlich hatte der Mann ohne Eigenschaften auch das neuzeitliche Wissen irgendwo im Bewußtsein, ob er daran gerade dachte oder nicht. Und da ist nun Wasser eine farblose, nur in dicken Schichten blaue, geruch- und geschmacklose Flüssigkeit, was man so oft in der Schule aufgesagt hat, daß man es nie wieder vergessen kann, obgleich physiologisch auch Bakterien, Pflanzenstoffe, Luft, Eisen, schwefelsaurer und doppeltkohlensaurer Kalk dazugehören und das Urbild aller Flüssigkeiten physikalisch im Grunde gar keine Flüssigkeit, sondern je nachdem ein fester Körper, eine Flüssig- keit oder ein Gas ist. Schließlich löst sich das Ganze in Systeme von Formeln auf, die untereinander irgendwie zusammenhängen, und es gibt in der weiten Welt nur einige Dutzend Menschen, die selbst von einem so einfachen Ding, wie es Wasser ist, das glei- che denken; alle anderen reden davon in Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher irgendwo zu Hause sind. Man muß also sagen, daß ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewissermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät! Und nun erinnerte sich Ulrich auch, daß er alles das wirklich Ciarisse erzählt hatte, und sie war ungebildet wie ein kleines Tier, aber ungeachtet allen Aberglaubens, aus dem sie bestand, fühlte man undeutlich eine Einheit mit ihr. Es gab ihm einen Stich wie eine warme Nadel. Er ärgerte sich. Die bekannte, von den Ärzten entdeckte Fähigkeit der Gedan- ken, tief wuchernden, krankhaft verfilzten Hader, der aus dumpfen Bezirken des Ich entsteht, aufzulösen und zu zerstreuen, beruht wahrscheinlich auf nichts anderem als ihrer sozialen und außen- weltlichen, das Einzelgeschöpf mit anderen Menschen und Dingen verknüpfenden Wesensart; aber leider scheint das» was ihnen ihre Heilkraft gibt, das gleiche zu sein, was ihre persönliche Erlebnis- haftigkeit vermindert. Die beiläufige Erwähnung eines Haares auf einer Nase wiegt mehr als der bedeutendste Gedanke, und Taten, Gefühle und Empfindungen vermitteln bei ihrer Wieder- holung den Eindruck, einem Vorgang, einem mehr oder weniger großen persönlichen Geschehnis beigewohnt zu haben, mögen sie noch so gewöhnlich und unpersönlich sein. »Dumm,« dachte Ulrich »aber es ist so.« Er erinnerte sich an jenen dumm-tiefen, erregenden, unmittelbar das Ich berührenden Eindruck, den man hat, wenn man an seiner Haut riecht. Er stand auf und zog die Vorhänge seines Fensters beiseite. -116- Die Rinde der Bäume war noch vom Morgen feucht. Draußen auf der Straße lag veilchenblauer Benzindunst. Die Sonne schien hinein, und die Menschen bewegten sich lebhaft. Es war ein Asphaltfrühling, ein jahreszeitenloser Frühlingstag im Herbst, wie ihn die Städte hervorzaubern. 29 Erklärung und Unterbrechungen eines normalen Bewußtseinszustandes Ulrich hatte mit Bonadea ein Zeichen verabredet, daß er allein zu Hause sei. Er war immer allein, aber er gab das Zeichen nicht. Er mußte schon lange gewärtig sein, daß Bonadea ungerufen mit Hut und Schleier eintrete. Denn Bonadea war über die Maßen eifersüchtig. Und wenn sie einen Mann aufsuchte — und sei es auch nur, um ihm zu sagen, daß sie ihn verachte, — kam sie immer voll innerer Schwäche an, denn die Eindrücke des Wegs und die Blicke der Männer, denen sie begegnete, schaukelten in ihr wie leichte Seekrankheit. Wenn der Mann dies aber erriet und geraden Wegs auf sie zusteuerte, obgleich er sich so lange Zeit lieblos nicht um sie gekümmert hatte, so war sie verletzt, zankte mit ihm, schob mit tadelnden Bemerkungen hinaus, was sie selbst kaum noch erwar- ten konnte, und hatte etwas von einer durch die Flügel geschos- senen Ente, die ins Meer der Liebe gefallen ist und sich durch Schwimmen retten will. Und mit einemmal saß also Bonadea wirklich hier, weinte und fühlte sich mißbraucht. In solchen Augenblicken, wo sie sich über ihren Liebhaber är- gerte, bat sie ihrem Gatten leidenschaftlich ihre Fehltritte ab. Nach einer guten alten Regel der untreuen Frauen, die sie anwenden, damit sie sich nicht durch ein unbedachtes Wort verraten können, hatte sie ihm von dem interessanten Gelehrten erzählt, den sie manchmal in der Familie einer Freundin treffe, aber nicht einlade, weil er gesellschaftlich zu verwöhnt sei, um aus eigenem in ihr Haus zu kommen, und sie sich nicht genug aus ihm mache, um ihn trotzdem aufzufordern. Die halbe Wahrheit, die darin lag, er- leichterte ihr das Lügen, und die andere Hälfte nahm sie ihren Liebhabern übel — Was solle ihr Mann denken, fragte sie, w*nn sie nun mit einemmal den Verkehr mit der vorgeschobenen Freundin wieder einschränke?! Wie solle sie ihm solche Schwan- kungen der Sympathie verständlich machen?! Sie schätze die Wahrheit hoch, weil sie «ille Ideale hochschätze, und Ulrich ent- -117- ehre sie, indem er sie zwinge, weiter davon abzuweichen als nötig! Sie machte ihm einen leidenschaftlichen Auftritt, und als er vor- bei war, stürzten Vorwurfe, Beteuerungen, Küsse in das dadurch entstandene Vakuum. Als auch die vorbei waren, war nichts ge- schehn; zurückquellendes Tagesgerede füllte die Leere aus, und die Zeit setzte Bläschen an wie ein Glas schalen Wassers. »Wie viel schöner ist sie, wenn sie wild wird,« überlegte Ulrich »und wie mechanisch hat sich dann wieder alles vollzogen « Ihr Anblick hatte ihn ergriffen und zu Zärtlichkeiten verführt; jetzt, nachdem es geschehen war, fühlte er wieder, wie wenig es ihn anging. Das unglaublich Schnelle solcher Veränderungen, die einen gesunden Menschen in einen schäumenden Narren verwandeln, wurde überaus deutlich daran. Es kam ihm aber vor, daß diese Liebesverwandlung des Bewußtseins nur ein besonderer Fall von etwas weit Allgemeinerem sei; denn auch ein Theaterabend, ein Konzert, ein Gottesdienst, alle Äußerungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelöste Inseln eines zweiten Bewußtseins- zustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben wird. »Vor kurzem habe ich doch noch gearbeitet,« dachte er »und vor- her war ich auf der Straße und habe Papier gekauft. Ich grüßte einen Herrn, den ich aus der Physikalischen Gesellschaft kenne. Ich habe mit ihm vor kurzer Zeit eine ernste Aussprache gehabt. Und jetzt, wenn Bonadea sich etwas beeilen wollte, könnte ich in den Büchern dort, die ich durch den Türspalt sehe, etwas nach- schlagen. Zwischendurch sind wir aber durch eine Wolke des Irr- sinns geflogen, und nicht weniger unheimlich ist es, wie sich jetzt die soliden Erlebnisse über dieser verschwindenden Lücke wieder schließen und sich in ihrer Zähigkeit zeigen.« Aber Bonadea beeilte sich nicht, und Ulrich mußte an etwas an- deres denken. Sein Jugendfreund Walter, dieser etwas wunderlich gewordene Gatte der kleinen Ciarisse, hatte einmal von ihm be- hauptet: »Ulrich tut mit der größten Energie immer nur das, was er nicht für notwendig hält!« Es fiel ihm gerade in diesem Augen- blick ein; »das könnte man heute von uns allen sagen« dachte er. Er erinnerte sich recht gut: Ein Holzbalkon lief um das Sommer- haus. Ulrich war Gast von Clarissens Eltern; es war wenige Tage vor der Hochzeit, und Walter war auf ihn eifersüchtig. Walter konnte wundervoll eifersüchtig sein. Ulrich stand außen im Son- nenschein, als Ciarisse und Walter das hinter dem Balkon liegende Zimmer betraten. Er belauschte sie, ohne sich zu verstecken. Übri- gens erinnerte er sich heute nur noch an jenen einen Satz. Und dann an das Bild; die Schattentiefe des Zimmers hing wie ein faltiger, wenig geöffneter Beutel an der grellen Besonntheit der -118- Außenmauer. In den Falten dieses Beutels erschienen Walter und Ciarisse; Walters Gesicht war schmerzlich in die Länge gezogen und sah aus, als ob es lange, gelbe Zähne hätte. Man könnte auch sagen, ein Paar langer, gelber Zähne lag in einem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Kästchen, und diese zwei Menschen standen geisternd dabei. Die Eifersucht war natürlich Unsinn; Ulrich hatte keine Lust auf Frauen seiner Freunde. Aber Walter hatte immer eine ganz besondere Fähigkeit besessen, heftig zu erleben. Er kam nie zu dem, was er wollte, weil er so viel empfand. Er schien einen sehr melodischen Schallverstärker für das kleine Glück und Un- glück in sich zu tragen. Er gab stets kleine Gefühlsmünze in Gold und Silber aus, während Ulrich mehr im großen operierte, mit Ge- dankenschecks sozusagen, auf denen gewaltige Ziffern standen; aber schließlich war das nur Papier. Wenn Ulrich sich Walter recht bezeichnend vorstellen wollte, lag er an einem Waldrand. Er hatte dann kurze Hosen an und merkwürdigerweise schwarze Strümpfe. Er hatte nicht die Beine eines Mannes, weder die kräftig muskulösen noch die dürr sehnigen, sondern die eines Mädchens; eines nicht sehr schönen Mädchens, mit sanften unschönen Beinen. Die Hände unter den Kopf gelegt, schaute er hinaus in die Land- schaft, und der Himmel wußte, daß man ihn dann störte. Ulrich erinnerte sich nicht, Walter bei einer bestimmten Gelegenheit, die sich einprägte, so gesehen zu haben; dieses Bild prägte sich viel- mehr heraus, wie ein zusammenschließendes Siegel, nach andert- halb Jahrzehnten. Und von der Erinnerung, daß Walter damals auf ihn eifersüchtig gewesen sei, ging eine sehr angenehme Er- regung aus. Alles das hatte sich eben zu einer Zeit ereignet, wo man noch Freude an sich hatte. Und Ulrich dachte: »Ich war jetzt schon einigemale bei ihnen, ohne daß Walter meine Besuche er- widert hat. Aber ich könnte trotzdem heute abend wieder hinaus- fahren; was braucht mich das zu kümmern!« Er nahm sich vor, wenn Bonadea endlich mit dem Ankleiden fertig sein werde, ihnen Nachricht zu schicken; in Bonadeas Gegen- wart war so etwas nicht ratsam, wegen des langweiligen Kreuz- verhörs, das unweigerlich folgte. Und da Gedanken schnell sind und Bonadea noch lange nicht fertig war, fiel ihm eben noch etwas ein. Diesmal war es eine kleine Theorie; sie war einfach, einleuchtend und vertrieb ihm die Zeit. »Ein junger Mensch, wenn er geistig bewegt ist,« sagte Ulrich zu sich, und meinte damit wahrscheinlich noch seinen Jugendfreund Walter, »sendet unaufhörlich Ideen in allen Richtungen aus. Aber nur das, was auf die Resonanz der Umgebung trifft, strahlt wie- der auf ihn zurück und verdichtet sich, während alle anderen Aus- schickungen sich im Raum verstreuen und verlorengehn!« Ulrich -119- nahm ohne weiteres an, daß ein Mensch, der Geist hat, jede Art davon besitzt, so daß Geist ursprünglicher wäre als Eigenschaften; er selbst war ein Mensch mit vielen Gegensätzen und stellte sich vor, daß alle Eigenschaften, die in der Menschheit je zum Aus- druck gekommen sind, ziemlich nah beieinander in dem Geist jedes Menschen ruhen, wenn er überhaupt Geist hat. Das mag nicht ganz richtig sein, aber was wir vom Entstehen des Guten wie des Bösen wissen, stimmt noch am ehesten dazu, daß jeder zwar seine innere Größennummer hat, aber in dieser Größe die verschiedensten Kleider ausfüllen kann, wenn sie ihm das Schicksal bereit hält. Und so kam Ulrich auch das, was er soeben gedacht hatte, nicht ganz bedeutungslos vor. Denn wenn sich im Lauf der Zeit die gewöhnlichen und unpersönlichen Einfälle ganz von selbst ver- stärken und die ungewöhnlichen verlieren, so daß fast jeder mit der Sicherheit, die ein mechanischer Zusammenhang hat, immer mittelmäßiger wird, so erklärt das ja, warum trotz der tausend- fältigen Möglichkeiten, die wir vor uns hätten, der gewöhnliche Mensch nun einmal der gewöhnliche ist! Und es erklärt auch, daß es selbst unter den bevorzugten Menschen, die sich durchsetzen und zu Anerkennung kommen, eine gewisse Mischung gibt, die unge- fähr 51% Tiefe und 49% Seichtheit hat und den meisten Erfolg findet, und das erschien Ulrich schon seit langem so verwickelt, sinnlos und unerträglich traurig, daß er gerne weiter darüber nachgedacht haben würde. Er wurde davon gestört, daß Bonadea noch immer kein Zeichen ihres Fertigseins gab; vorsichtig durch die Türe spähend, gewahrte er, daß sie sich im Ankleiden unterbrochen hatte. Sie fand Zer- streutheit, wenn es sich um die letzten Tropfen der Köstlichkeit des Beisammenseins handelte, unfein; gekränkt von seinem Schwei- gen, wartete sie ab, was er tun werde. Sie hatte ein Buch genom- men, und glücklicherweise enthielt es schöne Abbildungen aus der Geschichte der Kunst. Ulrich fühlte sich, als er wieder seine Betrachtungen auf nahm, durch dieses Warten gereizt und geriet in eine unbestimmte Ungeduld. 30 Ulrich hört Stimmen Und plötzlich zogen sich seine Gedanken zusammen, und als ob tr durch einen entstandenen Riß blickte, sah er Christian Moos- brugger, den Zimmermann, und seine Richter. Quälend lächerlich für einen Menschen, der nicht so denkt, sprach -120- der Richter: »Warum haben Sie sich die blutigen Hände ab- gewischt? — Warum haben Sie das Messer weggeworfen? — War- um haben Sie nach der Tat frische Kleider und Wäsche angezogen? — Weil es Sonntag war? Nicht, weil sie blutig waren? — Weshalb sind Sie am Abend darauf zu einer Tanzunterhaltung gegangen? Die Tat hat Sie also nicht gehindert, das zu tun? Haben Sie über- haupt keine Reue empfunden?« In Moosbrugger erwacht ein Flackern: alte Zuchthauserfahrung, man müsse Reue heucheln. Das Flackern verzieht Moosbruggers Mund, und er spricht: »Gewiß!« »Bei der Polizei haben Sie aber gesagt: Ich empfinde keine Reue, sondern nur Haß und Wut bis zum Paroxysmus!« hakt der Richter sofort ein. »Möglich,« sagt Moosbrugger, wieder fest werdend und vor- nehm. »Möglich, daß ich damals keine anderen Empfindungen hatte.« »Sie sind ein großer, starker Mann,« fällt der Staatsanwalt ein »wie konnten Sie sich vor der Hedwig fürchten!« »Herr Gerichtsrat,« antwortet Moosbrugger lächelnd »sie war schmeichelhaft geworden. Ich stellte sie mir noch grausamer vor, als ich derlei Weiber sonst einschätze. Ich sehe wohl kräftig aus, bin es auch — « »Nun also,« brummt der Vorsitzende, im Akt blätternd. »Aber in gewissen Situationen,« sagt Moosbrugger laut »bin ich ängstlich und sogar feig.« Die Augen des Vorsitzenden schnellen aus dem Akt; wie zwei Vögel einen Ast, verlassen sie den Satz, auf dem sie soeben ge- sessen haben. »Damals, als Sie mit Ihren Kollegen auf dem Bau Streit bekommen haben, sind Sie aber gar nicht feig gewesen!« sagt der Vorsitzende. »Den einen haben Sie zwei Stock tief hin- unter geworfen und die andern mit dem Messer — « »Herr Präsident,« ruft Moosbrugger mit gefährlicher Stimme »ich stehe heute noch auf dem Standpunkt — « Der Vorsitzende winkt ab. »Unrecht,« sagt Moosbrugger »das muß als Grundlage meiner Brutalität dienen. Ich bin als naiver Mensch vor Gericht gestanden und habe gedacht, die Herren Richter werden ohnehin alles wis- sen. Aber man hat mich enttäuscht!« Das Gesicht des Richters steckt längst wieder im Akt. Der Staatsanwalt lächelt und sagt freundlich: »Aber die Hed- wig war doch ein ganz harmloses Mädchen!« »Mir erschien sie nicht so!« erwidert Moosbrugger, immer noch aufgebracht. »Mir scheint,« schließt der Vorsitzende mit Nachdruck »daß Sie immer anderen die Schuld zu geben wissen!« -121- »Also warum haben Sie auf sie losgestochen?« fängt der Staats- anwalt freundlich von vorne an. 31 Wem gibst du recht? Das war aus der Verhandlung, der Ulrich beigewohnt hatte, oder bloß aus den Berichten, die er gelesen hatte ' } Er cnnnerte sich jetzt so lebhaft, als würde er diese Stimme hören. Er hatte noch nie in seinem Leben »Stimmen gehört«; bei Gott, so war er nicht. Aber wenn man sie hört, so senkt sich das etwa so herab wie die Ruhe eines Schneefalls. Mit einemmal stehen Wände da, von der Erde bis in den Himmel; wo früher Luft gewesen ist, schrei- tet man durchweiche dickeMauern, und alle Stimmen, die imKäfig der Luft von einer Stelle zur anderen gehüpft sind, gehen nun frei in den bis ins innerste zusammengewachsenen weißen Wänden. Er war wohl überreizt von der Arbeit und Langweile, da kommt so etwas manchmal vor; aber er fand es gar nicht übel, Stimmen zu hören. Und plötzlich sagte er halblaut: »Man hat eine zweite Heimat, in der alles, was man tut, unschuldig ist.« Bonadea nestelte an einer Schnur. Sie war inzwischen in sein Zimmer hereingekommen. Das Gespräch mißfiel ihr, sie fand es undelikat; den Namen des Mädchenmörders, von dem man so viel in den Zeitungen gelesen hatte, hatte sie längst wieder vergessen, und er näherte sich nur widerstrebend ihrer Erinnerung, als Ulrich von ihm zu sprechen anhob. »Aber wenn Moosbrugger,« sagte er nach einer Weile »diesen beunruhigenden Eindruck von Unschuld hervorrufen kann, so kann das doch erst recht diese arme, verwahrloste, frierende Person mit den Mausaugen unter dem Kopftuch, diese Hedwig, die um Auf- enthalt in seinem Zimmer gebettelt hat und deshalb von ihm ge- tötet worden ist?« »Laß doch!« schlug Bonadea vor und hob die weißen Schultern. Denn als Ulrich dem Gespräch diese Wendung gab, war es gerade in dem boshaft gewählten Augenblick geschehen, wo die halb hochgezogenen Kleider seiner gekränkten und nach Versöhnung durstenden Freundin, nachdem sie ins Zimmer gekommen war, von neuem am Teppich den kleinen, reizend mythologischen Schaumkrater bildeten, aus dem Aphrodite hervorsteigt. Bonadea war darum bereit, Moosbrugger zu verabscheuen und über sein Opfer mit einem flüchtigen Schauder hinwegzukommen. Aber Ulrich ließ es nicht zu und malte ihr kräftig das Schicksal aus, das -122- Moosbrugger bevorstand. »Zwei Männer werden ihm die Schlinge um den Hals legen, ohne daß sie im geringsten böse Gefühle ge- gen ihn hegen, sondern bloß weil sie dafür bezahlt sind. Vielleicht hundert Menschen werden zusehen, teils weil es ihr Dienst ver- langt, teils weil ein jeder gern einmal im Leben eine Hinrichtung gesehen haben will. Ein feierlicher Herr in Zylinder, Frack und schwarzen Handschuhen zieht die Schlinge an, und im gleichen Augenblick hängen sich seine zwei Gehilfen an die zwei Beine Moosbruggers, damit das Genick bricht. Dann legt der Herr mit dem schwarzen Handschuh die Hand auf Moosbruggers Herz und prüft mit der sorgenden Miene eines Arztes, ob es noch lebt; denn wenn es noch lebt, wird das Ganze etwas ungeduldiger und weni- ger feierlich noch einmal wiederholt. Bist du nun eigentlich für Moosbrugger oder gegen ihn?« fragte Ulrich. Bonadea hatte langsam und schmerzlich wie ein zur Unzeit Ge- weckter »die Stimmung« verloren, — so pflegte sie ihre Anfälle von Ehebruch zu nennen. Jetzt mußte sie sich setzen, nachdem ihre Hände eine Weile lang unentschlossen die sinkenden Kleider und das geöffnete Mieder gehalten hatten. Wie jede Frau in ähnlicher Lage hatte sie das feste Vertrauen in eine öffentliche Ordnung, die so gerecht sei, daß man, ohne an sie denken zu müssen, seinen privaten Angelegenheiten nachgehen könne; nun, wo sie an das Gegenteil gemahnt wurde, stand aber rasch die mitleidige Partei- nahme für Moosbrugger, das Opfer, in ihr fest, mit Ausschaltung jedes Gedankens an Moosbrugger, den Schuldigen. »Du bist also,« behauptete Ulrich »jedesmal für das Opfer und gegen die Tat.« Bonadea äußerte das naheliegende Gefühl, daß ein solches Ge- spräch in einer solchen Lage ungehörig sei. »Aber wenn sich dein Urteil so konsequent gegen die Tat rich- tet,« antwortete Ulrich, statt sich sofort zu entschuldigen, »wie willst du dann deine Ehebrüche rechtfertigen, Bonadea?!« Besonders die Mehrzahl war undelikat! Bonadea schwieg, setzte sich mit verächtlicher Miene in einen der weichen Armstühle undsah gekränkt zu der Schnittlinie von Wand und Zimmerdecke empor. 32 Die vergessene, überaus wichtige Geschichte mit der Gattin eines Majors Es ist nicht angezeigt, sich einem aufgelegten Narren verwandt zu fühlen, und Ulrich tat das auch nicht. Aber warum behaup- -123- tete der eine Sachverständige, Moosbrugger sei ein Narr, und der andere, er sei keiner? Woher hatten die Berichterstatter die flinke Sachlichkeit genommen, mit der sie die Arbeit seines Mes- sers beschrieben? Und durch welche Eigenschaften erregte Moos- brugger jenes Aufsehen und Gruseln, das für die Hälfte der zwei Millionen Menschen, die in dieser Stadt wohnten, ungefähr so viel war wie ein Streit in der Familie oder eine zurückgehende Verlo- bung; ungemein persönlich aufregend, sonst ruhende Gebiete der Seele packend, während sein Fall in den Provinzstädten schon eine gleichgültigere Neuigkeit bedeutete und in Berlin oder Breslau gar nichts mehr, wo man von Zeit zu Zeit seine eigenen, die Moos- bruggers der eigenen Familie hatte? Dieses fürchterliche Spiel der Gesellschaft mit ihren Opfern beschäftigte Ulrich. Er fühlte es in sich selbst wiederholt. Kein Wille zuckte in ihm, weder um Moos- brugger zu befrein, noch um der Gerechtigkeit beizuspringen, und das Gefühl sträubte sich wie das Haar einer Katze* Moosbrugger ging ihn durch etwas Unbekanntes näher an als sein eigenes Le- ben, das er führte; er ergriff ihn wie ein dunkles Gedicht, worin alles ein wenig verzerrt und verschoben ist und einen zerstückt in der Tiefe des Gemüts treibenden Sinn offenbart. »Schauerromantik!« warf er sich ein. Das Schaurige oder Un- erlaubte in der zugelassenen Gestalt von Träumen und Neurosen zu bewundern, schien ihm recht zu den Menschen der Bürgerzeit zu passen. »Entweder oder!« dachte er. »Entweder du gefällst mir oder nicht! Entweder ich verteidige dich in all deiner Scheusälig- keit, oder ich sollte mich ins Gesicht schlagen, weil ich mit ihr spiele!« Und schließlich wäre sogar auch ein kühles, aber tatkräf- tiges Bedauern wohl am Platz; es ließe sich heute schon eine Menge tun, um solche Vorkommnisse und Gestalten zu verhüten, wenn die Gesellschaft nur die Hälfte der moralischen Anstrengungen selbst aufwenden wollte, die sie von solchen Opfern verlangt. Aber dann ergab sich auch noch eine ganz andere Seite, von der sich die Angelegenheit betrachten ließ, und merkwürdige Erinnerungen stiegen in Ulrich auf. Niemals ist unser Urteil über t i ie Tat ein Urteil über jene Seite der Tat, die Gott lohnt oder straft: das hat, sonderbar genug, Luther gesagt. Wahrscheinlich unter dem Einfluß eines der Mystiker, mit denen er eine Zeitlang befreundet war. Sicher hätte es auch man- cher andere Gläubige sagen können. Sie waren, im bürgerlichen Sinn, alle Immoralisten. Sie unterschieden zwischen den Sünden und der Seele, die trotz der Sünden unbefleckt bleiben kann, fast ähnlich wie Machiavell zwischen dem Zweck und den Mitteln un- terscheidet. Das »menschliche Herz« war ihnen »genommen«. »Auch in Christus war ein äußerer und ein innerer Mensch, und alles, -124- was er in Bezug auf äußere Dinge tat, tat er vom äußeren Men- schen aus, und stand dabei der innere Mensch in unbeweglicher Abgeschiedenheit« sagt Eckehart. Solche Heilige und Gläubige wären am Ende imstande gewesen, sogar Moosbrugger freizu- sprechen!? Wohl ist die Menschheit fortgeschritten seither; aber wenn sie Moosbrugger auch töten wird, hat sie doch noch die Schwäche, jene Männer zu verehren, die ihn, wer weiß, freige- sprochen haben würden. Und nun kam Ulrich ein Satz in Erinnerung, dem eine Welle von Unbehagen voranging. Dieser Satz lautete: »Die Seele des Sodomiten könnte mitten durch die Menge gehn, ohne etwas zu ahnen, und in ihren Augen läge das durchsichtige Lächeln eines Kindes; denn alles hängt von einem unsichtbaren Prinzip ab«. Das war nicht viel anders als die ersten Sätze, aber es strömte in sei- ner kleinen Ubertriebenheit den süß schwächlichen Geruch der Verdorbenheit aus. Und wie es sich zeigte, gehörte ein Raum zu diesem Satz, ein Zimmer mit gelben französischen Broschüren auf den Tischen, mit Vorhängen aus geknüpften Glasstäbchen anstelle der Türen, — und ein Gefühl entstand in der Brust, wie wenn eine Hand in eine geöffnete Hühnerleiche greift, um das Herz herauszuziehn: Denn diesen Satz hatte Diotima bei seinem Besuch von sich gegeben. Er stammte noch dazu von einem zeitgenössischen Schriftsteller, den Ulrich in jungen Jahren geliebt, aber seither für einen Salonphilosophen halten gelernt hatte, und Sätze wie dieser schmecken so schlecht wie Brot, auf das Parfüm ausgegossen wurde, so daß man jahrzehntelang mit alledem nichts mehr zu tun haben mag. Aber so lebhaft auch die Abneigung war, die dadurch in Ulrich erregt wurde, kam es ihm in diesem Augenblick doch schmählich vor, daß er sich sein Leben lang hatte abhalten lassen, zu den an- deren, den echten Sätzen jener geheimnisvollen Sprache zurückzu- kehren. Denn er hatte ein besonderes, ein unmittelbares Verständ- nis für sie, eher noch eine Vertrautheit zu nennen, die das Ver- stehen übersprang; doch ohne daß er sich je hätte entschließen können, sich ganz zu ihnen zu bekennen. Sie lagen — solche Sätze, die ihn mit einem Laut von Geschwisterlichkeit ansprachen; mit einer weich dunklen Innerlichkeit, die entgegengesetzt war dem befehlshaberischen Ton der mathematischen und wissenschaftlichen Sprache, ohne daß man aber sagen konnte, worin sie bestehe — wie Inseln zwischen seiner Beschäftigung, ohne Zusammenhang und selten aufgesucht; überblickte er sie aber, soweit er sie ken- nengelernt hatte, so kam es ihm vor, daß man ihren Zusammen- hang spürte, wie wenn diese Inseln, nur wenig voneinander ge- trennt, einer Küste vorgelagert wären, die sich hinter ihnen ver- -125- barg, oder die Reste eines Festlands darstellten, das vor Urzeiten zugrunde gegangen ist. Er fühlte das Weiche von Meer, Nebel und niedrigen schwarzen Landrücken, die in gelbgrauem Licht schlafen. Er erinnerte sich an eine kleine Seereise, eine Flucht nach dem Muster »Reisen Sie«, »Bringen Sie sich auf andere Gedanken«, und wußte genau, welches sonderbare, lächerlich verzauberte Er- lebnis sich durch seine abschreckende Kraft ein für allemal vor alle ähnlichen geschoben hatte. Einen Augenblick lang klopfte das Herz eines Zwanzigjährigen in seiner Brust, deren behaarte Haut sich mit den Jahren seither verdickt und vergröbert hatte. Das Klopfen eines zwanzigjährigen Herzens in seiner zweiund- dreißigjährigen Brust kam ihm vor wie dei unsittliche Kuß, den ein Jüngling einem Mann gibt Trotzdem wich er diesmal der Erinnerung nicht aus. Es war die Erinnerung an eine sonderbar ausgegangene Leidenschaft, die er als Zwanzigjähriger für eine Frau empfunden hatte, die an Jahren und vornehmlich nach dem Grad ihrer häuslichen Abgerührtheit beträchtlich älter war als er. Bezeichnenderweise erinnerte er sich nur ungenau an ihr Aus- sehen; eine steife Photographie und das Gedächtnis der Stunden, wo er allein war und an sie dachte, nahm die Stelle der unmittel- baren Erinnerungen an Gesicht, Kleider, Bewegungen und Stimme dieser Frau ein. Ihre Welt war ihm inzwischen so fremd gewor- den, daß ihn die Aussage, sie sei die Frau eines Majors gewesen, ergötzlich unglaubhaft anmutete. »Nun wird sie wohl schon längst eine Frau Oberst außer Dienst sein« dachte er. Es war im Regi- ment erzählt worden, daß sie eine ausgebildete Künstlerin sei, eine Klaviervirtuosin, davon aber auf Wunsch ihrer Familie nie öffentlich Gebrauch gemacht habe, und später wurde dies durch ihre Heirat ohnehin unmöglich. Wirklich spielte sie bei Regiments- festen sehr schön Klavier, mit dem Strahlenglanz einer gut ver- goldeten Sonne, die über Schluchten des Gemüts schwebt, und Ul- rich hatte sich von Beginn an weniger in die sinnliche Anwesen- heit dieser Frau verliebt als in ihren Begriff. Der Leutnant, der damals seinen Namen trug, war nicht schüchtern; sein Blick hatte sich schon an kleinem Weibszeug geübt und sogar bei mancher ehrbaren Frau den leicht ausgetretenen Diebspfad erspäht, der zu ihr führte. Aber die »große Liebe«, das war für diese zwanzigjäh- rigen Offiziere, wenn sie überhaupt Verlangen danach hatten, et- was anderes, das war ein Begriff; er lag außerhalb der Reich- weite ihrer Unternehmungen und war so arm an Erfahrungsinhalt und eben darum auch so blendend leer, wie es nur ganz große Be- griffe sind. Und als Ulrich zum erstenmal in seinem Leben die Möglichkeit in sich sah, diesen Begriff anzuwenden, mußte es dar- -126- um auch geschehen; der Frau Major fiel hierbei keine andere Rolle zu wie die des letzten Anlasses, der einer Krankheit zum Aus- bruch verhilft Ulrich wurde liebeskrank. Und da echte Liebes- krankheit kein Verlangen nach Besitz ist, sondern ein sanftes Sich- entschleiern der Welt, um deswillen man gern auf den Besitz der Geliebten verzichtet, erklärte der Leutnant der Frau Major die Welt auf eine so ungewohnte und ausdauernde Weise, wie sie es noch nicht gehört hatte. Gestirne, Bakterien, Balzac und Nietzsche wirbelten in einem Trichter von Gedanken, dessen Spitze sie mit wachsender Deutlichkeit auf gewisse, nach der damaligen Zeit- mode dem Anstand verwehrte Unterschiede gerichtet fühlte, die ihren Leib von dem Leib des Leutnants trennten. Sie wurde ver- wirrt durch diese eindringliche Beziehung der Liebe zu Fragen, die ihres Dafürhaltens bis dahin noch nie mit Liebe zu tun gehabt hatten; auf einem Spazierritt überließ sie Ulrich, als sie neben ihren Pferden gingen, einen Augenblick ihre Hand und bemerkte mit Schrecken, daß die Hand wie ohnmächtig in der seinen liegen blieb In der nächsten Sekunde flammte von ihren Handgelenken bis zu den Knien ein Feuer, und ein Blitz fällte die beiden Men- schen, so daß sie fast auf den Wegrain gestürzt wären, in dessen Moos sie nun zu sitzen kamen, sich leidenschaftlich küßten und schließlich verlegen wurden, weil die Liebe so groß und unge- wöhnlich war, daß ihnen zu ihrer Überraschung nichts anderes zu sprechen und zu tun einfiel, als man bei solchen Umarmungen ge- wöhnt ist. Die Pferde, die ungeduldig wurden, befreiten endlich die beiden Liebenden aus dieser Lage. Die Liebe der Frau Major und des zu jungen Leutnants blieb auch in ihrem ganzen Ablauf kurz und unwirklich. Sie staunten beide, sie preßten sich noch einigemal aneinander, sie fühlten beide, daß etwas nicht in Ordnung sei und sie auch dann nicht bei ihren Umarmungen Leib an Leib kommen lassen würde, wenn sie sich aller Hindernisse der Kleidung und Sitte entledigten. Die Frau Major wollte sich einer Leidenschaft nicht verweigern, über die sie kein Urteil zu haben fühlte, aber heimlich pochten Vorwürfe in ihr, wegen ihres Gatten und des Altersunterschieds, und als ihr Ulrich mit dürftig erfundenen Begründungen eines Tages mit- teilte, daß er einen langen Urlaub antreten müsse, atmete die Offi- ziersfrau unter ihren Tränen auf. Ulrich aber hatte damals schon keinen anderen Wunsch mehr, als vor lauter Liebe so rasch wie möglich aus der Nähe des Ursprungs dieser Liebe zu kommen. Er reiste blindlings darauflos, bis eine Küste dem Schienenweg ein Ende machte, ließ sich noch von einem Boot auf die nächste Insel übersetzen, die ei sah, und hier, an einem unbekannten Zufalls- ort blieb er, notdürftig behaust und verpflegt, und schrieb gleich -127- in der ersten Nacht den ersten einer Reihe langer Briefe an die Geliebte, die er niemals absandte. Diese nachtstillen Briefe, die sein Denken auch bei Tag erfüll- ten, hatte er später verloren; und das war wohl auch ihre Bestim- mung. Er hatte anfangs darin noch viel von seiner Liebe und aller- hand durch sie eingegebenen Gedanken geschrieben, aber bald wurde das immer mehr durch die Landschaft verdrängt. Die Sonne hob ihn morgens aus dem Schlaf, und wenn die Fischer auf dem Wasser, die Weiber und Kinder bei den Häusern waren, so schie- nen er und ein die Büsche und Steinrücken zwischen den beiden kleinen Ortschaften der Insel abweidender Esel die einzigen höhe- ren Lebewesen zu sein, die es auf diesem abenteuerlich vorgescho- benen Stück Erde gab. Er tat es seinem Gefährten gleich und stieg auf einen der Steinriegel oder er legte sich am Inselrand zwischen die Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel. Das ist nicht an- maßend gesagt, denn der Größenunterschied verlor sich, so wie sich übrigens auch der Unterschied zwischen Geist, tierischer und toter Natur in solchem Beisammensein verlor und jede Art Un- terschied zwischen den Dingen geringer wurde. Um das ganz nüch- tern auszudrücken, diese Unterschiede werden sich wohl weder verloren noch verringert haben, aber die Bedeutung fiel von ihnen ab, man war »keinen Scheidungen des Menschentums mehr Unter- tan«, genau so wie es die von der Mystik der Liebe ergriffenen Gottgläubigen beschrieben haben, von denen der junge Reiterleut- nant damals nicht das geringste wußte. Er dachte auch nicht über diese Erscheinungen nach — wie man sonst, einem Jäger auf der Wildspur gleich, einer Beobachtung nachspürt und hinter ihr drein- denkt — , ja er nahm sie wohl nicht einmal wahr, sondern er nahm sie in sich. Er versank in der Landschaft, obgleich das ebensogut ein unaussprechliches Getragenwerden war, und wenn die Welt seine Augen überschritt, so schlug ihr Sinn von innen an ihn in lautlosen Wellen. Er war ins Herz der Welt geraten; von ihm zu der weit entfernten Geliebten war es ebenso weit wie zum näch- sten Baum; Ingefühl verband die Wesen ohne Raum, ähnlich wie im Traum zwei Wesen einander durchschreiten können, ohne sich zu vermischen, und änderte alle ihre Beziehungen. Der Zu- stand hatte aber sonst nichts mit Traum gemeinsam. Er war klar und übervoll von klaren Gedanken; bloß bewegte sich nichts in ihm nach Ursache, Zweck und körperlichem Begehren, sondern alles breitete sich in immer erneuten Kreisen aus, wie wenn ein Strahl ohne Ende in ein Wasserbecken fällt. Und eben das war es, was er auch in seinen Briefen beschrieb, und sonst nichts. Es war eine völlig veränderte Gestalt des Lebens; nicht in den Brenn- punkt der gewöhnlichen Aufmerksamkeit gestellt, von der Schärfe -128- befreit und so gesehen, eher ein wenig zerstreut und verschwom- men war alles, was zu ihr gehörte; aber offenbar wurde es von an- deren Zentren aus wieder mit zarter Sicherheit und Klarheit er- füllt. Denn alle Fragen und Vorkommnisse des Lebens nahmen eine unvergleichliche Milde, Weichheit und Ruhe an und zugleich eine gänzlich veränderte Bedeutung. Lief da zum Beispiel ein Kä- fer an der Hand des Denkenden vorbei, so war das nicht ein Nä- herkommen, Vorbeigehn und Entfernen, und es war nicht Käfer und Mensch, sondern es war ein unbeschreiblich das Herz rühren- des Geschehen, ja nicht einmal ein Geschehen, sondern obgleich es geschah, ein Zustand. Und mit Hilfe solcher stillen Erfahrungen erhielt alles, was sonst das gewöhnliche Leben ausmacht, eine um- stürzende Bedeutung, wo immer Ulrich damit zu tun bekam. Auch seine Liebe zu der Frau Major nahm in diesem Zustand rasch die ihr vorherbestimmte Gestalt an. Er suchte sich manchmal die Frau, an die er unablässig dachte, vorzustellen und sich einzubilden, was sie im gleichen Augenblick tun möge, worin er durch seine genaue Kenntnis ihrer Lebensumstände mächtig unterstützt wurde; aber sowie es gelang und er die Geliebte vor Augen sah, wurde sein so unendlich hellsichtig gewordenes Gefühl blind, und er mußte sich bemühen, ihr Bild rasch wieder auf die selige Gewißheit des Irgendwo-für-ihn-da-seins einer großen Geliebten zu ermäßigen. Es dauerte nicht lange, da war sie ganz zum unpersönlichen Kraft- zentrum, zum versenkten Dynamo seiner Erleuchtungsanlage ge- worden, und er schrieb ihr einen letzten Brief, worin er ihr aus- einandersetzte, daß das große Zu-Liebe-leben eigentlich gar nichts mit Besitz und dem Wunsche Seimein zu tun habe, die aus der Sphäre des Sparens, Aneignens und der Freßsucht stammten. Das war der einzige Brief, den er abschickte, und ungefähr der Höhe- punkt seiner Liebeskrankheit gewesen, auf den bald deren Ende und plötzlicher Abbruch folgte. 33 Bruch mit Bonadea Bonadea hatte sich inzwischen, da sie nicht dauernd gegen die Zimmerdecke schauen konnte, am Diwan auf den Rücken gestreckt, ihr zarter mütterlicher Bauch atmete im weißen Batist unbeengt von Schnürleib und Bunden; sie nannte diese Lage: Nachdenken. Es fuhr ihr durch den Sinn, daß ihr Mann nicht nur Richter, sondern auch Jäger sei und zuweilen mit fun- kelnden Augen vom Raubzeug spreche, welches das Wild verfolge; 9 Musil, Mann — 129 - es schien ihr, daß daraus etwas sowohl zugunsten Moosbruggers wie auch seiner Richter folgen müsse Andererseits wünschte sie aber nicht, ihren Mann von ihrem Geliebten ins Unrecht setzen zu lassen, außer in dem einen Punkt der Liebe; ihr Familiengefühl forderte, den Hausvorstand würdig und geachtet zu sehn. So kam sie zu keinem Entschluß. Und während dieser Gegensatz wie zwei ungestalt ineinander iließende Wolkenzüge ihren Horizont schläf- rig verfinsterte, genoß Ulrich die Freiheit, seinen Gedanken nach- zuhängen. Das hatte nun freilidi etwas lang gedauert, und weil Bonadea nichts eingefallen war, das dei Angelegenheit eine Wen- dung hätte geben können, kehrte ihr Gram darüber, daß Ulrich sie achtlos beleidigt habe, wieder zurück, und die Zeit, die er ver- streichen ließ, ohne es gutzumachen, begann erregend auf ihr zu lasten. »Du findest also, daß ich Unrecht tue, wenn ich dich be- suche?« Diese Frage richtete sie schließlich langsam und betont an ihn, traurig, aber mit gesammeltem Kampfwillen. Ulrich schwieg und zuckte die Achseln; er wußte längst nicht mehr, wovon sie sprach, aber er fand es unmöglich, sie in diesem Augenblick zu ertragen. »Du bist wirklich imstande, mir Vorwürfe zu machen, wegen unserer Leidenschaft??« »An jeder solchen Frage hängen so viel Antworten, wie Bienen in einem Stock sind« antwortete Ulrich »Die ganze seelische Un- ordnung der Menschheit, mit ihren niemals erledigten Fragen, hängt in einer ekelhaften Weise an jeder einzelnen.« Damit sagte er nun freilich nichts anderes, als er an diesem läge schon einige- mal e gedacht hatte; aber Bonadea bezog die seelische Unordnung auf sich und fand, daß dies zuviel sei. Sie hätte gerne die Vor- hänge wieder zugezogen, um auf solche Weise diesen Zwist aus der Welt zu schaffen, aber ebenso gerne hätte sie vor Schmerz geheult. Und sie glaubte mit einemmal zu verstehen, daß Ulrich ihrer überdrüssig geworden sei. Dank ihrer Natur hatte sie bis dahin ihre Geliebten nie anders verloren als in der Art, wie man etwas verlegt und aus den Augen verliert, wenn man selbst von etwas Neuem angezogen wird; oder in jener anderen, daß sie sich ebenso schnell von ihnen getrennt wie mit ihnen vereinigt sah, was bei allem persönlichen Ärger doch etwas von dem Walten einer höheren Kraft hatte. Ihr erstes Gefühl war darum, bei dem ruhi- gen Widerstand Ulrichs, alt geworden zu sein. Ihre hilflose und obszöne Lage, halb entblößt auf einem Diwan allen Beleidigungen preisgegeben zu sein, beschämte sie. Sie richtete sich ohne Besinnen auf und ergriff ihre Kleider. Aber das Raschelnde, Rauschende der seidenen Kelche, in die sie zurückschlüpfte, bewog Ulrich nicht zur Reue. Der stechende Schmerz der Ohnmacht saß über Bonadeas -ISO- Augen. »Er ist roh, er hat mich mit Absicht verletzt!« wiederholte sie sich. »Er rührt sich nicht!« stellte sie fest. Und mit jedem Band, das sie knüpfte, und jedem Haken, den sie schloß, sank sie tiefer in den abgrundschwarzen Brunnen dieses lang vergessenen Kinder- schmerzes, verlassen zu sein. Finsternis zog ringsum auf; Ulrichs Gesicht war wie in letztem Licht zu sehen, hart und roh setzte es sich gegen das Dunkel des Kummers durch. »Wie habe ich dieses Gesicht nur lieben können?!« fragte sich Bonadea; aber zugleich krampfte ihr der Satz: »Auf ewig verloren!« die ganze Brust zu- sammen. Ulrich, der ihren Beschluß, nicht wiederzukehren, ahnend erriet, hinderte ihn nicht. Bonadea strich nun mit kräftiger Bewegung das Haar vor dem Spiegel zurecht, dann setzte sie den Hut auf und band den Schleier. Jetzt war, da der Schleier vor dem Gesicht saß, alles vorbei; das war feierlich wie ein Todesurteil oder wie wenn ein Reisekoffer ins Schloß schnappt. Er sollte sie nicht mehr küs- sen und nicht ahnen, daß er die letzte Gelegenheit, es zu dürfen, versäume! Sie wäre ihm deshalb beinahe vor Mitleid um den Hals gefallen und hätte sich daran ausgeweint. 34 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände Als Ulrich Bonadea hinunterbegleitet hatte und wieder allein war, hatte er keine Lust mehr, weiterzuarbeiten. Er ging auf die Straße hinaus, mit dem Vorsatz, Walter und Ciarisse einen Boten mit einigen Zeilen zu schicken und ihnen seinen Besuch für den Abend anzukündigen. Als er die kleine Halle durchschritt, bemerkte er an der Wand ein Hirschgeweih, das hatte eine ähnliche Bewegung in sich wie Bonadea, Während sie vor dem Spiegel den Schleier gebunden hatte; nur lächelte es nicht verzichtend vor sich hin. Er blickte umher, seine Umgebung betrachtend. Alle diese Oiinien, Kreuzlinien, Geraden, Schwünge und Geflechte, aus denen sich eine Wohnungseinrichtung zusammensetzt und die sich um ihn angehäuft hatten, waren weder Natur noch innere Notwen- digkeit, sondern starrten bis ins Einzelne von barocker Überüppig- keit. Der Strom und Herzschlag, der beständig durch alle Dinge unserer Umgebung fließt, hatte einen Augenblick ausgesetzt. Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit; ich sehe nicht wesent- lich anders aus als das Gesicht eines Lupuskranken, wenn man mich ohne Vorurteil betrachtet, gestand die Schönheit. Im Grunde ge- -181- norte gar nicht viel dazu; ein Firnis war abgefallen, eine Sugge- stion hatte sich gelöst, ein Zug von Gewohnheit, Erwartung und Spannung war abgerissen, ein fließendes, geheimes Gleichgewicht zwischen Gefühl und Welt war eine Sekunde lang beunruhigt wor- den. Alles, was man fühlt und tut, geschieht irgendwie »in der Richtung des Lebens«, und die kleinste Bewegung aus dieser Rich- tung hinaus ist schwer oder erschreckend. Das ist schon genau so, wenn man einfach nur geht: man hebt den Schwerpunkt, schiebt ihn vor und läßt ihn fallen; aber eine Kleinigkeit daran verändert, ein bißchen Scheu vor diesem Sich-in-die-Zukunft-Fallenlassen oder bloß Verwunderung darüber — und man kann nicht mehr auf- recht stehn! Man darf nicht darüber nachdenken. Und Ulrich fiel ein, daß alle Augenblicke, die in seinem Leben etwas Entscheiden- des bedeuteten, ein ähnliches Gefühl hinterlassen hatten wie diesen Er winkte einem Dienstmann und übergab ihm sein Schreiben. Es war ungefähr vier Ufer Nachmittag, und er beschloß, den Weg ganz langsam zu Fuß zurückzulegen. Der Spätfrühling-Herbsttag beseligte ihn. Die Luft gor. Die Gesichter der Menschen hatten etwas von schwimmendem Schaum. Nach der eintönigen Anspan- nung seiner Gedanken in den letzten Tagen, fühlte er sich aus einem Kerker in ein weiches Bad versetzt. Er bemühte sich, freund- lich und nachgiebig zu gehen. In einem gymnastisch durchgebil- deten Körper liegt soviel Bereitschaft zu Bewegung und Kampf, daß es ihn heute unangenehm anmutete wie das Gesicht eines alten Komödianten, das voll oft gespielter unwahrer Leidenschaften ist. In der gleichen Weise hatte das Streben nach Wahrheit sein In- neres mit Bewegungsformen des Geistes angefüllt, es in gut ge- geneinander exerzierende Gruppen von Gedanken zerlegt und ihm einen, streng genommen, unwahren und komödienhaften Ausdruck gegeben, den alles, sogar die Aufrichtigkeit selbst, in dem Augen- blick annimmt, wo sie zur Gewohnheit wird. So dachte Ulrich. Er floß wie eine Welle durch die Wellenbrüder, wenn man so sagen darf; und warum sollte man es nicht dürfen, wenn ein Mensch, der sich einsam abgearbeitet hat, in die Gemeinschaft zurückkehrt und das Glück empfindet, in der gleichen Richtung zu fließen wie sie! In einem solchen Augenblick mag nichts so fern liegen wie die Vorstellung, daß das Leben, das sie führen, und das sie führt, die Menschen nicht viel, nicht innerlich angeht. Dennoch weiß das jeder Mensch, solange er jung ist. Ulrich erinnerte sich, wie ein solcher Tag in diesen Straßen vor einem oder anderthalb Jahr- zehnten für ihn ausgesehen hatte. Da war alles noch einmal so herrlich, und doch war ganz deutlich in diesem siedenden Begeh- ren eine quälende- Ahnung des Gefangenwerdens; ein beunru- higendes Gefühl: alles, was ich zu erreichen meine, erreicht mich; -132- eine nagende Vermutung, daß in dieser Welt die unwahren, acht- losen und persönlich unwichtigen Äußerungen kräftiger wider- hallen werden als die eigensten und eigentlichen. Diese Schönheit? — hat man gedacht — ganz gut, aber ist es die meine? Ist denn die Wahrheit, die ich kennenlerne, meine Wahrheit? Die Ziele, die Stimmen, die Wirklichkeit, all dieses Verführerische, das lockt und leitet, dem man folgt und worein man sich stürzt: — ist es denn die wirkliche Wirklichkeit, oder zeigt sich von der noch nicht mehr als ein Hauch, der ungreifbar auf der dargebotenen Wirklichkeit ruht?! Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, die- ses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle. Ulrich war vor einer Kirche stehengeblieben. Du lieber Himmel, wenn da im Schatten eine riesige Matrone gesessen wäre, mit gro- ßem, in Treppen fallendem Bauch, den Rücken an die Häuser- wände gelehnt, und oben, in tausend Falten, auf Wärzchen und Pickeln, den Sonnenuntergang im Gesicht: hätte er es nicht eben- sogut schön finden können? O Himmel, wie schön war es ja! Man will sich dem doch keineswegs entziehn, daß man mit der Pflicht ins Leben gesetzt worden ist, das zu bewundern; aber wie gesagt, es wäre auch nicht unmöglich, die breiten, ruhig hängenden For- men und das Filigran des Faltenwerks an einer ehrwürdigen Ma- trone schön zu finden, es ist bloß einfacher, zu sagen, sie sei alt. Und dieser Übergang vom Alt- zum Schönfinden der Welt ist un- gefähr der gleiche wie jener von der Gesinnung der jungen Men- schen zu der höheren Moral der Erwachsenen, die so lange ein lächerliches Lehrstück bleibt, bis man sie mit einemmal selbst hat Es waren nur Sekunden, die Ulrich vor dieser Kirche stand, aber sie wuchsen in die Tiefe und preßten sein Herz mit dem ganzen Urwiderstand, den man ursprünglich gegen diese zu Millionen Zentnern Stein verhärtete Welt, gegen diese erstarrte Mondland- schaft des Gefühls hat, in die man willenlos hineingesetzt wurde. Es mag sein, daß es den meisten Menschen eine Annehmlichkeit und Unterstützung bedeutet, die Welt bis auf ein paar persönliche Kleinigkeiten fertig vorzufinden, und es soll in keiner Weise in Zweifel gezogen werden, daß das im Ganzen Beharrende nicht nur konservativ, sondern auch das Fundament aller Fortschritte und Revolutionen ist, obgleich von einem tiefen, schattenhaften Unbe- hagen gesprochen werden muß, das auf eigene Faust lebende Men- schen dabei empfinden. Es drang Ulrich, während er mit vollem Verständnis für die architektonische Feinheit das heilige Bau- werk betrachtete, überraschend lebhaft ins Bewußtsein, daß man genau so leicht Menschen fressen könnte, wie solche Sehenswürdig- -133- keiten zu bauen oder stehen zu lassen. Die Häuser daneben, die Himmelsdecke darüber, überhaupt eine unaussprechliche Überein- stimmung in allen Linien und Räumen, die den Blick aufnahmen und leiteten, das Aussehen und der Ausdruck der Leute, die unten vorbeigingen, ihre Bücher und ihre Moral, die Bäume auf der Straße . . .: das alles ist ja manchmal so steif wie spanische Wände und so hart wie der geschnittene Stempel einer Presse und so — man kann gar nicht anders sagen als vollständig, so vollständig und fertig, daß man ein überflüssiger Nebel daneben ist, ein aus- gestoßener kleiner Atemzug, um den sich Gott weiter nicht küm- mert. In diesem Augenblick wünschte er sich, ein Mann ohne Ei- genschaften zu sein. Aber so ganz unähnlich ist das wohl überhaupt bei niemandem. Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sich nun nicht mehr viel ändern kann. Es ließ sich sogar behaupten, daß sie betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, daß alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kom- men können; die Ereignisse sind ja zum wenigsten von ihnen selbst ausgegangen, meistens hingen sie von allerhand Umständen ab, von der Laune, dem Leben, dem Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloß im gegebenen Zeitpunkt auf sie zugeeilt. So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Mor- gen vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeit und Nichts, und schon am Mittag ist mit einemmal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das ist im ganzen doch so über- raschend, wie wenn eines Tags plötzlich ein Mensch dasitzt, mit dem man zwanzig Jahre lang korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und man hat ihn sich ganz anders vorgestellt. Noch viel sonderbarer aber ist es, daß die meisten Menschen das gar nicht bemerken; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schick- sal ist ihr Verdienst oder Unglück. Es ist etwas mit ihnen umge- gangen wie ein Fliegenpapier mit einer Fliege; es hat sie da an einem Härchen, dort in ihrer Bewegung festgehalten und hat sie allmählich eingewickelt, bis sie in einem dicken Überzug begraben liegen, der ihrer ursprünglichen Form nur ganz entfernt entspricht. Und sie denken dann nur noch unklar an die Jugend, wo etwas wie eine Gegenkraft in ihnen gewesen ist. Diese andere Kraft zerrt und schwirrt, sie will nirgends bleiben und löst einen Sturm von ziellosen Fluchtbewegungen aus; der Spott der Jugend, ihre »134- Auflehnung gegen das Bestehende, die Bereitschaft der Jugend zu allem, was heroisch ist, zu Selbstaufopferung und Verbrechen, ihr feuriger Ernst und ihre Unbeständigkeit, — alles das bedeutet nichts als ihre Fluchtbewegungen. Im Grunde drücken diese bloß aus, daß nichts von allem, was der junge Mensch unternimmt, aus dem Innern heraus notwendig und eindeutig erscheint, wenn sie es auch in der Weise ausdrücken, als ob alles, worauf er sich ge- rade stürzt, überaus unaufschiebbar und notwendig wäre. Irgend jemand erfindet einen schönen neuen Gestus, einen äußeren oder einen inneren — Wie übersetzt man das? Eine Lebensgebärde? Eine Form, in die das Innere strömt wie das Gas in einen Glas- ballon? Einen Ausdruck des Indrucks? Eine Technik des Seins? Es kann ein neuer Schnurrbart sein oder ein neuer Gedanke. Es ist Schauspielerei, aber hat wie alle Schauspielerei natürlich einen Sinn — und augenblicklich stürzen, wie die Spatzen von den Dä- chern, wenn man Futter hinstreut, die jungen Seelen darauf zu. Man braucht es sich ja bloß vorzustellen: wenn außen eine schwere Welt auf Zunge, Händen und Augen liegt, der erkaltete Mond aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern, — und innen ist nichts wie ein haltlos beweglicher Nebel: welches Glück es bedeu- ten muß, sobald einer einen Ausdruck vormacht, in dem man sich selbst zu erkennen vermeint. Ist irgend etwas natürlicher, als daß jeder leidenschaftliche Mensch sich noch vor den gewöhnlichen Menschen dieser neuen Form bemächtigt?! Sie schenkt ihm den Augenblick des Seins, des Spannungsgewichtes zwischen innen und außen, zwischen Zerpreßtwerden und Zerfliegen. Auf nichts an- derem beruht — dachte Ulrich, und natürlich berührte ihn alles das auch persönlich; er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht sah so still und schlafend glücklich aus, als stürbe er in den Sonnenstrahlen, die hineinwirbelten, einen milden Erfrie- rungstod — auf nichts anderem, dachte er, beruht also auch die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung nennt. Was diese Renoviersucht des Daseins zu einem Perpetuum mobile macht, ist nichts als das Ungemach, daß zwi- schen dem nebelhaften eigenen und dem schon zur fremden Schale erstarrten Ich der Vorgänger wieder nur ein Schein-Ich, eine un- gefähr passende Gruppenseele eingeschoben wird. Und wenn man bloß ein bißchen achtgibt, kann man wohl immer in der soeben eingetroffenen letzten Zukunft schon die kommende Alte Zeit sehen. Die neuen Ideen sind dann bloß um dreißig Jahre älter, aber befriedigt und ein wenig fettüberpolstert oder überlebt, so ähnlich wie man neben den schimmernden Gesichtszügen eines Mädchens das erloschene Gesicht der Mutter erblickt; oder sie ha- -135- ben keinen Erfolg gehabt, sind abgezehrt und zu einem Reform- vorschlag eingeschrumpft, den ein alter Narr verficht, der von sei- nen fünfzig Bewunderern der große Soundso genannt wird. Er blieb nun wieder stehen, diesmal auf einem Platz, wo er einige Häuser erkannte und sich an die öffentlichen Kämpfe und geistigen Aufregungen erinnerte, die ihr Entstehen begleitet hat- ten. Er gedachte seiner Jugendfreunde; alle waren sie seine Ju- gendfreunde gewesen, ob er sie persönlich kannte oder nur dem Namen nach, ob sie so alt waren wie er oder älter, die Rebellen, die neue Dinge und Menschen auf die Welt bringen wollten, und ob das hier war oder über alle Orte verstreut, die er kennenge- lernt hatte. Jetzt standen diese Häuser wie brave Tanten mit alt- modischen Hüten in dem Spätnachmittagslicht, das schon zu ver- blassen begann, ganz nett und belanglos und alles andere eher als aufregend. Es lockte, zu lächeln. Aber die Leute, die diese an- spruchslos gewordenen Reste zurückgelassen hatten, waren inzwi- schen Professoren, Berühmtheiten und Namen, ein bekannter Teil der bekannten fortschrittlichen Entwicklung geworden, sie waren auf einem mehr oder weniger kurzen Weg aus dem Nebel ins Er- starren gelangt, und deshalb wird die Geschichte von ihnen gele- gentlich der Schilderung ihres Jahrhunderts einst melden: Anwe- send waren . . . 35 Direktor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes In diesem Augenblick wurde Ulrich durch einen Bekannten un- terbrochen, der ihn unversehens ansprach. Dieser Bekannte hatte am gleichen Tag in seiner Aktenmappe, als er sie morgens vor dem Verlassen der Wohnung öffnete, in einem abseitigen Fach, unangenehm überrascht, ein Rundschreiben des Grafen Leinsdorf entdeckt, das er schon des längeren zu beantworten ver- gessen hatte, weil sein gesunder Geschäftssinn vaterländischen Aktionen, die von hohen Kreisen ausgingen, abhold war, »Faule Sache« hatte er wohl seinerzeit zu sich gesagt; beileibe sollte es das nicht sein, was er darüber öffentlich gesagt haben wollte, aber da, wie Gedächtnisse schon einmal sind, hatte ihm das seine einen üblen Streich gespielt, indem es sich nach dem gefühihaften ersten inoffiziellen Auftrag richtete und die Sache nachlässig fallen ließ, statt die überlegte Entscheidung abzuwarten. Und deshalb stand in der Zuschrift, als er sie wieder öffnete, etwas, das ihm äußerst -136- peinlich war, obgleich er es früher gar nicht beachtet hatte; es war eigentlich nur ein Ausdruck, zwei kleine Worte waren es, die sich in dem Sendschreiben an den verschiedensten Stellen wiederfan- den, aber dieses Wortpaar hatte den stattlichen Mann, mit seiner Mappe in der Hand, vor dem Fortgehn mehrere Minuten Unent- schlossenheit gekostet, und es hieß: der wahre. Direktor Fischel — denn so hieß er, Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank, eigentlich nur Prokurist mit dem Titel Direk- tor, — Ulrich durfte sich seinen jüngeren Freund aus früheren Zeiten nennen und war bei seinem letzten Aufenthalt mit seiner Tochter Gerda recht befreundet gewesen, hatte sie aber seit seiner Rückkehr nur ein einzigesmal besucht — Direktor Fischel kannte Se. Erlaucht als einen Mann, der sein Geld arbeiten ließ und mit den Methoden der Zeit Schritt hielt, ja er »erkannte ihn«, wie der Geschäftsausdruck lautet, in dem Augenblick, wo er die Eintra- gungen in seinem Gedächtnis prüfte, »für« einen Mann von gro- ßer Wichtigkeit, denn die Lloyd-Bank war eines jener Institute, durch die Graf Leinsdorf seine Börsenaufträge besorgen ließ. Leo Fischel konnte darum die Nachlässigkeit nicht begreifen, mit der er eine so bewegliche Einladung behandelt hatte, wie es die war, in der Se. Erlaucht einen auserlesenen Kreis von Menschen auf- forderte, sich zu einem großen und gemeinsamen Werk bereit zu halten. Er selbst war eigentlich nur durch ganz besondere, später zu erwähnende Umstände in diesen Kreis einbezogen worden, und alles das war der Grund, warum er, Ulrichs kaum ansichtig geworden, sich auf ihn gestürzt hatte; er hatte erfahren, daß Ulrich mit der Sache, und noch dazu in »prominenter Weise«, zu tun habe, — was eine jener unbegreiflichen, aber nicht seltenen Gerüchts- bildungen war, die das Richtige treffen, ehe es noch richtig ist, — und setzte ihm nun wie ein Terzerol die drei Fragen vor die Brust, was er sich eigentlich unter »wahrer Vaterlandsliebe«, »wahrem Fortschritt« und »wahrem Österreich« vorstelle? Dieser, aus seiner Stimmung aufgeschreckt und doch diese fort- setzend, antwortete in der Art, wie er mit Fische! immer verkehrt hatte: »Das PDUG.« »Das — ?« Direktor Fischel buchstabierte es harmlos nach und dachte diesmal an keinen Scherz, denn solche Abkürzungen, ob- gleich sie damals noch nicht so zahlreich waren wie heute, kannte man von Kartellen und Spitzenverbänden, und sie strömten Ver- trauen aus. Abei dann sagte er doch- »Machen Sie, bitte, keine Witze; ich bin in Eile und muß zu einer Sitzung.« »Das Prinzip des unzureichenden Grundes!« wiederholte Ulrich. »Sie sind doch Philosoph und werden wissen, was man unter dem Prinzip des zureichenden Grundes versteht. Nur bei sich selbst -137- macht der Mensch davon eine Ausnahme; in unserem wirklichen» ich meine damit unserem persönlichen Leben und in unserem öf- fentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat.« Leo Fischel schwankte, ob er widersprechen solle oder nicht; Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank philosophierte gern, es gibt noch solche Menschen in den praktischen Berufen, aber er war wirklich in Eile; darum erwideite er: »Sie wollen mich nicht ver- stehn. Ich weiß, was Fortschritt ist, ich weiß was Osterreich ist, und ich weiß wahrscheinlich auch, was Vaterlandsliebe ist. Aber vielleicht vermag ich mir, was wahre Vaterlandsliebe, wahres Österreich und wahrer Fortschritt ist, nicht ganz richtig vorzu- stellen. Und um das frage ich Sie!« »Gut; wissen Sie, was ein Enzym oder was ein Katalysator ist?« Leo Fischel hob nur abwehrend die Hand. »Das trägt materiell nichts bei, aber es setzt die Geschehnisse in Gang. Sie müssen aus der Geschichte wissen, daß es den wah- ren Glauben, die wahre Sittlichkeit und die wahre Philosophie niemals gegeben hat; dennoch haben die Kriege, Gemeinheiten und Gehässigkeiten, die ihretwegen entfesselt worden sind, die Welt fruchtbar umgestaltet « »Ein andermal!« beteuerte Fischel und versuchte, den Aufrich- tigen zu spielen. »Hören Sie einfach, ich habe damit an der Börse zu tun und mochte wirklich gerne die eigentlichen Absichten des Grafen Leinsdorf kennen; worauf hat er es mit diesem Zusatz »wahr« abgesehen?« »Ich schwöre Ihnen,« erwiderte Ulrich ernst »daß weder ich noch irgend jemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versichern, daß es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!« »Sie sind ein Zyniker!« erklärte Direktor Fischel und eilte da- von, war aber nach dem ersten Schritt noch einmal umgekehrt und hatte sich verbessert: »Ich habe erst unlängst zu Gerda gesagt, daß Sie einen großartigen Diplomaten hätten abgeben können. Ich hoffe, Sie besuchen uns bald wieder.« 36 Dank des genannten Prinzips bestellt die Parallelaktion greifbar, ehe man weiß, was sie ist Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank glaubte, wie es alle Bankdirektoren vor dem Kriege taten, an den Fortschritt. Als -138- Mann, der in seinem Fach tüchtig war, wußte er natürlich, daß man nur dort, wo man sich wirklich sehr genau auskennt, eine Überzeugung haben kann, -*uf die man selbst setzen möchte; die ungeheure Ausbreitung der Tätigkeiten läßt ihre Bildung anders- wo nicht zu. Darum haben die tüchtigen und arbeitsamen Men- schen, außer auf ihrem engsten Fachgebiet, keine Überzeugung, die sie nicht sofort preisgeben würden, wenn sie einen äußeren Druck dagegen spüren; man könnte geradezu sagen, sie sehen sich aus Gewissenhaftigkeit gezwungen, anders zu handeln, als sie denken. Direktor Fischel zum Beispiel stellte sich unter wahrer Vaterlandsliebe und wahrem Österreich überhaupt nichts vor, vom wahren Fortschritt dagegen hatte er eine persönliche Mei- nung, und diese war gewiß anders als die des Grafen Leinsdorf; aufgebracht von Lombarden und Effekten oder was immer er unter sich hatte, einmal jede Woche einen Sitz in der Oper als ein- zige Erholung, glaubte er an einen Fortschritt des Ganzen, der irgendwie dem Bild der fortschreitenden Rentabilität seiner Bank ähneln mußte. Aber als Graf Leinsdorf auch das besser zu wissen vorgab und auf das Gewissen Leo Fischeis zu wirken begann, fühlte dieser, daß man »doch nie wissen könnte« (außer eben in Lombarden und Effekten), und da man zwar nicht weiß, es aber andererseits auch nicht verfehlen möchte, nahm er sich vor, bei seinem Generaldirektor ganz nebenbei anzufragen, was dieser von der Angelegenheit halte. Als er das aber tat, hatte der Generaldirektor aus ganz ähnlichen Gründen darüber schon mit dem Gouverneur der Staatsbank ge- sprochen und war voll im Bilde. Denn nicht nur der Generaldirek- tor der Lloyd-, sondern selbstverständlich auch der Gouverneur der Staatsbank hatte vom Grafen Leinsdorf eine Einladung erhal- ten, und Leo Fischel, der nur ein Abteilungsleiter war, verdankte die seine überhaupt bloß den Familienbeziehungen seiner Frau, die aus der Bürokratie stammte und diesen Zusammenhang nie- mals vergaß, weder in ihren gesellschaftlichen Beziehungen noch in ihren häuslichen Streitigkeiten mit Leo. Deshalb begnügte er sich, als er mit seinem Vorgesetzten von der Parallelaktion sprach, vielsagend den Kopf zu wiegen, was »große Sache« hieß, dereinst aber auch »faule Sache« geheißen haben konnte; das mochte unter keinen Umständen schaden, aber wegen seiner Frau hätte es Fischel wohl mehr gefreut, wenn sich die Sache als faul heraus- gestellt hätte. Vorläufig hatte v. Meier-Ballot, der Gouverneur, der vom Generaldirektor zu Rate gezogen worden, jedoch selbst den besten Eindruck. Als er die »Anregung« des Grafen Leins„dorf empfing, trat er vor den Spiegel — natürlich, wenn auch nicht deshalb — -139- und es blickte ihm daraus über Frack und Ordenskettchen das wohl- geordnete Gesicht eines bürgerlichen Ministers entgegen, in dem sich von der Härte des Gelds höchstens ganz hinten in den Augen noch etwas hielt, und seine Finger hingen wie Fahnen in der Wind- stille von seinen Händen herab, als hätten sie nie im Leben die hastigen Rechenbewegungen eines Banklehrlings ausführen müs- sen. Dieser bürokratisch überzüchtete Hochfinanzier, der mit den hungrigen, frei streifenden wilden Hunden des Börsenspiels kaum noch etwas gemeinsam hatte, sah unbestimmte, aber angenehm temperierte Möglichkeiten vor sich und hatte noch am gleichen Abend Gelegenheit, sich in dieser Auffassung zu bestärken, da er im Industriellenklub mit den früheren Ministern von Holtzkopf und Baron Wisnieczky sprach. Diese beiden Herren waren unterrichtete, vornehme und zurück- haltende Männer in irgendweichen hohen Stellungen, auf die man sie zur Seite gesetzt hatte, als die kurze Obergangsregierung zwi- schen zwei politischen Krisen, der sie angehört hatten, wieder überflüssig geworden war; es waren Männer, die ihr Leben im Dienst des Staats und der Krone hingebracht hatten, ohne her- vortreten zu wollen, außer wenn ihr Allerhöchster Herr es ihnen befahl. Sie wußten von dem Gerücht, daß die große Aktion eine feine Spitze gegen Deutschland erhalten werde. Es bildete ihre Überzeugung nach wie vor dem Scheitern ihrer Mission, daß die beklagenswerten Erscheinungen, die das politische Leben der Dop- pelmonarchie damals schon zu einem Ansteckungsherd für Europa machten, außerordentlich verwickelt seien. Aber ebenso, wie sie sich verpflichtet gefühlt hatten, diese Schwierigkeiten für lösbar zu halten, als der Befehl dazu an sie erging, wollten sie auch jetzt es nicht für ausgeschlossen erklären, daß mit Mitteln, wie sie Graf Leinsdorf anregte, etwas zu erreichen sei; namentlich fühlten sie, daß ein »Markstein«, eine »glanzvolle Lebenskundgebung«, ein »machtvolles Auftreten nach außen, das auch auf die Verhältnisse im Innern aufrichtend wirkt« so zutreffend von Graf Leinsdorf formulierte Wünsche seien, daß man sich ihnen ebensowenig ent- ziehen konnte, wie wenn verlangt worden wäre, jeder solle sich meiden, der das Gute will. Möglich wäre es immerhin, daß Holtzkopf und Wisnieczky als Männer, die in öffentlichen Geschäften Kenntnis und Ei fahrung besaßen, mancherlei Bedenken empfunden hatten, zumal sie an- nehmen durften, daß sie selbst zu irgendeiner Rolle in der weite- ren Entwicklung dieser Aktion ausersehen seien. Aber Menschen ebener Erde haben es leicht, kritisch /u sein und etwas abzuleh- nen, das ihnen nicht paßt; wenn man sich jedoch in seiner Lebens- gondel dreitausend Meter hoch befindet, so steigt man nirht ein- -140- fach aus, auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein sollte. Und da man in diesen Kreisen wirklich loyal ist und, in Gegensatz zum vorhin erwähnten bürgerlichen Lebensgedränge, nicht gerne anders handeln will, als man denkt, so muß man sich in vielen Fällen damit begnügen, nicht allzu eingehend über eine Sache nachzudenken. Der Gouverneur v. Meier-Ballot wurde darum in seinem günstigen Eindruck von der Sache durch die Ausführungen der beiden Herrn noch bestärkt; und wenn er auch für seine Per- son und durch seinen Beruf zu einer gewissen Vorsicht neigte, so reichte das Gehörte doch zu der Entscheidung hin, daß man es mit einer Angelegenheit zu tun habe, deren weiterer Entwicklung man — sowohl jedenfalls wie abwartend — beiwohnen werde. Indes bestand die Parallelaktion eigentlich damals noch gar nicht, und worin sie bestehen werde, wußte selbst Graf Leinsdorf noch nicht. Wie sich mit Sicherheit sagen läßt, war das einzige Be- stimmte, was ihm bis zu jenem Zeitpunkt eingefallen war, eine Reihe von Namen. Aber auch das ist ungemein viel. Denn so bestand in diesem Zeitpunkt, ohne daß irgend jemand eine sachliche Vorstellung zu haben brauchte, schon ein Netz von Bereitschaft, das einen großen Zusammenhang umspannte; und man darf wohl behaupten, daß dies die richtige Reihenfolge ist. Denn erst mußten Messer und Gabel erfunden werden, und dann lernte die Menschheit anstän- dig essen; so erklärte es Graf Leinsdorf. 37 Ein Publizist bereitet Graf Leinsdorf durch die Erfindung »österreichisches ] ahr« große Unannehmlichkeiten; Se. Erlaucht verlangt heftig nach Ulrich Graf Leinsdorf hatte zwar nach vielen Seiten Aufforderungen verschickt, die »den Gedanken erwecken« sollten, aber er wäre vielleicht doch nicht so schnell vorwärtsgekommen, wenn nicht ein einflußreicher Publizist, der in Erfahrung gebracht hatte, es Hege etwas in der Luft, rasch in seinem Blatt zwei große Aufsätze ver- öffentlicht hätte, in denen er als seine Anregung alles das aus- sprach, was seiner Vermutung nach im Werden war. Er wußte nicht viel — denn wo hätte er es erfahren sollen? — aber man merkte es nicht, ja gerade das gab seinen beiden Aufsätzen erst die Möglichkeit hinreißender Wirkung. Er war eigentlich der Er- finder der Vorstellung »österreichisches Jahr«, über die er seine - 141 - Spalten schrieb, ohne selbst sagen zu können, was damit gemeint war, aber in immer neuen Sätzen, so daß dieses Wort wie in einem Traum sich mit anderen Worten verband und wandelte und eine ungeheure Begeisterung auslöste. Graf Leinsdorf war anfangs entsetzt, aber mit Unrecht. Man kann an dem Wort österreichi- sches Jahr ermessen, was ein publizistisches Genie bedet&fet, denn dieses Wort hatte der rechte Instinkt erfunden. Es ließ Regungen ertönen, die bei der Vorstellung eines österreichischen Jahrhun- derts stumm geblieben wären, während die Aufforderung, ein solches herbeizuführen, bei vernünftigen Menschen sogar für einen Einfall gegolten haben würde, den niemand ernst nimmt. Warum das so ist, es wäre schwer zu sagen. Vielleicht beflügelte eine ge- wisse Ungenauigkeit und Gleichnishaftigkeit, bei der man weniger an die Wirklichkeit denkt als sonst, nicht nur das Gefühl des Grafen Leinsdorf. Denn Ungenauigkeit hat eine erhebende und vergrößernde Kraft. Es scheint, daß der brave, praktische Wirklichkeitsmensch die Wirklichkeit nirgends restlos liebt und ernst nimmt Als Kind kriecht er unter den Tisch, um das Zimmer der Eltern, wenn sie nicht zu Hause sind, durch diesen genial einfachen Trick aben- teuerlich zu machen; er sehnt sich als Knabe nach der Uhr; als Jüngling mit der goldenen Uhr nach der zu ihr passenden Frau; als Mann mit Uhr und Frau nach der gehobenen Stellung; und wenn er glücklich diesen kleinen Kreis von Wünschen zustande gebracht hat und ruhig darin hin und her schwingt wie ein Pendel, scheint sich dennoch sein Vorrat unbefriedigter Träume um nichts verringert zu haben. Denn wenn er sich erheben will, so gebraucht er dann ein Gleichnis. Offenbar weil ihm Schnee zuweilen unan- genehm ist, vergleicht er ihn mit schimmernden Frauenbrüsten, und sobald ihn die Brüste seiner Frau zu langweilen beginnen, vergleicht er sie mit schimmerndem Schnee; er wäre entsetzt, wenn ihre Schnäbel sich eines Tags als hornige Taubenschnäbel heraus- stellen würden oder als eingesetzte Korallen, aber poetisch erregt es ihn. Er ist imstande, alles zu allem zu. machen — Schnee zu Haut, Haut zu Blüten, Blüten zu Zucker, Zucker zu Puder, und Puder wieder zu Schneegeriesel — , denn es kommt ihm anschei- nend nur darauf an, etwas zu dem zu machen, was es nicht ist, was wohl ein Beweis dafür ist, daß er es nirgends lange aushält, wo immer er sich befinde. Vollends aber kein richtiger Kakanier hielt es innerlich in Kakanien aus. Wenn man von ihm nun ein öster- reichisches Jahrhundert gefordert hätte, so wäre ihm das wie eine Höllenstrafe vorgekommen, die er sich und der Welt mit lächer- lich freiwilliger Anstrengung auferlegen solle. Ganz etwas ande- res dagegen war ein österreichisches Jahr. Das hieß, wir wollen »142- einmal zeigen, was wir eigentlich sein könnten; aber sozusagen auf Widerruf und höchstens ein Jahr lang. Man konnte sich darunter denken, was man wollte, es war ja nicht für die Ewigkeit, und das griff ans Herz, man wußte nicht wie. Es machte die tiefste Liebe zum Vaterland lebendig. So kam es, daß Graf Leinsdorf einen ungeahnten Erfolg hatte. Auch er hatte ja seine Idee ursprünglich als ein solches Gleichnis empfangen, aber außerdem war ihm eine Reihe von Namen ein- gefallen, und seine moralische Natur strebte über den Zustand der Unfestheit hinaus; er besaß eine ausgeprägte Vorstellung da- von, daß man die Phantasie des Volks, oder wie er nun zu einem ihm ergebenen Journalisten sagte, die Phantasie des Publikums auf ein Ziel lenken müsse, das klar, gesund, vernünftig und in Übereinstimmung mit den wahren Zielen der Menschheit und des Vaterlands sei. Dieser Journalist schrieb, angeeifert von dem Er- folg seines Berufsgenossen, das sogleich nieder, und da er vor seinem Vorgänger voraus hatte, es aus »authentischer Quelle« zu wissen, so lag es in der Technik seines Berufs, daß er sich in gro- ßen Lettern auf diese »Informationen aus einflußreichen Kreisen« berief; und gerade das war es auch, was Graf Leinsdorf von ihm erwartet hatte, denn Se. Erlaucht legte großen Wert darauf, kein Ideologe, sondern ein erfahrener Realpolitiker zu sein, und wollte einen feinen Strich zwischen dem österreichischen Jahr eines genia- len publizistischen Kopfes und der Bedachtsamkeit verantwort- licher Kreise gezogen wissen. Er bediente sich zu diesem Zweck der Technik des sonst von ihm nicht gerne als Vorbild angesehe- nen Bismarcks, die wahren Absichten Zeitungsschreibern in den Mund zu legen, um sie je nach dem Gebot der Stunde bekennen oder verleugnen zu können. Aber während Graf Leinsdorf mit solcher Klugheit handelte, hatte er eines nicht bedacht. Denn nicht nur ein Mann wie er sah das Wahre, das uns not tut, sondern auch unzählige andere Men- schen wähnen sich in seinem Besitz. Man kann das geradezu als eine Verhärtungsform des vorerwähnten Zustandes bezeichnen, in welchem man noch Gleichnisse macht. Irgendwann schwindet die Lust auch an ihnen dahin, und viele von den Menschen, in denen dann ein Vorrat von endgültig unbefriedigten Träumen zurück- bleibt, schaffen sich da einen Punkt an, auf den sie heimlich star- ren, als ob dort eine Welt beginnen müßte, die man ihnen schuldig geblieben sei. Binnen kürzester Zeit, nachdem er seine Zeitungs- nachricht ausgesandt hatte, glaubte Se. Erlaucht schon zu bemer- ken, daß alle Menschen, die kein Geld haben, dafür einen unan- genehmen Sektierer in sich tragen. Dieser eigensinnige Mensch im Menschen geht morgens mit ins Büro und vermag überhaupt in -143- keiner wirksamen Weise gegen den Weltlauf zu protestieren, aber er wendet statt dessen zeit seines Lebens die Augen nicht mehr von einem heimlichen Punkt ab, den kein andrer bemerken will, obgleich dort doch offenbar das ganze Unglück der Welt anhebt, die ihren Erlöser nicht erkennt. Solche fixierte Punkte, in denen das Gleichgewichtszentrum einer Person mit dem Gleichgewichts- zentrum der Welt übereinfällt, sind zum Beispiel ein Spucknapf, der sich durch einen einfachen Griff schließen läßt, oder die Ab- schaffung der Salzfässer in den Gasthäusern, in die man mit den Messern fährt, wodurch mit einem Schlag die Verbreitung der die Menschheit geißelnden Tuberkulose verhindert würde, oder die Einführung des Kurzschriftsystems öhl, das durch seine unver- gleichliche Zeitersparnis gleich auch die soziale Frage löst, oder die Bekehrung zu einer naturgemäßen, der herrschenden Ver- wüstung Einhalt gebietenden Lebensweise, aber auch eine meta- psychische Theorie der Himmelsbewegungen, die Vereinfachung des Verwaltungsapparats und eine Reform des Sexuallebens. Wol- len die Umstände dem Menschen wohl, so hilft er sich, indem er eines Tags über seinen Punkt ein Buch verfaßt oder eine Broschüre oder wenigstens einen Zeitungsaufsatz und seinen Protest dadurch gewissermaßen bei den Akten der Menschheit zu Protokoll gibt, was ungeheuer beruhigt, selbst wenn es von niemand gelesen wird; gewöhnlich aber lockt es einige Leute an, die dem Verfasser ver- sichern, daß er ein neuer Kopernikus sei, wonach sie sich ihm als unverstandene Newtons vorstellen. Diese Gepflogenheit, sich ge- genseitig die Punkte aus dem Fell zu suchen, ist sehr wohltuend und weitverbreitet, aber ihre Wirkung ist nicht dauerhaft, weil die Beteiligten sich nach einer Weile verzanken und wieder ganz allein bleiben; doch kommt es auch vor, daß einer oder der andere einen kleinen Kreis von Bewunderern um sich sammelt, die mit vereinter Kraft den Himmel anklagen, der seinen gesalbten Sohn nicht genügend unterstütze. Und fällt dann plötzlich ein Hoff- nungsstrahl aus großer Höhe auf solche Punktehäufchen — wie es geschah, als Graf Leinsdorf öffentlich äußern ließ, daß ein öster- reichisches Jahr, wenn es ein solches wirklich geben werde, was damit noch nicht gesagt sein solle, jedenfalls in Übereinstimmung mit den wahren Zielen des Daseins stehen müßte — so nehmen sie das auf wie die Heiligen, denen Gott eine Erscheinung schickt. Graf Leinsdorf hatte gedacht, daß sein Werk eine machtvolle, aus der Mitte des Volkes selbst aufsteigende Kundgebung werden solle. Kr hatte dabei an die Universität, an die Geistlichkeit, an einige Namen, die niemals in den Berichten über charitative Ver- anstaltungen fehlen, ja sogar an die Zeitungen selbst gedacht; er rechnete mit den patriotischen Parteien, mit dem »gesunden Sinn« -144- des Bürgertums, das an Kaisers Geburtstag die Fahnen hei aus- streckt, und mit der Beihilfe der Hochfinanz, ja er rechnete auch mit der Politik, denn er hoffte insgeheim, durch sein großes Werk gerade sie überflüssig zu machen, indem er sie auf den gemein- samen Nenner Vaterland brachte, den er später durch Land zu dividieren beabsichtigte, um den väterlichen Herrscher als einzigen Rest übrig zu behalten; aber an eines hatte Se. Erlaucht eben nicht gedacht, und er wurde überrascht von dem weit verbreiteten Welt- verbesserungsbedürfnis, das von der Wärme einer großen Gelegen- heit ausgebrütet wird wie Insekteneier bei einem Brand. Damit hatte Se. Erlaucht nicht gerechnet; er hatte sehr viel Patriotismus erwartet, aber er war nicht vorbereitet auf Erfindungen, Theorien, Weltsysteme und Menschen, die von ihm die Erlösung aus geisti- gen Kerkern verlangten Sie belagerten sein Palais, priesen die Parallelaktion als eine Möglichkeit, der Wahrheit endlich zum Durchbruch zu verhelfen, und Graf Leinsdorf wußte nicht, was er mit ihnen beginnen solle. Im Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Stellung konnte er sich doch nicht mit allen diesen Leuten an einen Tisch setzen, als ein von gespannter Moralität erfüllter Geist wollte er sich ihnen aber auch nicht entziehen, und da seine Bildung politisch und philosophisch, aber durchaus nicht naturwissenschaft- lich und technologisch war, wurde er in keiner Weise klug daraus, ob an diesen Vorschlägen etwas daran sei oder nicht. In dieser Lage sehnte er sich immer heftiger nach Ulrich, der ihm gerade als der Mann empfohlen worden war, den er gebraucht hätte, denn sein Sekretär oder überhaupt jeder gewöhnliche Sekre- tär war solchen Anforderungen natürlich nicht gewachsen. Er betete sogar einmal, als er sich sehr über seinen Angestellten ge- ärgert hatte, zu Gott — obgleich er sich am nächsten Tag dessen schämte — , daß Ulrich doch endlich zu ihm kommen möge. Und als dies nicht geschah, machte sich Se. Erlaucht systematisch selbst auf die Suche Er ließ im Adreßbuch nachschlagen, aber Ulrich war darin noch nicht enthalten. Er begab sich sodann zu seiner Freun- din Diotima, die gewöhnlich Rat wußte, und tatsächlich hatte die Bewundernswerte Ulrich auch schon gesprochen, aber sie hatte ver- gessen, sich seine Wohnung angeben zu lassen, oder schützte das vor, denn sie wollte die Gelegenheit benützen, um Sr. Erlaucht einen neuen und viel besseren Vorschlag für die Sekretärstelle der großen Aktion zu unterbreiten. Aber Graf Leinsdorf war sehr aufgeregt und erklärte auf das bestimmteste, daß er sich an Ulrich bereits gewöhnt habe, einen Preußen nicht brauchen könne, auch einen Reformpreußen nicht, und überhaupt von noch mehr Kom- plikationen nichts wissen wolle. Er war bestürzt, als seine Freun- din sich danach gekränkt zeigte, und bekam dadurch einen selb- JO Musil Mann _ H;, - ständigen Einfall; er erklärte ihr, daß er nun gerades wegs zu seinem Freund, dem Polizeipräsidenten, fahren werde, der schließ- lich doch die Adresse eines jeden Staatsbürgers herausbringen 38 Ciarisse und ihre Dämonen Als Ulrichs Brief eintraf, spielten Walter und Ciarisse wieder so heftig Klavier, daß die dünnbeinigen Kunstfabrikmöbel tanz- ten und die Dante Gabriel Rosetti-Stiche an den Wänden zit- terten. Dem alten Dienstmann, der Haus und Wohnung offen gefunden hatte, ohne angehalten zu werden, schlug Blitz und Don- ner ins Gesicht, als er bis in den Wohnraum vordrang, und der heilige Lärm, in den er hineingeraten war, preßte ihn ehrfürchtig an die Wand. Ciarisse war es, welche die weiterdrängende musi- kalische Erregung schließlich in zwei gewaltigen Schlägen entlud und ihn befreite. Während sie den Brief las, wand sich der unter- brochene Erguß noch aus Walters Händen; eine Melodie lief zuk- kend wie ein Storch und breitete dann die Flügel. Ciarisse beob- achtete das mißtrauisch, während sie Ulrichs Schreiben entzifferte. Als sie ihm das Kommen des Freundes ankündigte, sagte Wal- ter: »Schade!« Sie setzte sich wieder neben ihn auf den kleinen drehbaren Kla- vierstuhl, und ein Lächeln, das Walter aus irgendeinem Grund als grausam empfand, spaltete ihre Lippen, die sinnlich aussahen. Es war der Augenblick, wo die Spieler ihr Blut anhalten, um es in gleichem Rhythmus loslassen zu können, und die Augenachsen ihnen wie vier gleichgerichtete lange Stiele aus dem Kopf stehn, während sie mit der Sitzfläche gespannt das Stühlchen festhalten, das auf dem langen Hals seiner Holzschraube immer wackeln will. Im nächsten Augenblick waren Ciarisse und Walter wie zwei nebeneinander dahinschießende Lokomotiven losgelassen. Das Stück, das sie spielten, flog wie blitzende Schienenstränge auf ihre Augen zu, verschwand in der donnernden Maschine und lag als klingende, gehörte, in wunderbarer Weise gegenwärtig bleibende Landschaft hinter ihnen. Während dieser rasenden Fahrt wurde das Gefühl dieser beiden Menschen zu einem einzigen zusammen- gepreßt; Gehör, Blut, Muskeln wurden willenlos von dem gleichen Erlebnis hingerissen; schimmernde, sich neigende, sich biegende Tonwände zwangen ihre Körper in das gleiche Geleis, bogen sie gemeinsam, weiteten und verengten die Brust im gleichen Atem- -146- zug. Auf den Bruchteil einer Sekunde genau, flogen Heiterkeit, Trauer, Zorn und Angst, Lieben und Hassen, Begehren und Über- druß durch Walter und Clarisse hindurch. Es war ein Einswerden, ähnlich dem in einem großen Schreck, wo hunderte Menschen, die eben noch in allem verschieden gewesen sind, die gleichen rudern- den Fluchtbewegungen ausführen, die gleichen sinnlosen Schreie ausstoßen, in der gleichen Weise Mund und Augen aufreißen, von einer zwecklosen Gewalt gemeinsam vor- und zurückgerissen wer- den, links und rechts gerissen werden, brüllen, zucken, wirren und zittern. Aber es hatte nicht die gleiche, stumpfe, übermächtige Gewalt, wie sie das Leben hat, wo solches Geschehen sich nicht so leicht ereignet, dafür aber alles Persönliche widerstandslos aus- löscht. Der Zorn, die Liebe, das Glück, die Heiterkeit und Trauer, die Clarisse und Walter im Flug durchlebten, waren keine vollen Gefühle, sondern nicht viel mehr als das zum Rasen erregte kör- perliche Gehäuse davon. Sie saßen steif und entrückt auf ihren Sesselchen, waren auf nichts und in nichts und über nichts oder jeder auf, in und über etwas anderes zornig, verliebt und traurig, dachten Verschiedenes und meinten jeder das Seine; der Befehl der Musik vereinigte sie in höchster Leidenschaft und ließ ihnen zugleich etwas Abwesendes wie im Zwangsschlaf der Hypnose. Jeder dieser beiden Menschen spürte es in seiner Weise. Walter war glücklich und erregt. Er hielt, wie das die meisten musika- lischen Menschen tun, diese wogenden Wallungen und gefühls- artigen Bewegungen des Inneren, das heißt den wolkig aufgerühr- ten körperlichen Untergrund der Seele für die einfache, alle Men- schen verbindende Sprache des Ewigen. Es entzückte ihn, Clarisse mit dem starken Arm des Urgefühls an sich zu pressen. Er war an diesem Tag früher aus seinem Büro nach Hause gekommen als sonst. Er hatte mit der Katalogisierung von Kunstwerken zu tun gehabt, die noch die Form großer, ungebrochener Zeiten trugen und eine geheimnisvolle Willenskraft ausströmten. Clarisse war ihm freundlich begegnet, sie war nun in der ungeheuren Welt der Musik fest an ihn gebunden. Es trug alles an diesem Tag ein ge- heimes Gelingen in sich, einen lautlosen Marsch, wie wenn Götter auf dem Wege sind. »Vielleicht ist heute der Tag?« dachte Walter. Er wollte Clarisse ja nicht durch Zwang zu sich zurückbringen, sondern zu innerst aus ihr selbst sollte die Erkenntnis aufsteigen und sie sanft zu ihm herüberneigen. Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und -147- Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinander- stürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmt- heit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Faden und Stiah- len. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da be- gann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen. Aber ehe das kam und bewirkte, daß ein durch den goldenen Nebel schlagender Funke gewöhnlichen Gefühls die beiden wieder in irdische Beziehung zu einander brachte, waren Glarissens Ge- danken von den seinen schon der Art nach so verschieden, wie es zwei Menschen nur zuwege bringen können, die mit zwillingshaf- ten Gebärden der Verzweiflung und Seligkeit nebeneinander hin- stürmen. In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarissens Denken; sie hatte darin eine eigene Art; oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da, oft gar keiner, aber dann konnte man die Gedanken wie Dämonen hinter der Bühne stehen fühlen, und das zeitliche Nacheinander der Erlebnisse, das anderen Menschen eine richtige Stütze abgibt, wurde in Ciarisse zu einem Schleier, der seine Falten bald dicht übereinander warf, bald in einen kaum noch sichtbaren Hauch auflöste. Drei Personen waren diesmal um Ciarisse; Walter, Ulrich und der Frauenmörder Moosbrugger. Von Moosbrugger hatte ihr Ulrich erzählt. Anziehung und Abstoßung mischten sich darin zu einem sonder- baren Bann. Ciarisse nagte an der Wurzel der Liebe. Zwiespältig ist sie, mit Kuß und Biß, mit Aneinanderhängcn der Blicke und gequältem Wegdrehen des Auges im letzten Augenblick. »Drängt das gute Miteinanderauskornmen zum Haß?« fragte sie sich. »Will das an- ständige Leben die Roheit? Bedarf das Friedliche der Grausam- keit? Verlangt die Ordnung nach Zerrissenwerden?« Das war es, und war es nicht, was Moosbrugger erregte. Unter dem Donner der Musik schwebte ein Weltbrand um sie, ein noch nicht aus- gebrochener Weltbrand; innerlich am Gebälk fressend. Aber so wie in einem Gleichnis, wo die Dinge die gleichen sind, dawider aber auch ganz verschieden sind, und aus der Ungleichnis des Gleichen wie aus der Gleichnis des Ungleichen zwei Rauchsäulen -148- aufsteigen, mit dem märchenhaften Geruch von Bratäpfeln und ins Feuer gestreuten Fichtenzweigen, war es auch. »Man dürfte nie zu spielen aufhören« sagte sich Clarisse und begann mit raschem Herumwerfen der Notenblätter das Stück von vorne, als es zu Ende war. Walter lächelte befangen und folgte ihr. »Was macht Ulrich eigentlich mit der Mathematik?« fragte sie ihn. Walter zuckte im Spiel die Schultern, als steuerte er einen Renn- wagen. »Man müßte weiter und weiter spielen, bis zum Ende« dachte Clarisse. »Wenn man bis ans Lebensende ununterbrochen spielen könnte, was wäre dann Moosbrugger? Schauerlich? Ein Narr? Ein schwarzer Vogel des Himmels?« Sie wußte es nicht. Sie wußte überhaupt nichts. Eines Tags — sie hätte auf den Tag ausrechnen können, wann das geschah, — war sie aus dem Schlaf der Kindheit erwacht, und da war auch schon die Überzeugung fertig gewesen, daß sie berufen sei, etwas auszurichten, eine be- sondere Rolle zu spielen, vielleicht sogar zu etwas Großem aus- ersehen sei. Sie wußte damals noch gar nichts von der Welt. Sie glaubte auch nichts von dem, was man ihr darüber erzählte, die Eltern, der ältere Bruder: das waren klappernde Worte, ganz gut und ganz schön, aber man konnte sich nicht aneignen, was sie sag- ten; man konnte einfach nicht, so wenig wie ein chemischer Körper einen anderen aufnimmt, der ihm nicht »eignet«. Dann kam Wal- ter, das war der Tag; von diesem Tag an war alles »eigen«. Walter trug einen kleinen Schnurrbart, ein Bürstchen; er sagte: Fräulein; mit einemmal war die Welt keine wüste, regellose, zerbrochene Fläche mehr, sondern ein schimmernder Kreis, Walter ein Mittel- punkt, sie ein Mittelpunkt, zwei in einen zusammenfallende Mit- telpunkte waren sie. Erde, Häuser, abgefallene und nicht weg- gefegte Blätter, schmerzende Luftlinien (sie erinnerte sich an den Augenblick, als einen der quälendsten der Kindheit, wo sie mit ihrem Vater auf einer »Aussicht« stand und er, der Maler, sich eine Endlosigkeit lang daran entzückte, während sie der Blick in die Welt längs dieser langen Luftlinien bloß schmerzte, als ob sie mit dem Finger über eine Linealkante fahren müßte)- aus solchen Dingen hatte früher das Dasein bestanden und war nun mit einem- mal ihr zu eigen geworden, wie Fleisch von ihrem Fleische. Sie wußte nun, daß sie etwas Titanenhaftes tun werde; was es sein würde, vermochte sie noch nicht zu sagen, aber einstweilen empfand sie es am heftigsten bei Musik und hoffte dann, daß Walter ein noch größeres Genie sein werde als Nietzsche; von Ulrich zu schweigen, der später auftauchte und ihr bloß Nietzsches Werke geschenkt hatte. -149- Von da an war es vorwärts gegangen. Wie rasch, war nun gar nicht mehr zu sagen. Wie schlecht hatte sie früher Klavier gespielt, wie wenig von Musik vei standen; jetzt spielte sie besser als Wal- ter. Und wieviel Bücher hatte sie gelesen! Woher waren sie alle gekommen? Sie sah das vor sich wie schwarze Vögel, die in Scha- ren um ein kleines Mädchen flattern, das im Schnee steht. Aber etwas spatei sah sie eine schwarze Wand und weiße Flecken darin; schwarz war alles, was sie nicht kannte» und obgleich das Weiße zu kleinen und größeren Inseln zusammenlief, blieb das Schwarze unverändert unendlich. Von diesem Schwarz ging Angst und Auf- regung aus. »Es ist der Teufel?« dachte sie. »Ist der Teufel Moos- brugger geworden??« dachte sie. Zwischen den weißen Flecken bemerkte sie jetzt dünne graue Wege: so war sie in ihrem Leben von einem zum anderen gekommen; das waren Geschehnisse; Ab- reisen, Ankünfte, erregte Aussprachen, Kampf mit den Eltern, die Heirat, das Haus, unerhörtes Ringen mit Walter. Die dünnen grauen Wege schlängelten sich. »Schlangen!« dachte Ciarisse »Schlingen!« Diese Geschehnisse umschlangen sie, hielten sie fest, ließen sie nicht dorthin kommen, wohin sie wollte, waren schlüpf- rig und machten sie unversehens an einen Punkt schießen, den sie nicht wünschte. Schlangen, Schlingen, schlüpfrig: so lief das Leben. Ihre Gedan- ken fingen an zu laufen wie das Leben. Die Spitzen ihrer Finger tauchten in den Sturzbach der Musik, im Bachbett der Musik ka- men Schlangen und Schlingen herunter. Da tat sich rettend wie eine stille Bucht das Gefängnis auf, in dem Moosbrugger vei bor- gengehalten wurde. Clarissens Gedanken traten schaudernd in seine Zelle ein. »Man muß bis zum Ende Musik machen!« wieder- holte sie sich aufmunternd, aber ihr Herz zitterte heftig. Als es sich beruhigt hatte, war die ganze Zelle mit ihiem Ich angefüllt. Das war ein so mildes Gefühl wie eine Wundsalbe, aber als sie es für immer festhalten wollte, fing es sich zu öffnen an und auseinander- zuschieben wie ein Märchen oder ein Traum. Moosbrugger saß mit aufgestütztem Haupt, und sie löste seine Fesseln. Während sich ihre Finger bewegten, kam Kraft, Mut, Tugend, Güte, Schönheit, Reichtum in die Zelle, wie ein Wind, durch ihre Finger gerufen, der von verschiedenen Wiesen kommt. »Es ist ganz gleichgültig, warum ich das tun mag,« fühlte Ciarisse »wichtig ist nur, daß ich es jetzt tue!« Sie legte ihm ihre Hände, einen Teil ihres eigenen Kör- pers, auf die Augen, und als sie die Finger wegzog, war Moos- brugger ein schöner Jüngling geworden, und sie selbst stand als eine wunderbar schöne Frau neben ihm, deren Körper so süß und weich war wie Südwein und gar nicht widerspenstig, wie es der Körper der kleinen Ciarisse sonst war. »Es ist unsre Unschulds- -150- gestalt!« stellte sie in einer tief unten denkenden Schicht ihres Be- wußtseins fest. Aber warum war Walter nicht so?! Aufsteigend aus der Tiefe des Musiktraums, erinnerte sie sich, wie kindisch sie noch war, als sie Walter schon liebte, mit ihren fünfzehn Jahren damals, und ihn durch Mut, Stärke und Güte aus allen Gefahren retten wollte, die sein Genie bedrohten. Und wie schön es war, wenn Walter überall diese tiefen seelischen Gefahren erblickte! Und sie fragte sich, ob alles das nur kindisch gewesen sei? Die Heirat hatte es mit einem störenden Licht überstrahlt. Es war plötzlich eine große Verlegenheit für die Liebe aus dieser Heirat entstanden. Obgleich diese letzte Zeit natürlich auch wunderbar war, vielleicht inhalts- reicher und dingvoller als die vorangegangene, war doch der Rie- senbrand, das über den Himmel Hinflackernde zu den Schwierig- keiten eines Herdfeuers geworden, das nicht recht brennen will. Ciarisse war nicht ganz sicher, ob ihre Kämpfe mit Walter wirk- lich noch groß waren. Und das Leben lief wie diese Musik, die unter den Händen verschwand. Im Nu würde es vorüber sein! Heillose Angst kam allmählich über Ciarisse. Und in diesem Au- genblick bemerkte sie, wie Walters Spiel unsicher wurde. Wie große Regentropfen klatschte sein Gefühl in die Tasten. Sie er- riet sofort, woran er dachte: das Kind. Sie wußte, daß er sie mit einem Kind an sich anbinden wollte. Das war ihr Streit alle Tage. Und die Musik hielt keinen Augenblick still, die Musik kannte kein Nein. Wie ein Netz, dessen Umgarnung sie nicht bemerkt hatte, zog sich das rasend schnell zusammen. Da sprang Ciarisse mitten im Spiel auf und schlug das Klavier zu, so daß Walter kaum die Finger retten konnte. Oh, tat es weh! Noch ganz erschrocken, begriff er alles. Das war Ulrichs Kommen, das Ciarisse bloß schon durch die Ankün- digung in exzessive Gemütsstimmung brachte ! Er schädigte sie, in- dem er brutal das aufregte, was Walter selbst sich kaum anzu- rühren getraute, das unselig Genialische in Clarisse, die geheime Kaverne, wo etwas Unheilvolles an Ketten riß, die eines Tages nachlassen konnten. Er rührte sich nicht und sah Clarisse bloß fassungslos an. Und Clarisse gab keine Erklärungen, stand da und atmete heftig. Ganz und gar liebe sie Ulrich nicht, versicherte sie, nachdem Walter gesprochen. Wenn sie ihn lieben würde, würde sie es so- fort sagen. Aber sie fühle sich angesteckt durch ihn wie ein Licht. Sie fühle sich wieder etwas mehr leuchten und gelten, wenn er in der Nähe sei. Wogegen Walter nur jederzeit die Fensterladen schließen möchte. Und was sie fühle, ginge keinen an, Ulrich nicht und Walter nicht! -151- Aber Walter glaubte doch, zwischen Zorn und Entlastung, die aus ihren Worten atmeten, ein betäubendes tödliches Körnchen von etwas duften zu fühlen, das nicht Zorn war. Es war Abend geworden. Das Zimmer war schwarz. Das Kla- vier war schwarz. Die Schatten zweier sich liebenden Menschen waren schwarz. Clarissens Auge leuchtete im Dunkel, angesteckt wie ein Licht, und in dem vor Schmerz unruhigen Munde Walters schimmerte der Schmelz auf einem Zahn wie Elfenbein. Es schien, mochten draußen in der Welt auch die größten Staatsaktionen vor sich gehn, und trotz seiner Unannehmlichkeiten, einet thr Augen- blicke zu sein, um deretwillen Gott die Erde geschaffen hat. 39 Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann Allein Ulrich kam an diesem Abend nicht Nachdem ihn Direk- tor Fischel eilig verlassen hatte, beschäftigte ihn wieder die Frage seiner Jugend, warum alle uneigentlichen und im höheren Sinn unwahren Äußerungen von der Welt so unheimlich begün- stigt werden. »Man kommt gerade dann immer einen Schritt vor- wärts, wenn man lügt« dachte er; »das hätte ich ihm auch noch sa- gen sollen.« Ulrich war ein leidenschaftlicher Mensch, aber man darf dabei unter Leidenschaft nicht das verstehen, was man im einzelnen die Leidenschaften nennt. Es mußte wohl etwas gegeben haben, das ihn immer wieder in diese hineingetrieben hatte, und das war vielleicht Leidenschaft, aber im Zustand der Erregung und der erregten Handlungen selbst war sein Verhalten zugleich leiden- schaftlich und teilnahmslos. Er hatte so ziemlich alles mitgemacht, was es gibt, und fühlte, daß er sich noch jetzt jederzeit in etwas hineinstürzen könnte, das ihm gar nichts zu bedeuten brauchte, wenn es bloß seinen Aktionstrieb ieizte. Mit wenig Übertreibung durfte er darum von seinem Leben sagen, daß sich alles darin so vollzogen habe, wie wenn es mehr zueinander gehörte als zu ihm. Auf A war immer B gefolgt, ob das nun im Kampf oder in der Liebe geschah. Und so mußte er wohl auch glauben, daß die per- sönlichen Eigenschaften, die er dabei erwaib, mehr zueinander als zu ihm gehörten, ja jede einzelne von ihnen hatte, wenn er sich genau piüfte, mit ihm nicht inniger zu tun als .,üt anderen Men- schen, die sie auch besitzen mochten. Aber ohne Zweifel wird man trotzdem c 1 »ich sie bestimmt und - i r >2 - besteht aus ihnen, auch wenn man mit ihnen nicht einerlei ist, und so kommt man sich manchmal im ruhenden Verhalten genau so fremd vor wie im bewegten. Wenn Ulrich hätte sagen sollen, wie er eigentlich sei, er wäre in Verlegenheit geraten, denn er hatte sich so wie viele Menschen noch nie anders geprüft als an einer Aufgabe und im Verhältnis zu ihr. Sein Selbstbewußtsein war we- der beschädigt worden, noch war es verzärtelt und eitel, und es Laiiucc uiuu aas Jbcaürfnis nach jener Wiederinstandsetzung und Ölung, die man Gewissensforschung nennt. War er ein starker Mensch? Das wußte er nicht; darüber befand er sich vielleicht in einem verhängnisvollen Irrtum. Aber sicher war er immer ein Mensch gewesen, der seiner Kraft vertraute. Auch jetzt zweifelte er nicht daran, daß dieser Unterschied zwischen dem Haben der eigenen Erlebnisse und Eigenschaften und ihrem Fremdbleiben nur ein Haltungsunterschied sei, in gewissem Sinn ein Willens- beschluß oder ein gewählter Grad zwischen Allgemeinheit und Personhaftigkeit, auf dem man lebt. Ganz einfach gesprochen, man kann sich zu den Dingen, die einem widerfahren oder die man tut, mehr allgemein oder mehr persönlich verhalten. Man kann einen Schlag außer als Schmerz auch als Kränkung empfin- den, wodurch er unerträglich wächst; aber man kann ihn auch sportlich aufnehmen, als ein Hindernis, von dem man sich weder einschüchtern noch in blinden Zorn bringen lassen darf, und dann kommt es nicht selten vor, daß man ihn überhaupt nicht bemerkt. In diesem zweiten Fall ist aber nichts anderes geschehen, als daß man ihn m einen allgemeinen Zusammenhang, nämlich den der Kampfhandlung, eingeordnet hat, wobei sich sein Wesen abhängig von der Aufgabe erwies, die er zu erfüllen hat. Und gerade diese Erscheinung, daß ein Erlebnis seine Bedeutung, ja seinen Inhalt erst durch seine Stellung in einer Kette folgerichtiger Handlungen erhält, zeigt jeder Mensch, der es nicht als ein nur persönliches Geschehnis, sondern als eine Herausforderung seiner geistigen Kraft ansieht. Auch er wird, was er tut, dann schwächer empfin- den; aber wunderlicherweise nennt man das, was man beim Boxen als überlegene Geisteskraft empfindet, nur kalt und gefühllos, so- bald es bei Menschen, die nicht boxen können, aus Neigung zu einer geistigen Lebenshaltung entsteht. Es sind da eben noch allerhand Unterscheidungen gebräuchlich, um je nach der Lage ein allgemei- nes oder ein persönliches Verhalten anzuwenden und zu fordern. Einem Mörder wird es, wenn er sachlich vorgeht, als besondere Roheit ausgelegt; einem Professor, der in den Armen seiner Gat- tin an einer Aufgabe weiterrechnet, als knöcherne Trockenheit; einem Politiker, der über vernichtete Menschen in die Höhe steigt, je nach dem Erfolg als Gemeinheit oder Größe; von Soldaten, -153- Henkern und Chirurgen dagegen fordert man geradezu diese Un- ersdhütterlichkeit die man an anderen verurteilt. Ohne daß man sich weiter auf die Moral dieser Beispiele einzulassen brauchte, fällt die Unsicherheit auf, mit der jedesmal ein Kompromiß zwi- schen sachlich richtigem und persönlich richtigem Verhalten ge- schlossen wird. Diese Unsicherheit gab der persönlichen Frage Ulrichs einen weiten Hintergrund. Man ist früher mit besserem Gewissen Per- son gewesen als heute. Die Menschen glichen den Halmen im Ge- treide; sie wurden von Gott, Hagel, Feuersbrunst, Pestilenz und Krieg wahrscheinlich heftiger hin und her bewegt als jetzt, aber im ganzen, stadtweise, landstrichweise, als Feld, und was für den einzelnen Halm außerdem noch an persönlicher Bewegung übrig blieb, das ließ sich verantworten und war eine klar abgegrenzte Sache. Heute dagegen hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen. Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? Sie sind aufs Theater gegangen; in die Bücher, in die Berichte der Forschungsstätten und Forschungsreisen, in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften, die bestimmte Arten des Erlebens auf Kosten der anderen ausbilden wie in einem so- zialen Experimentalvcrsuch, und sofern die Erlebnisse sich nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der Luft; wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn sei, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er?! Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwor- tung sich in ein Formclsystem von möglichen Bedeutungen auf- lösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozen- trischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mit- telpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhun- derten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt; denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen. Es gibt wohl noch Leute, die ganz persön- lich leben; sie sagen »Wir waren gestern bei dem und dem« oder »Wir machen heute das und das«, und ohne daß es sonst noch In- halt und Bedeutung zu haben brauchte, freuen sie sich darüber. Sie lieben alles, was mit ihren Fingern in Berührung tritt, und sind so rein Privatperson, wie das nur möglich ist; die Welt wird Privatwelt, sobald sie mit ihnen zu tun bekommt, und leuchtet wie ein Regenbogen. Vielleicht sind sie sehr glücklich; aber diese Art - 134- Leute erscheint den anderen gewöhnlich schon absurd, obgleich es noch keineswegs sicher ist, warum. — Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben. 40 Ein Mann mit allen Eigenschaf te?i, aber sie sind ihm gleichgültig. Ein Fürst des Geistes wird verhaftet, und die Parallelaktion erhält ihren Ehrensekretär Es ist nicht schwer, diesen zweiunddreißigj ährigen Mann Ulrich in seinen Grundzügen zu beschreiben, auch wenn er von sich selbst nur weiß, daß er es gleich nah und weit zu allen Eigen- schaften hätte und daß sie ihm alle, ob sie nun die seinen geworden sind oder nicht, in einer sonderbaren Weise gleichgültig sind. Mit der seelischen Beweglichkeit, die einfach eine sehr mannigfaltige Anlage zur Voraussetzung hat, verbindet sich bei ihm noch eine gewisse Angriffslust. Er ist ein männlicher Kopf. Er ist nicht emp- findsam für andere Menschen und hat sich selten in sie hinein ver- setzt, außer um sie für seine Zwecke kennen zu lernen. Er achtet Rechte nicht, wenn er nicht den achtet, der sie besitzt, und das ge- schieht selten. Denn es hat sich mit der Zeit eine gewisse Bereit- schaft zur Verneinung in ihm entwickelt, eine biegsame Dialektik des Gefühls, die ihn leicht dazu verleitet, in etwas, das allgemein gut geheißen wird, einen Schaden zu entdecken, dagegen etwas Verbotenes zu verteidigen und Pflichten mit dem Unwillen abzu- lehnen, der aus dem Willen zur Schaffung eigener Pflichten her- vorgeht. Trotz dieses Willens überläßt er aber seine moralische Führung, mit gewissen Ausnahmen, die er sich gestattet, einfach jenem ritterlichen Anstand, der in der bürgerlichen Gesellschaft so ziemlich alle Männer leitet, solange sie in geordneten Verhält- nissen leben, und führt auf diese Weise mit dem Hochmut, der Rücksichtslosigkeit und Nachlässigkeit eines Menschen, der zu sei- ner Tat berufen ist, das Leben eines änderen Menschen, der von seinen Neigungen und Fähigkeiten einen mehr oder weniger ge- wöhnlichen, nützlichen und sozialen Gebrauch macht Er war es gewohnt, sich aus natürlichem Trieb und ohne Eitelkeit für das Werkzeug zu einem nicht unbedeutenden Zweck zu halten, den er schon noch rechtzeitig zu erfahren gedachte, und selbst jetzt, in diesem begonnenen Jahr der suchenden Unruhe, nachdem er das steuerlose Tieiben seines Lebens eingesehen hatte, stellte sich bald -155- wieder das Gefühl ein, auf dem Wege zu sein, und er gab sich mit seinem Plan gar keine besondere Mühe. Es ist nicht ganz leicht, in einer solchen Natur die sie treibende Leidenschaft zu erkennen; Anlage und Umstände haben sie vieldeutig geformt, ihr Schick- sal ist noch durch keinen wirklich harten Gegendruck entblößt worden, die Hauptsache ist aber, daß ihr zur Entscheidung noch etwas fehlt, das ihr unbekannt ist. Ulrich ist ein Mensch, der von irgend etwas gezwungen wird, gegen sich selbst zu leben, obgleich er sich scheinbar ohne Zwang gehen läßt. Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Ver- suchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, duichgeprobt und neue entdeckt werden müßten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. Daß das Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und daß die Leiter und die Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte auf ein anderes Blatt. Man konnte ja wohl sagen, daß er selbst so etwas wie ein Fürst und Herr des Geistes hätte werden wollen: Wer allerdings nicht?! Es ist so natürlich, daß der Geist als das Höchste und über allem Herrschende gilt. Es wird gelehrt. Was kann, schmückt sich mit Geist, verbrämt sich. Geist ist, in Verbindung mit irgendetwas, das Verbreitetste, das es gibt. Der Geist der Treue, der Geist der Liebe, ein männlicher Geist, ein gebildeter Geist, der größte Geist der Gegenwart, wir wollen den Geist dieser und jener Sache hochhalten, und wir wol- len im Geiste unserer Bewegung handeln: wie fest und unanstößig klingt das bis in die untersten Stufen. Alles übrige, das alltägliche Verbrechen oder die emsige Eiwerbsgier, erscheint daneben als das Uneingestandene, der Schmutz, den Gott aus seinen Zehen- nägeln entfernt. Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, — wie ist es dann? Man kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bil- der kaufen und nächteweise Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte," hindurch und läßt nur ein wenig Er- schütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? Er wird auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astrono- mischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt, wird ebenso un- ablässig unter riesenhaftem Verbrauch von nervöser Energie auf- genommen und genossen: Aber was geschieht dann mit ihm? Ver- schwindet er wie ein Trugbild? Löst er sich in Partikel auf? Ent- zieht er sich dem irdischen Gesetz der Erhaltung? Die Staub- -156- teilchen, die in uns hinabsinken und langsam zur Ruhe kommen, stehen in keinem Verhältnis zu dem Aufwand. Wohin, wo, was ist er? Vielleicht würde es, wenn man mehr davon wüßte, be- klommen still werden um dieses Hauptwort Geist?! Es war Abend geworden; Häuser, wie aus dem Raum gebrochen, Asphalt, Stahlschienen bildeten die erkaltende Muschel Stadt. Die Muttermuschel, voll kindlicher, freudiger, zorniger Menschenbe- wegung. Wo jeder Tropf als Tröpfchen anfängt, das sprüht und spritzt; mit einem Explosiönchen beginnt, von den Wänden auf- gefangen und abgekühlt wird, milder, unbeweglicher wird, zärt- lich an der Schale der Muttermuschel hängen bleibt und schließ- lich zu einem Körnchen an ihrer Wand erstarrt. »Warum« dachte Ulrich plötzlich »bin ich nicht Pilger geworden?« Reine, unbedingte Lebensweise, zehrend frisch wie ganz klare Luft, lag vor seinen Sinnen; wer das Leben nicht bejahen will, sollte wenigstens das Nein des Heiligen sagen: und doch war es einfach unmöglich, ernsthaft daran zu denken. Ebensowenig konnte er Abenteurer werden, obgleich da das Leben etwas von einer immerwährenden Brautzeit haben mochte und seine Glieder wie sein Mut diese Lust spürten. Er hatte weder Dichter werden können noch einer von den Enttäuschten, die nur an Geld und Gewalt glauben, obgleich er zu allem eine Anlage hatte. Er vergaß sein Alter, er stellte sich vor, er wäre zwanzig: trotzdem war es innerlich ebenso entschie- den, daß er davon nichts werden konnte; zu allem, was es gab, zog ihn etwas hin, und etwas Stärkeres ließ ihn nicht dazu kommen. Warum lebte er also unklar und unentschieden? Ohne Zweifel, — sagte er sich — was ihn in eine abgeschiedene und unbenannte Da- seinsform bannte, war nichts als der Zwang zu jenem Lösen und Binden der Welt, das man mit einem Wort, dem man nicht gerne allein begegnet, Geist nennt. Und Ulrich wußte selbst nicht war- um, aber er wurde mit einemmal traurig und dachte: »Ich liebe mich einfach selbst nicht.« In dem erfrorenen, versteinten Körper der Stadt fühlte er ganz zu innerst sein Herz schlagen. Da war'et- was in ihm, das hatte nirgends bleiben wollen, hatte sich die Wände der Welt entlang gefühlt und gedacht, es gibt ja noch Mil- lionen anderer Wände; dieser langsam erkaltende, lächerliche Tropfen Ich, der sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben wollte. Der Geist hat erfahren, daß Schönheit gut, schlecht, dumm oder bezaubernd macht. Er zerlegt ein Schaf und einen Büßer und fin- det in beiden Demut und Geduld. Er untersucht einen Stoff und erkennt, daß er in großen Mengen ein Gift, in kleineren ein Ge- nußmittel sei. Er weiß, daß die Schleimhaut der Lippen mit der Schleimhaut des Darms verwandt ist, weiß aber auch, daß die De- -157- mut dieser Lippen mit der Demut alles Heiligen verwandt ist. Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstel- lungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden. Er hat es den Jahrhunderten abgelernt, daß Laster zu Tugenden und Tu- genden zu Lastern werden können, und halt es im Grunde bloß für eine Ungeschicklichkeit, wenn man es noch nicht fertigbringt, in der Zeit eines Lebens aus einem Verbrecher einen nützlichen Menschen zu machen. Er anerkennt nichts Unerlaubtes und nichts Erlaubtes, denn alles kann eine Eigenschaft haben, durch die es eines Tages teil hat an einem großen, neuen Zusammenhang. Er haßt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen ver- steinten Abdruck, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung; weil unsre Kenntnisse sich mit jedem Tag ändern können, glaubt er an keine Bindung, und alles besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nächsten Akt der Schöp- fung, wie ein Gesicht, zu dem man spricht, während es sich mit den Worten verändert. So ist der Geist der große Jenachdem-Macher, aber er selbst ist nirgends zu fassen, und fast könnte man glauben, daß von seiner Wirkung nichts als Zerfall übrigbleibe. Jeder Fortschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist das ein Zuwachs an Macht, der in einen fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen. Ulrich fühlte sich an diesen fast stündlich wachsenden Leib von Tatsachen und Entdeckungen erinnert, aus dem der Geist heute herausblicken muß, wenn er irgendeine Frage genau betrachten will. Dieser Kör- per wächst dem Inneren davon. Unzählige Auffassungen, Mei- nungen, ordnende Gedanken aller Zonen und Zeiten, aller Formen gesunder und kranker, wacher und träumender Hirne durchziehen ihn zwar wie Tausende kleiner empfindlicher Nervenstränge, aber der Strahlpunkt, wo sie sich vereinen, fehlt. Der Mensch fühlt die Gefahr nahe, wo er das Schicksal jener Riesentierrassen der Vor- zeit wiederholen wird, die an ihrer Größe zugrundegegangen sind; aber er kann nicht ablassen. — Dadurch wurde nun Ulrich wieder an jene recht fragwürdige Vorstellung erinnert, die er lange Zeit geglaubt und selbst heute noch nicht ganz in sich ausgemerzt hatte, daß die Welt am besten von einem Senat der Wissenden und Vor- geschrittenen gelenkt würde. Es ist ja sehr natürlich, zu denken, daß der Mensch, der sich von fachlich gebildeten Ärzten behandeln läßt, wenn er krank ist, und nicht von Schafhirten, keinen Grund hat, wenn er gesund ist, sich von hirtenähnlichen Schwätzern be- - I5S - handeln zu lassen, wie er es in seinen öffentlichen Angelegen- heiten tut, und junge Menschen, denen an den wesenhaften In- halten des Lebens gelegen ist, halten darum anfangs alles auf der Welt, was weder wahr, noch gut, noch schön ist, also zum Beispiel auch eine Finanzbehörde oder eben eine Parlamentsdebatte, für nebensächlich; wenigstens waren sie damals so, denn heute sollen sie ja dank der politischen und wirtschaftlichen Erziehung anders sein. Aber auch damals lernte man, wenn man älter wurde und bei längerer Bekanntschaft mit der Räucherkammer des Geistes, in der die Welt ihren geschäftlichen Speck selcht, sich der Wirk- lichkeit anzupassen, und der endgültige Zustand eines geistig an- gebildeten Menschen war ungefähr der, daß er sich auf sein »Fach« beschränkte und für den Rest seines Lebens die Überzeugung mit- nahm, das Ganze sollte ja vielleicht anders sein, aber es habe gar keinen Zweck, darüber nachzudenken. So ungefähr sieht das in- nere Gleichgewicht der Menschen aus, die geistig etwas leisten. Und mit einemmal stellte sich Ulrich das Ganze komischer Weise in der Frage dar, ob es nicht am Ende, da es doch sicher genug Geist gebe, bloß daran fehle, daß der Geist selbst keinen Geist habe? Er wollte darüber lachen. Er war ja selbst einer von diesen Verzichtenden. Aber enttäuschter, noch lebendiger Ehrgeiz fuhr durch ihn wie ein Schwert. Zwei Ulriche gingen in diesem Augen- blick. Der eine sah sich lächelnd um und dachte: »Da habe ich also einmal eine Rolle spielen wollen, zwischen solchen Kulissen wie diesen. Ich bin eines Tages erwacht, nicht weich wie in Mutters Körbchen, sondern mit der harten Überzeugung, etwas ausrichten zu müssen. Man hat mir Stichworte gegeben, und ich habe gefühlt, sie gehen mich nichts an. Wie von flimmerndem Lampenfieber war damals alles mit meinen eigenen Vorsätzen und Erwartungen aus- gefüllt gewesen. Unmerklich hat sich aber inzwischen der Boden gedreht, ich bin ein Stück meines Weges voran gekommen und stehe vielleicht schon beim Ausgang. Über kurz wird es mich hin- ausgedreht haben, und ich werde von meiner großen Rolle gerade gesagt haben: ,Die Pferde sind gesattelt.' Möge euch alle der Teu- fel holen!« Aber während der eine mit diesen Gedanken lächelnd durch den schwebenden Abend ging, hielt der andre die Fäuste geballt, in Schmerz und Zorn; er war der weniger sichtbare, und woran er dachte, war, eine Beschwörungsformel zu finden, einen Griff, den man vielleicht packen könnte, den eigentlichen Geist des Geistes, das fehlende, vielleicht nur kleine Stück, das den zer- brochenen Kreis schließt. Dieser zweite Ulrich fand keine Worte zu seiner Verfügung. Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt -159- man ihrer freundlichen Vermittlung. Der Boden strömte unter seinen Füßen. Er konnte die Augen kaum öffnen. Kann ein Ge- fühl blasen wie ein Sturm und doch ganz und gar kein stürmisches Gefühl sein? Wenn man von einem Sturm des Gefühls spricht, meint man einen, wo die Rinde des Menschen ächzt und die Äste des Menschen fliegen, als sollten sie abbrechen. Das aber war ein Sturm bei ganz ruhig bleibender Oberfläche. Nur beinahe ein Zu- stand der Bekehrung, der Umkehrung; keine Miene verschob sich von ihrem Platz, aber innen schien kein Atom an seiner Stelle zu bleiben. Ulrichs Sinne waren klar, doch wurde jeder begegnende Mensch vom Auge anders als sonst aufgenommen, und jeder Ton vom Ohr. Man konnte nicht sagen schärfer; eigentlich auch nicht tie- fer, noch weicher, nicht natürlicher oder unnatürlicher. Ulrich konnte gar nichts sagen, aber er dachte in diesem Augenblick an das sonder- bare Erlebnis »Geist« wie an eine Geliebte, von der man zeitlebens betrogen wird, ohne sie weniger zu lieben, und es verband ihn mit allem, was ihm begegnete. Denn wenn man liebt, ist alles Liebe, auch wenn es Schmerz und Abscheu ist Der kleine Zweig am Baum und die blasse Fensterscheibe im Abendlicht wurden zu einem tief ins eigene Wesen versenkten Erlebnis, das sich kaum mit Worten aussprechen ließ. Die Dinge schienen nicht aus Holz und Stein, sondern aus einer grandiosen und unendlich zarten Imrnoralität zu bestehen, die in dem Augenblick, wo sie sich mit ihm berührte, zu tiefer moralischer Erschütterung wurde. Das hatte die Dauer eines Lächelns, und eben dachte Ulrich* »Nun will ich einmal da bleiben, wohin es mich getragen hat«, als es das Unglück wollte, daß diese Spannung an einem Hindernis zerschellte. Was nun geschah, stammt in der Tat aus einer völlig anderen Welt, als es die war, in der Ulrich soeben noch Baum und Stein wie eine empfindsame Fortsetzung seines eigenen Leibes erlebt hatte. Denn ein Arbeiterblatt hatte, wie Graf Leinsdorf das nennen würde, destruktiven Speichel über die Große Idee ergossen, indem es behauptete, daß diese sich bloß als eine neue Sensation der Herrschenden an den letzten Lustmord reihe, und ein braver Ar- beiter, der ein wenig viel getrunken hatte, fühlte sich dadurch ge- reizt Er war an zwei Bürger gestreift, die sich mit den Geschäf- ten des Tages zufrieden fühlten und im Bewußtsein, daß gute Ge- sinnung sich jederzeit zeigen dürfe, ziemlich laut ihr Einverständ- nis mit der vaterländischen Aktion austauschten, von der sie in ihrer Zeitung gelesen hatten. Es entstand ein Wortwechsel, und weil die Nähe eines Schutzmanns die Gutgesinnten ebenso ermu- tigte, wie sie den Angreifer reizte, nahm dieser Auftritt immer -160- heftigere Formen an. Der Schutzmann betrachtete ihn erst über die Schulter, später von vorn und dann aus der Nähe; er wohnte ihm beobachtend bei wie ein hervorstehender Ausläufer des eiser- nen Hebelwerks Staat, der in Knöpfen und andren Metaliteilen endet. Nun hatte der ständige Lebensaufenthalt in einem wohl- geordneten Staat aber durchaus etwas Gespenstisches; man kann weder auf die Straße treten, noch ein "Glas Wasser trinken oder die Elektrische besteigen, ohne die ausgewogenen Hebel eines rie- sigen Apparats von Gesetzen und Beziehungen zu berühren, sie in Bewegung zu setzen oder sich von ihnen in der Ruhe seines Da- seins erhalten zu lassen; man kennt die wenigsten von ihnen, die tief ins Innere greifen, während sie auf der anderen Seite sich in ein Netzwerk verlieren, dessen ganze Zusammensetzung über- haupt noch kein Mensch entwirrt hat; man leugnet sie deshalb, so wie der Staatsbürger die Luft leugnet und von ihr behauptet, daß sie die Leere sei, aber scheinbar liegt gerade darin, daß alles Geleugnete, alles Färb-, Geruch-, Geschmack-, Gewicht- und Sit- tenlose wie Wasser, Luft, Raum, Geld und Dahingehn der Zeit in Wahrheit das Wichtigste ist, eine gewisse Geisterhaftigkeit des Lebens; es kann den Menschen zuweilen eine Panik erfassen wie im willenlosen Traum, ein Bewegungssturm tollen Umsichschla- gens wie ein Tier, das in den unverständlichen Mechanismus eines Netzes geraten ist. Eine solche Wirkung übten die Knöpfe des Schutzmanns auf den Arbeiter aus, und in diesem Augenblick schritt das Staatsorgan, das sich nicht in der gebührenden Weise geachtet fühlte, zur Verhaftung. Sie verlief nicht ohne Widerstand und wiederholte Kundgebun- gen aufrührerischer Gesinnung. Das erregte Aufsehen und schmei- chelte dem Betrunkenen, und eine bis dahin verheimlichte völlige Abneigung gQg^n das Mitgeschöpf zeigte sich entfesselt. Ein lei- denschaftlicher Kampf um Geltung begann. Ein höheres Gefühl von seinem Ich setzte sich mit einem unheimlichen Gefühl ausein- ander, als wäre er nicht fest in seiner Haut. Auch die Welt war nicht fest; sie war ein unsicherer Hauch, der sich immerzu defor- mierte und die Gestalt wechselte. Häuser standen schief aus dem Raum gebrochen; lächerliche, wimmelnde, doch geschwisterliche Tröpfe waren dazwischen die Menschen. Ich bin berufen, bei ihnen Ordnung zu machen, fühlte der ungewöhnlich Betrunkene. Der ganze Schauplatz war von etwas Flimmerndem ausgefüllt, irgend- ein Stück Weg des Geschehens kam klar auf ihn zu, aber dann drehten sich wieder die Wände. Die Augenachsen standen wie Stiele aus dem Kopf, während die Fußsohlen die Erde festhielten Ein wundersames Strömen aus dem Mund hatte begonnen; Worte kamen aus dem Inneren herauf, von denen nicht zu begreifen war, II Musil, Mann - 161 - wie sie vorher hineingekommen waren, möglicherweise waren es Schimpfworte. Das ließ sich nicht so genau unterscheiden. Außen und Innen stürzten ineinander. Der Zorn war kein innerer Zorn, sondern bloß das bis zum Rasen erregte leibliche Gehäuse des Zorns, und das Gesicht eines Schutzmanns näherte sich ganz lang- sam einer geballten Faust, bis es blutete. Aber auch der Schutzmann hatte sich inzwischen verdreifacht; mit den hinzueilenden Sicherheitsbeamten waren Menschen zu- sammengelaufen, der Betrunkene hatte sich zur Erde geworfen und wollte sich nicht festnehmen lassen. Da beging Ulrich eine Un- vorsichtigkeit. Er hatte aus dem Auflauf das Wort »Majestätsbe- leidigung« vernommen und bemerkte, daß dieser Mensch in sei- nem Zustand nicht imstande sei, eine Beleidigung zu begehen, und daß man ihn schlafen schicken solle. Er dachte sich nicht viel dabei, aber er kam an die Unrechten. Der Mann schrie nun, daß ihn so- wohl Ulrich wie die Majestät . . .! — und ein Schutzmann, der die Schuld an diesem Rückfall offenbar der Einmischung zuschrieb, forderte Ulrich barsch auf, sich weiterzuscheren. Nun war es dieser aber ungewohnt, den Staat anders zu betrachten als ein Hotel, in dem man Anspruch auf höfliche Bedienung hat, und verbat sich den Ton, in dem man zu ihm sprach, was unerwarteterweise die Schutzmannschaft zu der Einsicht brachte, daß ein Betrunkener für die Anwesenheit von drei Schutzleuten nicht genüge, so daß sie Ulrich gleich auch mitnahmen. Die Hand eines Uniformierten umspannte seinen Arm. Sein Arm war beiweitem stärker als diese beleidigende Umklamme- rung, aber er durfte sie nicht sprengen, wenn er sich nicht in einen aussichtslosen Boxkampf mit der bewaffneten Staatsgewalt ein- lassen wollte, so daß ihm schließlich nichts anderes übrigblieb, als höflich darum zu ersuchen, daß man ihn freiwillig mitgehen lasse. Die Wachstube befand sich im Gebäude eines Polizeikom- missariats, und als er sie betrat, fühlte sich Ulrich durch Boden und Wände an eine Kaserne erinnert; der gleiche düstere Kampf zwischen hartnäckig hineingetragenem Schmutz und groben Rei- nigungsmitteln erfüllte sie. Als nächstes bemerkte er darin das eingesetzte Symbol ziviler Herrschaft, zwei Schreibtische mit einer Balustrade, an der einige Säulchen fehlten, Schreibkisten eigent- lich, mit zerrissenem und verbranntem Tuchbelag, auf ganz niedri- gen, kugeligen Füßen ruhend und zur Zeit Kaiser Ferdinands mit gelbbraunem Lack poliert, von dem nur noch die letzten Blätter am Holz hingen. Ais drittes erfüllte das dicke Gefühl den Raum, daß man hier zu warten habe, ohne fragen zu dürfen. Sein Schutz- mann stand, nachdem er den Grund der Verhaftung gemeldet hatte, wie eine Säule neben Ulrich, Ulrich versuchte, sofort irgend- -162- eine Aufklärung zu geben, der Wachtmeister und Befehlshaber dieser Festung hob ein Auge von einem Aktenbogen, auf dem er schon geschrieben hatte, als das Geleite eingetreten war, musterte Ulrich, dann senkte sich das Auge wieder, und der Beamte fuhr wortlos fort, auf seinem Aktenbogen zu schreiben. Ulrich hatte den Eindruck der Unendlichkeit. Dann schob der Wachtmeister den Bogen zur Seite, griff ein Buch vom Bord, trug etwas ein, streute Sand darauf, legte das Buch zurück, nahm ein anderes, trug ein, streute, zog ein Aktenbündel aus einem Stoß ähnlicher hervor und setzte seine Tätigkeit an diesem fort. Ulrich hatte den Eindruck, daß eine zweite Unendlichkeit abrollte, während deren die Ge- stirne regelmäßig kreisten, ohne daß er auf der Welt sei. Aus der Kanzlei führte eine geöffnete Türe in einen Gang, an dem die Kotter lagen. Dorthin hatte man sogleich Ulrichs Schütz- ling geführt, und da man weiter nichts von ihm hörte, mochte ihm sein Rausch wohl die Segnung des Schlafs geschenkt haben; aber unheimliche andere Vorgänge waren zu spüren. Der Flur mit den Zellen mußte noch einen zweiten Eingang besitzen; Ulrich hörte wiederholt schweres Kommen und Gehn, Türenschlagen, unter- drückte Stimmen, und mit einemmal, als wieder ein Mensch ein- geliefert wurde, hob sich eine solche Stimme, und Ulrich hörte sie verzweifelt flehen: »Wenn Sie auch nur einen Funken mensch- lichen Gefühls haben, verhaften Sie mich nicht!« Die Worte kipp- ten über, und er klang merkwürdig unangebracht, fast zum La- chen, dieser Weckruf an einen Funktionär, er solle Gefühl haben, da doch Funktionen nur sachlich vollzogen werden. Der Wacht- meister hob für einen Augenblick den Kopf, ohne ganz von seinen Akten zu lassen. Ulrich hörte das heftige Scharren vieler Füße, deren Körper offenbar stumm einen widerstrebenden Körper drängten. Dann taumelte allein der Laut zweier Füße wie nach einem Stoß. Dann schlug eine Tür heftig ins Schloß, ein Riegel klirrte, der Mann in Uniform am Schreibtisch hatte schon wieder den Kopf gebeugt, und in der Luft lag das Schweigen eines Punk- tes, der an der richtigen Stelle hinter einen Satz gesetzt worden ist. Aber Ulrich schien sich in der Annahme, daß er selbst für den Kosmos der Polizei noch nicht erschaffen sei, geirrt zu haben, denn mit dem nächsten Heben des Kopfes blickte der Wachtmeister nun ihn an, die zuletzt geschriebenen Zeilen blieben feucht glänzen, ohne daß sie gelöscht wurden, und der Fall Ulrich zeigte sich mit einemmal als schon seit längerer Zeit ins hieramtliche Dasein ge- treten. Name? Alter? Beruf? Wohnung? . . . : Ulrich wurde befragt. Er glaubte, in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unper- sönliche, allgemeine Bestandteile zergliederte, ehe von seiner Schuld oder Unschuld auch nur die Rede war. Sein Name, diese -163- zwei vorstellungsärmsten, aber gefühlsreichsten Worte der Spra- che, sagte hier gar nichts. Seine Arbeiten, die ihm in der wissen- schaftlichen Welt, die doch sonst für solid gilt, Ehre eingetragen hatten, waren in dieser Welt hier nicht vorhanden; er wurde nicht ein einziges Mal nach ihnen gefragt. Sein Gesicht galt nur als Signalement; er hatte den Eindruck, nie früher bedacht zu haben, daß seine Augen graue Augen waren, eines von den vorhandenen vier, amtlich zugelassenen Augenpaaren, das es in Millionen Stük- ken gab; seine Haare waren blond, seine Gestalt groß, sein Ge- sicht oval, und besondere Kennzeichen hatte er keine, obgleich er selbst eine andere Meinung davon besaß. Nach seinem Gefühl war er groß, seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß wie ein gewölbtes Segel am Mast, und die Gelenke seines Korpers schlös- sen wie schmale Stahlglieder die Muskeln ab, sobald er sich ärgerte, stritt oder Bonadea sich an ihn schmiegte; er war dagegen schmal, zart, dunkel und weich wie eine im Wasser schwebende Meduse, sobald er ein Buch las, das ihn ergriff, oder von einem Atem der heimatlosen großen Liebe gestreift wurde, deren In-der-Welt- Sein er niemals hatte begreifen können Er besaß darum selbst in diesem Augenblick noch Sinn für die statistische Entzauberung seiner Person, und das von dem Polizeiorgan auf ihn angewandte Maß- und Beschreibungsverfahren begeisterte ihn wie ein vom Satan erfundenes Liebesgedicht. Das Wunderbarste daran war. daß die Polizei einen Menschen nicht nur so zergliedern kann, daß von ihm nichts übrigbleibt, sondern daß sie ihn aus diesen nich- tigen Bestandteilen auch wieder unverwechselbar zusammensetzt und an ihnen erkennt. Es ist für diese Leistung nur nötig, daß etwas Unwägbares hinzutritt, das sie Verdacht nennt. Ulrich begriff mit einemmal, daß er sich nur durch kälteste Klugheit aus der Lage ziehen könne, in die er durch seine Torheit geraten war. Man befragte ihn weiter. Er stellte sich vor, welche Wirkung es haben würde, wenn er, nach seiner Wohnung gefragt, antworten wollte, meine Wohnung ist die einer mir fremden Per- son? Oder auf die Frage, warum er getan habe, was er getan hatte, erwiderte, er tue immer etwas anderes als das, worauf es ihm wirklich ankomme? Aber nach außen gab er brav Straße und Hausnummer an und versuchte eine entschuldigende Darstellung seines Verhaltens zu erfinden. Die innere Autorität des Geistes war dabei in einer äußerst peinlichen Weise ohnmächtig gegen- über der äußeren Autorität des Wachtmeisters. Endlich erspähte er trotzdem eine rettende Wendung. Noch als er, nach seinem Be- ruf gefragt, »privat« angab — Privatgelehrter hätte er nicht über die Lippen gebracht — hatte er einen Blick auf sich ruhen gefühlt, der genau so dreinsah. als ob er »obdachlos« gesagt hätte; aber als -164- nun bei der Abgabe des Nationales sein Vater darankam und es in Erscheinung trat, daß er Mitglied des Herrenhauses sei, da wurde das ein anderer Blick. Er war noch immer mißtrauisch, aber irgendetwas gab Ulrich sofort ein Gefühl, wie wenn ein von Mee- reswogen hin und her gewalzter Mann mit der großen Zehe festen Grund streift. Mit rasch erwachender Geistesgegenwart nützte er es aus. Er schwächte augenblicklich alles ab, was er schon zugege- ben hatte, setzte der Autorität von Ohren, die sich im Eideszustand des Dienstes befunden hatten, das nachdrückliche Verlangen ent- gegen, vom Kommissär selbst vernommen zu werden, und als dies bloß Lächeln hervorrief, log er — in glücklich gefundener Natür- lichkeit, sehr nebenbei und bereit, die Behauptung sogleich wieder zu verreden, falls man ihm aus ihr die Schlinge eines genaue An- gaben heischenden Fragezeichens drehen sollte — daß er der Freund des Grafen Leinsdorf und Sekretär der großen patrio- tischen Aktion sei, von der man in den Zeitungen wohl gelesen haben werde. Er konnte sogleich bemerken, daß er damit jene ernstere Nachdenklichkeit über sein Wesen erregte, die ihm bisher versagt geblieben war, und hielt seinen Vorteil fest. Die Folge war, daß der Wachtmeister ihn erzürnt musterte, weil er weder die Verantwortung übernehmen wollte, diesen Fang länger zu- rückzubehalten, noch ihn laufen zu lassen; und weil um diese Stunde kein höherer Beamter im Hause war, verfiel er auf einen Ausweg, der dem einfachen Wachtmeister ein schönes Zeugnis darüber ausstellte, daß er von der Art, wie seine vorgesetzten Konzeptsbeamten unangenehme Akten behandelten, etwas gelernt hatte. Er setzte eine wichtige Miene auf und äußerte ernste Ver- mutungen, daß sich Ulrich nicht nur der Wachebeleidigung und Störung einer Amtshandlung schuldig gemacht habe, sondern ge- rade wenn man die Stellung bedenke, die er einzunehmen be- haupte, auch unaufgeklärter, vielleicht politischer Umtriebe ver- dächtig sei, weshalb er sich damit vertraut zu machen habe, der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums übergeben zu werden. So fuhr Ulrich wenige Minuten später in einem Wagen, den man ihm verstattet hatte, durch die Nacht dahin, einen wenig zu Gespräch geneigten Zivilschutzmann an seiner Seite. Als sie sich dem Polizeipräsidium näherten, sah der Verhaftete die Fenster des ersten Stockwerks festlich erleuchtet, denn es fand eine wichtige Sitzung beim obersten Chef noch zu später Stunde statt, das Haus war kein finsterer Stall, sondern glich einem Ministerium, und er atmete bereits eine vertrautere Luft. Er bemerkte auch bald, daß der Beamte vom Nachtdienst, dem er vorgeführt wurde, rasch den Unsinn erkannte, den das gereizte periphere Organ mit seiner Anzeige angerichtet hatte; dennoch schien es ungemein unange- -165- zeigt zu sein, einen Menschen aus den Fängen der Gerechtigkeit zu entlassen, der die Unbekümmertheit besessen hatte, selbst in sie hineinzurennen. Auch der Beamte des Präsidiums trug in seinem Gesicht eine eiserne Maschine und versicherte dem Gefangenen, daß seine Unüberlegtheit es äußerst schwer erscheinen lasse, eine Enthaftung zu verantworten. Dieser hatte schon zweimal alles vorgebracht, was so gunstig auf den Wachtmeister gewirkt hatte, aber dem höher stehenden Beamten gegenüber blieb das vergeb- lich, und Ulrich wollte seine Sache schon verlorengeben, als mit einemmal in das Gesicht seines Richters eine merkwürdige, fast glückliche Veränderung kam. Er betrachtete die Anzeige noch ein- mal genau, ließ sich Ulrichs Namen noch einmal vorsprechen, ver- sicherte sich seiner Adresse und ersuchte ihn höflich, einen Augen- blick zu warten, während er das Zimmer verließ. Es dauerte zehn Minuten, bis er wie ein Mensch wiederkam, der sich an etwas Angenehmes erinnert hat, und den Arrestanten nun schon auf- fallend höflich einlud, ihm zu folgen. An der Türe eines der er- leuchteten Zimmer im oberen Stockwerk sagte er nichts weiter als »Der Herr Polizeipräsident wünscht Sie selbst zu sprechen«, und im nächsten Augenblick stand Ulrich vor einem aus dem benach- barten Sitzungssaal gekommenen Herrn mit dem geteilten Backen- bart, den er nun schon kannte. Er war entschlossen, seine An- wesenheit als einen Mißgriff des Reviers mit sanftem Vorwurf zu erklären, aber der Präsident kam ihm zuvor und begrüßte ihn mit den Worten: »Ein Mißverständnis, lieber Doktor, der Herr Kom- missär hat mir schon alles erzählt. Trotzdem müssen wir Sie in eine kleine Strafe nehmen, denn — « Er sah ihn bei diesen Worten schelmisch an (soweit schelmisch von einem höchsten Polizeibeam- ten überhaupt gesagt werden darf), als wolle er ihn selbst das Rätsel erraten lassen. Ulrich erriet es jedoch durchaus nicht. »Seine Erlaucht!« half der Präsident. »Seine Erlaucht Graf Leinsdorf« fügte er hinzu »hat sich erst vor wenigen Stunden bei mir auf das lebhafteste nach Ihnen er- kundigt.« Ulrich begriff erst zur Hälfte. »Sie stehn nicht im Adreßbuch, Herr Doktor!« erläuterte der Präsident mit scherzhaftem Vorwurf, als wäre nur das Ulrichs Verbrechen. Ulrich verbeugte sich, gemessen lächelnd. »Ich nehme an, daß Sie morgen Seiner Erlaucht in einer An- gelegenheit von großer öffentlicher Wichtigkeit Ihren Besuch machen müssen, und bringe es nicht über mich, Sie durch Einker- kerung daran zu hindern.« So schloß der Herr der eisernen Ma- schine seinen kleinen Scherz. -166- Man darf annehmen, daß der Präsident die Verhaftung in jedem anderen Falle auch als unrecht empfunden hätte und daß der Kommissär, der sich zufällig des Zusammenhangs entsann, in dem Ulrichs Name wenige Stunden früher zum erstenmal in diesem Hause aufgetaucht war, dem Präsidenten den Vorfall genau so dargestellt hatte, wie ihn der Präsident zu diesem Zweck sehen mußte, so daß niemand willkürlich in den Lauf der Dinge ein- gegriffen hatte. Se. Erlaucht erfuhr übrigens niemals diesen Zu- sammenhang. Ulrich fühlte sich verpflichtet, ihm an dem Tag, der auf diesen Majestätsbeleidigungsabend folgte, seine Aufwartung zu machen, und wurde bei dieser Gelegenheit sofort ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion. Graf Leinsdorf, wenn er den Zusammenhang gewußt hätte, würde nichts anderes gesagt haben können, als es sei wie durch ein Wunder geschehn. 41 Rachel und Diotima Kurz darauf fand bei Diotima die erste große Sitzung der vater- ländischen Aktion statt. Das Speisezimmer neben dem Salon war in ein Beratungszim- mer umgewandelt worden. Der Eßtisch stand, auseinandergezogen und mit grünem Tuch beschlagen, in der Mitte des Raums. Bogen beinweißen Ministerpapiers und Bleistifte verschiedener Härte lagen vor jedem Platz. Die Anrichte war entfernt. Die Ecken des Raumes standen leer und streng. Die Wände waren ehrfürchtig kahl, bis auf ein Bild Seiner Majestät, das Diotima hingehängt hatte, und jenes einer Dame mit Schnürleib, das Herr Tuzzi als Konsul einst von irgendwo heimgebracht hatte, obgleich es eben- sogut als das Bild einer Ahnin gelten durfte. Am liebsten hätte Diotima noch ein Kruzifix an das Kopfende des Tisches gestellt, aber Sektionschef Tuzzi hatte sie ausgelacht, ehe er aus Taktrück- sichten an diesem Tag sein Haus verließ. Denn die Parallelaktion sollte ganz privat beginnen. Keine Minister oder Amtsgrößen erschienen; auch jeder Politiker fehlte; das war Absicht; es sollten anfangs im engsten Kreis nur selbst- lose Diener des Gedankens versammelt werden. Der Gouverneur der Staatsbank, die Herren von Holtzkopf und Baron Wis- nieezky, einzelne Damen des hohen Adels, bekannte Personen des bürgerlichen Wohlfahrtswesens und getreu dem gräflich Leins- dorfschen Grundsatz »Besitz und Bildung« Vertreter der Hoch- schulen, der Kunstvereinigungen, der Industrie, des bodenständi- -167- gen Hausbesitzes und der Kirche wurden erwartet. Die Regierungs- stellen hatten unauffällige junge Beamte mit ihrer Vertretung beauftragt, die gesellschaftlich in diesen Kreis paßten und das Vertrauen ihrer Chefs genossen. Diese Zusammensetzung entsprach den Wünschen des Grafen Leinsdorf, der ja an eine ohne Zwang aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung dachte, aber nach dem Erlebnis mit den Punkten es doch auch als große Beruhi- gung empfand, zu wissen, mit wem man es dabei zu tun habe. Die kleine Kammerzofe Rachel (ihr Name wurde von ihrer Herrin etwas frei als Rachelle ins Französische übersetzt) war schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. Sie hatte den großen Eß- tisch aufgeschlagen, zwei Kartentische daran geschoben, giünes Tuch aufgespannt, staubte nun besonders gut ab und vollzog jede dieser lästigen Tätigkeiten in heller Begeisterung. Am Abend vor- her hatte Diotima zu ihr gesagt »Morgen wird bei uns vielleicht Weltgeschichte gemacht!« und Rachel brannte am ganzen Körper vor Glück, Hausgenossin eines solchen Ereignisses zu sein, was sehr für dieses Ereignis sprach, denn Rachels Korper unter dem schwar- zen Kleidchen war entzückend wie Meißner Porzellan. Rachel war neunzehn Jahre alt und glaubte an Wunder. Sie war in einer häßlichen Hütte in Galizien geboren worden, wo an dem Türpfosten der Thorastreifen hing und der Fußboden Spalten hatte, durch die Erde heraufquoll. Sie war verflucht und zur Türe hinausgestoßen worden Die Mutter hatte eine hilflose Miene dazu gemacht, und die Geschwister hatten mit ängstlichen Gesichtern gegrinst. Sie war bettelnd auf den Knien gelegen, und die Scham hatte ihr das Herz gewürgt, aber nichts hatte ihr geholfen. Ein gewissenloser Bursche hatte sie verführt; sie wußte nicht mehr, wie; sie hatte bei fremden Leuten gebären müssen und dann das Land verlassen. Und Rachel war gereist; unter dem schmutzigen Holzkasten, in dem sie fuhr, rollte die Verzweiflung mit; leer- geweint, sah sie die Hauptstadt, zu der sie, von irgendeinem In- stinkt getrieben, flüchtete, nur wie eine gi oße Feuerwand vor sich, in die sie sich stürzen wollte, um zu sterben. Aber, o echtes Wun- der, diese Wand teilte sich und nahm sie auf; seither war Rachel nie anders zumute gewesen, als lebte sie im Innern einer goldenen Flamme. Der Zufall hatte sie in das Haus Diotimas geführt, und diese hatte es sehr natürlich gefunden, daß man aus einem galizi- schen Elternhaus entlief, wenn man dadurch zu ihr gekommen war. Sie erzählte der Kleinen, nachdem sie vertraut geworden waren, zuweilen von den berühmten und hochgestellten Menschen, die in dem Hause verkehrten, wo »Rachelle« die Ehre genoß, dienen zu dürfen; und selbst von der Parallelaktion hatte sie ihr schon einiges anvertraut, weil es eine Freude war, sich an Rachels Augensternen -168- zu weiden, die bei jeder Mitteilung flammten und goldenen Spie- geln glichen, die das Bild der Herrin strahlend zurückwarfen. Denn die kleine Rachel war zwar wegen eines gewissenlosen Burschen von ihrem Vater verflucht worden, aber sie war trotzdem ein ehrbares Mädchen und liebte einfach alles an Diotima das weiche, dunkle Haar, das sie morgens und abends bürsten durfte, die Kleider, in die sie hineinhalf, die chinesischen Lackarbeiten und geschnitzten indischen Tischchen, die umherliegenden fremd- sprachigen Bücher, von denen sie kein Wort verstand, sie liebte auch Herrn Tuzzi und neuestens den Nabob, der schon am zweiten Tag nach seiner Ankunft — sie machte den ersten daraus — ihre gnädige Frau besucht hatte; Rachel hatte ihn im Vorzimmer in so heller Begeisterung angestarrt wie den Heiland der Christen, der aus seinem goldenen Schrank gestiegen ist, und das einzige, was sie verdroß, war, daß er seinen Soliman nicht mitgebracht hatte, um ihrer Herrin aufzuwarten. Aber heute, in der Nachbarschaft eines solchen Weltereignisses, war sie überzeugt, daß sich auch für sie etwas ereignen müsse, und sie nahm an, daß diesmal wahrscheinlich Soliman in Gesellschaft seines Herrn kommen werde, wie es die Feierlichkeit des Ge- schehens erforderte. Diese Erwartung war jedoch keineswegs die Hauptsache, sondern nur die gehörige Verwicklung, der Knoten oder die Intrige, die in keinem der Romane fehlten, mit denen Rachel sich erzog. Denn Rachel durfte die Romane lesen, welche Diotima weglegte, so wie sie auch die Wäsche für sich zurecht- schneidern durfte, welche Diotima nicht mehr trug. Rachel schnei- derte und las geläufig, das war ihr jüdisches Erbgut, aber wenn sie einen Roman in der Hand hatte, den ihr Diotima als großes Kunstwerk bezeichnete, — und solche las sie am liebsten — , dann verstand sie die Geschehnisse natürlich nur so, wie man einem leb- haften Vorgang aus großer Entfernung oder in einem fremden Land zusieht; sie wurde von der ihr unverstandlichen Bewegung beschäftigt, ja ergriffen, ohne etwas dareinreden zu können, und das liebte sie überaus. Wenn man sie über die Straße schickte oder vornehmer Besuch ins Haus kam, genoß sie in der gleichen Weise die große und aufregende Gebärde einer Kaiserstadt, eine weit über allen Begriff gehende Fülle von glänzenden Einzelheiten, an denen sie einfach dadurch teil hatte, dar- ie sich auf einem bevor- zugten Platz in ihrer Mitte befand. Sic vollte das gar nicht besser verstehen; ihre elementare jüdische Vorbildung, die klugen Sprüche ihres Elternhauses hatte sie aus Zorn vergessen und beduifte lhier so wenig, wie eine Blume Löffel und Gabel braucht, um sich mit den Saften des Bodens und der Luft la nähren So nahm sie jetzt noch einmal alle Bleistifte zusammen und steckte ihre gleißenden Spitzen vorsichtig in die kleine Maschine, die an der Tischecke stand und so vollkommen das Holz schälte, wenn man an ihrer Kurbel drehte, daß bei der Wiederholung des Vorgangs nicht ein Fäserchen mehr abfiel; dann legte sie die Blei- stifte wieder zu den samtweichen Papierbogen zurück, drei von verschiedener Art neben jeden, und dachte daran, daß diese voll- kommene Maschine, die sie bedienen durfte, aus dem Ministerium des Äußern und des kaiserlichen Hauses stammte, denn ein Diener hatte sie gestern am Abend von dort gebracht und auch die Blei- stifte und das Papier. Es war inzwischen sieben Uhr geworden; Rachel warf schnell einen Generalsblick über alle Einzelheiten der Ordnung und eilte aus dem Zimmer, um Diotima zu wecken, denn eine Viertelstunde nach zehn Uhr war schon die Sitzung angesetzt, und Diotima war nach dem Weggang des Herrn noch ein wenig im Bett geblieben. Diese Morgen mit Diotima waren eine besondere Freude Rachels, Das Wort Liebe bezeichnet das nicht; eher das Wort Verehrung, wenn man es sich in seinem ganzen Sinn vergegenwärtigt, wo die übertragene Ehre einen Menschen dermaßen durchdringt, daß er bis ins Innerste von ihr erfüllt und geradezu von seinem eigenen Platz in sich weggedrängt wird. Rachel besaß seit ihrem heimat- lichen Abenteuer ein kleines Mädchen, das jetzt anderthalb Jahre alt war, und führte einer Pflegemutter pünktlich an jedem ersten Sonntag im Monat einen großen Teil ihres Lohnes ab, wobei sie dann auch ihre Tochter sah; aber obwohl sie ihre Pflicht als Mutter nicht versäumte, erblickte sie darin nur eine in der Vergangenheit verwirkte Strafe, und ihre Empfindungen waren wieder die eines Mädchens geworden, dessen keuscher Körper noch nicht von der Liebe geöffnet ist. Sie trat an Diotimas Bett, und ihr Auge glitt, anbetend wie ein Bergsteiger den Schneegipfcl erblickt, der aus dem Morgendunkel ins erste Blau steigt, über deren Schulter, ehe sie die perlmutterzarte Warme der Haut mit den Fingern be- rührte. Dann kostete sie von dem fein verwickelten Geruch der Hand, die schläfrig unter der Decke hervorkam, um sich küssen zu lassen, und nach Schmuckwässern des Vortags roch, aber auch nach den Dünsten der Nachtruhe; hielt den Morgenpantoffel dem su- chenden nackten Fuß entgegen und empfing den erwachenden Blick. Es wäre aber die sinnliche Berührung mit dem großartigen Fiauen- körper beiweitem nicht so schön für sie gewesen, würde sie nicht völlig durchstrahlt worden sein von der moralischen Bedeutung Diotimas. »Hast du für Seine Erlaucht den Stuhl mit den Armlehnen hin- gestellt? An meinen Platz die kleine silberne Glocke? Auf den Platz des Schriftführers zwölf Bogen Papier gelegt? Und sechs -170- Bleistifte, Rachelle, sechs, nicht bloß drei, am Platz des Schrift- führers?« sagte Diotiina diesmal. Rachel zählte bei jeder dieser Fragen innerlich noch einmal an den Fingern alles ab, was sie getan hatte, und erschrak heftig vor Ehrgeiz, als stünde ein Leben auf dem Spiel. Ihre Herrin hatte einen Morgenrock umgeworfen und begab sich ins Beratungszimmer. Ihre Art, »Rachelle« zu er- ziehen, bestand darin, daß sie diese bei allem, was sie tat oder unterließ, daran erinnerte, man dürfe es nie bloß als seine persön- liche Angelegenheit betrachten, sondern müsse an die allgemeine Bedeutung denken. Zerschlug Rachel ein Glas, so erfuhr »Rachelle«, daß der Schaden an sich ganz bedeutungslos sei, daß aber das durchsichtige Glas ein Symbol der alltäglichen kleinen Pflichten bedeute, die das Auge kaum noch wahrnehme, weil es sich gerne auf Höheres richte, denen man indes gerade darum besondere Auf- merksamkeit widmen müsse — ; und Rachel konnten bei solcher ministeriell höflichen Behandlung die Tränen in die Augen treten, vor Reue und Glück, während sie die Scherben zusammenfegte. Die Köchinnen, von denen Diotima korrektes Denken und Erkenntnis begangener Fehler verlangte, hatten schon oft gewechselt, seit Rachel im Dienst war, aber Rachel liebte diese wundervollen Phra- sen von ganzem Herzen, so wie sie den Kaiser, die Begräbnisse und die strahlenden Kerzen im Dunkel der katholischen Kirchen liebte. Hie und da log sie, um sich aus der Patsche zu ziehen, aber sie kam sich danach sehr schlecht vor; ja sie liebte vielleicht sogar kleine Lügen, weil sie dabei im Vergleich mit Diotima ihre ganze Schlechtigkeit fühlte, gestattete sich das aber gewöhnlich nur dann, wenn sie etwas Falsches heimlich schnell noch in Wahrheit um- wandeln zu können hoffte. Wenn ein Mensch zu einem anderen derart in allem und jedem aufblickt, kommt es vor, daß ihm sein Körper geradezu entzogen wird und wie ein kleiner Meteorit in die Sonne des anderen Kör- pers stürzt. Diotima hatte nichts auszusetzen gefunden und ihre kleine Dienerin freundlich auf die Schulter geklopft; dann begaben sie sich in die Badestube und begannen die Toilette für den großen Tag. Wenn Rachel das warme Wasser mischte, Seife schäumen ließ oder mit dem Frottiertuch Diotimas Körper so dreist abtrock- nen durfte, als wäre es ihr eigener Körper, so machte ihr das viel mehr Vergnügen, als wenn es wirklich bloß ihr eigener Körper gewesen wäre. Der kam ihr nichtig und vertrauensunwürdig vor, es lag ihr ferne, auch nur vergleichsweise an ihn zu denken, ihr war, wenn sie die statuenhafte Fülle Diotimas berührte, zumute wie einem Bauernlümmel von Rekrut, der einem strahlend schönen Regiment angehört. So wurde Diotima für den großen Tag gewappnet. -171- 42 Die große Sitzung Als die letzte Minute zur bestimmten Stunde hinüberschwang, erschien Graf Leinsdorf in Begleitung Ulrichs. Rachel, die schon glühte, weil bis dahin ununterbrochen Gäste gekommen waren, denen sie öffnen und aus den Kleidern helfen mußte, er- kannte diesen sofort wieder und nahm befriedigt zur Kenntnis, daß auch er kein beliebiger Besucher gewesen sei, sondern ein Mann, den bedeutungsvolle Zusammenhänge in das Haus ihrer Herrin geführt hatten, wie sich jetzt zeigte, da er in Gesellschaft Sr. Erlaucht wiederkam. Sie flatterte an die Zimmertüre, die sie feierlich öffnete, und hockte sich danach vor dem Schlüsselloch hin, um zu erfahren, was nun vor sich gehen werde. Es war ein breites Schlüsselloch, und sie sah das rasierte Kinn des Gouverneurs, die violette Halsbinde des Prälaten Niedomansky sowie die goldene Säbelquaste des Generals Stumm von Bordwehr, den das Kriegs- ministerium entsandt hatte, obgleich es eigentlich nicht eingeladen worden war; es hatte trbtzdem in einer Zuschrift an den Grafen Leinsdorf erklärt, daß es bei einer so »hochpatriotischen Angelegen- heit« nicht fehlen wolle, wenn es auch mit ihrem Ursprung und zu gewärtigenden Verlauf nicht unmittelbar zu tun habe. Das hatte Diotima aber vergessen, Rachel mitzuteilen, und so war diese durch die Anwesenheit eines Offiziers bei der Besprechung sehr erregt, konnte aber vorläufig von den Dingen, die im Zimmer vor sich gingen, nichts weiter herausbringen. Diotima hatte unterdessen Se. Erlaucht empfangen und für Ulrich nicht viel Aufmerksamkeit gezeigt, denn sie stellte die An- wesenden vor und präsentierte Sr. Erlaucht als ersten Dr. Paul Arnheim, wobei sie erklärte, daß ein glücklicher Zufall diesen berühmten Freund ihres Hauses hergeführt habe, und wenn er auch als Ausländer nicht beanspruchen dürfe, in aller Form an den Sitzungen teilzunehmen, so bäte sie doch, ihn ihr persönlich als Ratgeber zu lassen; denn — und hier fügte sie sofort eine sanfte Drohung an — seine großen Erfahrungen und Beziehungen auf international kulturellem Gebiet und in den Zusammenhängen dieser Fragen mit denen der Wirtschaft seien für sie eine unschätz- bare Stütze, und sie habe bisher allein darüber berichten müssen und würde wohl auch in Zukunft nicht so bald ersetzt werden kön- nen und sei sich trotzdem ihrer ungenügenden Kraft nur zu sehr bewußt. Graf Leinsdorf sah sich überfallen und mußte sich zum ersten- mal seit dem Beginn ihrer Beziehungen über eine Taktlosigkeit -172- seiner bürgerlichen Freundin wundern. Auch Arnheim fühlte sich betreten, wie ein Souverän, dessen Einzug nicht gebührend geord- net worden ist, denn er war fest überzeugt gewesen, daß Graf Leinsdorf von seiner Einladung wisse und sie gebilligt habe. Aber Diotima, deren Gesicht in diesem Augenblick rot und eigensinnig aussah, ließ nicht locker, und wie alle Frauen, die in Fragen der Ehemoral ein zu reines Gewissen haben, vermochte sie eine unaus- stehliche weibliche Zudringlichkeit zu entwickeln, wenn es sich um eine ehrbare Angelegenheit handelte. Sie war damals bereits verliebt in Arnheim, der in der Zwischen- zeit einigemal bei ihr gewesen war, aber in ihrer Unerfahrenheit hatte sie keine Ahnung von der Natur ihres Gefühls. Sie besprachen miteinander, was eine Seele bewegt, die zwischen Fußsohle und Haarwurzel das Fleisch adelt und die wirren Eindrücke der Zivi- lisation in harmonische Geistesschwingungen verwandelt Aber auch das war schon viel, und weil Diotima an Vorsicht gewöhnt und zeitlebens bedacht gewesen war, sich niemals bloßzustellen, kam ihr diese Vertraulichkeit zu plötzlich vor, und sie mußte sehr große Gefühle mobilisieren, geradezu schlechthin große, und wo findet man die am ehesten? Dort, wohin alle Welt sie verlegt: im histo- rischen Geschehen. Die Parallelaktion war für Diotima und Arn- heim sozusagen die Verkehrsinsel in ihrem anschwellenden see- lischen Verkehr; sie betrachteten es als ein besonderes Schicksal, was sie in einem so wichtigen Augenblick zusammengeführt hatte, und es gab zwischen ihnen nicht die kleinste Meinungsverschieden- heit darüber, daß das große vaterländische Unternehmen eine un- geheure Gelegenheit und Verantwortung für geistige Menschen sei. Auch Arnheim sagte das, obschon er niemals anzufügen ver- gaß, daß es dabei in erster Linie auf starke, im Wirtschaftlichen ebenso wie im Bereich der Ideen erfahrene Menschen ankäme und dann erst auf den Umfang der Organisation. So hatte sich in Dio- tima die Parallelaktion untrennbar mit Arnheim verknotet, und die Vorstellungsleere, die anfangs mit diesem Unternehmen ver- bunden gewesen war, hatte einer reichen Fülle Platz gemacht. Es rechtfertigte sich die Erwartung, daß der Schatz von Gefühl, der im österreichertum ruhe, durch preußische Gedankenzucht gekräftigt werden könne, auf das glücklichste, und so stark waren diese Ein- drücke, daß die korrekte Frau kein Empfinden für den Gewalt- streich hatte, den sie unternahm, als sie Arnheim einlud, der grün- denden Sitzung beizuwohnen. Nun war es zu spät, um sich eines anderen zu besinnen; aber Arnheim, der diesen Zusammenhang ahnend begriff, fand in ihm etwas wesentlich Versöhnliches, so unwillig ihn auch die Lage machte, in die er gebracht worden war, und Se. Erlaucht war im Grunde seiner Freundin viel zu wohl- -173- gesinnt, um seinem Erstaunen einen schärferen als den unwillkür- lichen Ausdruck zu geben; er schwieg zu Diotimas Erklärung, und nach einer peinlichen kleinen Pause reichte er Dr. Arnheim liebens- würdig die Hand, wobei er ihn in der höflichsten und schmeichel- haftesten Weise so willkommen hieß, wie er es war. Von den andern Anwesenden hatten wohl die meisten den kleinen Auftritt bemerkt, und sie wunderten sich auch, soweit sie wußten, wer er war, über Arnheims Gegenwart, aber unter wohlerzogenen Men- schen setzt man voraus, daß alles einen guten Grund habe, und es gilt als schlechte Lebensart, neugierig nach ihm zu forschen. Inzwischen hatte Diotima ihre bildhafte Ruhe wiedergefunden, eröffnete nach einigen Augenblicken die Sitzung und bat Se. Er- laucht, ihrem Hause die Ehre anzutun, darin den Vorsitz zu über- nehmen. Se. Erlaucht hielt eine Ansprache. Er hatte sie schon tagelang vorbereitet, und der Charakter seines Denkens war ein viel zu fester, als daß er vermocht hätte, im letzten Augenblick daran etwas zu ändern; er konnte nur gerade noch die unverhohlensten Anspielungen auf das preußische Zündnadelsystem (das im Jahre Sechsundsechzig den österreichischen Vorderladern heimtückisch zu- vorgekommen war) mildern. »Was uns zusammengeführt hat,« sagte Graf Leinsdorf »ist die Übereinstimmung darin, daß eine machtvolle, aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, sondern eine weit voraus- blickende und von einer Stelle, die einen weiten Überblick hat, also von oben kommende Einflußnahme erfordert. Seine Majestät, un- ser geliebter Kaiser und Herr, wird im Jahre 1918 das hochseltene Fest seiner 70jährigen segensreichen Thronbesteigung feiern; so Gott will in jener Rüstigkeit und Frische, die wir an ihm zu bewun- dern gewohnt sind. Wir sind sicher, daß dieses Fest von den dank- baren Völkern Österreichs in einer Weise begangen werden wird, die der Welt nicht nur unsere tiefe Liebe zeigen soll, sondern auch, daß die österreichisch-ungarische Monarchie fest wie ein Felsen um ihren Herrscher geschart steht.« Hier schwankte Graf Leinsdorf, ob er etwas von den Zerfallserscheinungen erwähnen solle, denen dieser Fels selbst bei einer gemeinsamen Feier des Kaisers und Königs ausgesetzt war; denn man mußte dabei mit dem Wider- stände Ungarns rechnen, das nur einen König anerkannte. Se. Er- laucht hatte darum ursprünglich von zwei Felsen sprechen wollen, die fest geschart standen. Aber auch das drückte sein österreichisch- ungarisches Staatsgefühl noch nicht richtig aus. Dieses österreichisch-ungarische Staatsgefühl war ein so sonder- bar gebautes Wesen, daß es fast vergeblich erscheinen muß, es einem zu erklären, der es nicht selbst erlebt hat. Es bestand nicht -174- etwa aus einem österreidiisdien und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Österreicher mehr einem Ungarn weni- ger diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebensowenig leiden wie die Ungarn ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde. Viele nannten sich des- halb einfach einen Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen, und damit begannen jener weitere Zerfall und jene bekannten »un- liebsamen Erscheinungen innerpolitischer Na cur«, wie sie Graf Leinsdorf nannte, die nach ihm »das Werk unverantwortlicher, unreifer, sensationslüsterner Elemente« waren, die in der politisch zu wenig geschulten Masse der Bewohner nicht die nötige Zurück- weisung fanden. Nach diesen Andeutungen, über deren Gegenstand seither viele kenntnisreiche und gescheite Bücher geschrieben wor- den sind, wird man gerne die Versicherung entgegennehmen, daß weder an dieser Stelle noch in der Folge der glaubwürdige Ver- such unternommen werden wird, ein Historienbild zu malen und mit der Wirklichkeit in Wettbewerb zu treten. Es genügt vollauf, wenn man bemerkt, daß die Geheimnisse des Dualismus (so lau- tete der Fachausdruck) mindestens ebenso schwer einzusehen waren wie die der Trinität; denn mehr oder minder überall gleicht der historische Prozeß einem juridischen mit hundert Klauseln, An- hängseln, Vergleichen und Verwahrungen, und nur darauf sollte die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Ahnungslos lebt und stirbt der gewöhnliche Mensch zwischen ihnen, aber ganz und gar zu seinem Heil, denn wenn er sich darüber Rechenschaft geben wollte, in was für einen Prozeß, mit welchen Anwälten, Spesen und Motiven er verstrickt ist, könnte ihn wahrscheinlich in jedem Staat der Verfolgungswahnsinn packen. Das Verständnis der Wirklich- keit ist ausschließlich eine Sache für den historisch-politischen Den- ker. Für ihn folgt die Gegenwart auf die Schlacht bei Mohäcs oder bei Lietzen wie der Braten auf die Suppe, er kennt alle Protokolle und hat in jedem Augenblick das Gefühl einer prozessual begrün- deten Notwendigkeit; und ist er gar wie Graf Leinsdorf ein aristo- kratischer politisch-historisch geschulter Denker, dessen Großväter, Schwert- und Spindelmagen selbst an den Vorverhandlungen mit- -175- wirkten, so ist das Ergebnis für ihn glatt wie eine aufsteigende Linie zu überblicken. Darum hatte sich Se Erlaucht Graf Leinsdoif vor der Sitzung gesagt- »Wir dürfen nicht vergessen, daß der hochherzige Ent- schluß Sr. Majestät, dem Volk ein gewisses Mitbestimmungsrecht in seinen Angelegenheiten zu schenken, noch nicht so lange her ist, daß auch schon überall jene politische Reife hätte eintreten können, welche in jeder Hinsicht des von höchster Stelle großmütig ent- gegengebrachten Vertrauens würdig erscheint. Man wird also nicht, wie das mißgünstige Ausland, in solchen an sich verdammungs- würdigen Erscheinungen, wie wir sie leider mitmachen, ein grei- senhaftes Zeichen der Auflösung zu erblicken haben, sondern weit eher ein Zeichen noch nicht reifer, darum unverwüstlicher Jugend- kraft des österreichischen Volks!« Und daran hatte er auch in der Sitzung mahnen wollen, aber weil Arnheim dabei war, sagte er nicht alles, was er sich ausgedacht hatte, sondern begnügte sich mit einem an die Unkenntnis des Auslandes von den wahren öster- reichischen Verhältnissen und die Überschätzung gewisser unlieb- samer Erscheinungen gerichteten Wink. »Denn« so schloß Se. Er- laucht »wenn wir einen nicht zu übersehenden Hinweis auf unsere Kraft und Einigkeit wünschen, so tun wir dies durchaus auch im internationalen Interesse, da ein glückliches Veihältnis innerhalb der europäischen Staatenfamilie auf gegenseitigem Respekt und Achtung vor der Macht des anderen beruht.« Er wiederholte dann nur noch einmal, daß eine solche urwüchsige Kraftleistung wirklich aus der Mitte des Volks kommen und deshalb von oben geleitet werden müsse, wozu die Wege zu finden, eben diese Versammjung berufen sei. Wenn man sich erinnert, daß dem Grafen Leins- dorf vor kurzem noch nicht mehr als eine Reihe von Namen ein- gefallen war, wozu er von außen bloß den Gedanken eines öster- reichischen Jahrs empfing, so wird man einen großen Fortschritt verzeichnen, obgleich Se. Erlaucht nicht einmal alles aussprach, was er gedacht hatte. Nach dieser Rede ergriff Diotima das Wort, um die Absichten des Vorsitzenden zu erläutern. Die große patriotische Aktion, er- klärte sie, müsse ein großes Ziel finden, das, wie Se. Erlaucht ge- sagt habe, aus der Mitte des Volks aufsteigt. »Wir, die heute zum erstenmal Versammelten, fühlen uns nicht berufen, dieses Ziel schon testzusetzen, sondern wir sind vorerst nur zusammengetre- ten, damit wir eine Organisation schaffen, welche die Bildung von Vot schlagen, die zu diesem Ziel führen, in die Wege leiten soll,« Mit diesen Worten eröffnete sie die Diskussion. Xi nächst trat Schweigen ein. Speire Vögel von veischiedener l!ri\isnH und Sprache die nicht wissen, was ihnen bevorsteht, in einen gemeinsamen Käfig, dann schweigen sie im ersten Augen- blick genau so. Endlich erbat sich ein Professor das Wort; Ulrich kannte ihn nicht, Se. Erlaucht hatte diesen Herrn wohl im letzten Augenblick durch seinen Privatsekretär einladen lassen. Er sprach vom Weg der Geschichte. Wenn wir vor uns blicken — sagte er — * eine un- durchsichtige Wand! Wenn wir links und rechts blicken: ein Über- maß wichtiger Geschehnisse, ohne erkennbare Richtung! Er führe bloß einiges an- Den augenblicklichen Konflikt mit Montenegro. Die schweren Kämpfe, welche die Spanier in Marokko zu bestehen hätten. Die Obstruktion der Ukrainer im österreichischen Reichsra*. Wenn man aber zurückblickt, ist wie durch eine wunderbare Fi gung alles Ordnung und Ziel geworden. . .Darum, wenn er so sa gtn dürfe: wir erleben in jedem Augenblick das Geheimnis einer wunderbaren Führung. Und er begrüße es als einen großen Ge- danken, einem Volk sozusagen die Augen dafür zu öffnen, es ciriGn bewußten Blick in die Vorsehung tun zu lassen, indem man es auf- fordert, in einem bestimmten Fall von besonderer Erhabenheit. . Nur das habe er sagen wollen. Es sei nämlich so, wie man ja auch in der zeitgenössischen Pädagogik den Schuler mit dem Lehrer gemeinsam arbeiten lasse, statt ihm fertige Ergebnisse vorzusetzen. Die Versammlung sah versteint vor sich hin, freundlich auf das grüne Tischtuch; selbst der Prälat, der den Erzbischof vertrat, hatte bei dieser geistlichen Laienleistung nur die gleiche höflich abwar- tende Haltung wie die Ministerialen bewahrt, ohne die kleinste Kundgebung herzlicher Übereinstimmung seinem Gesicht ent- schlüpfen zu lassen. Man schien ein Gefühl zu haben, wie wenn unerwartet auf der Straße jemand laut und zu allen zu sprechen beginnt; alle, auch die, welche eben an gar nichts dachten, fühlen dann plötzlich, daß sie zu ernsten, sachlichen Zwecken unterwegs sind oder daß mit der Straße Mißbrauch getrieben wird Der Pro- fessor hatte, während er sprach, mit Befangenheit zu kämpfen ge- habt, gt^en die er seine Worte abgerissen und bescheiden durch- preßte, als verschlüge ihm Wind den Atem; nun aber wartete e? ob ihm Antwort werde, und zog diese Wartehaltung auf dem Ge- sicht nicht ohne Wurde wieder ein. Es wirkte auf alle gleich einer Rettung, als sich nach diesem Zwischenfall der Vertreter der kaiserlichen Zivilkanzlei rasch zum Wort meldete und der Versammlung eine Ubei sieht der Stiftun- gen und Widmungen gab, die im Jubiläumsjahr aus Alleihüchster Privatschatulle zu gewärtigen sein wurden Es begann mit det Zu- wendung für den Bau einer Wallfahrtskirche und einet Stiftung zur Unterstützung unbemittelter Koopeiatoien dann maiMVueiW'n die Veterancnvereine Erzherzog Karl und Radetzky die Kucrer- 12 MusiI, -17; - witwen und -waisen aus den Feldzügen 66 und 78 auf, es kamen ein Fonds zur Unterstützung ausgedienter Unteroffiziere und die Akademie der Wissenschaften, und so ging es weiter; diese Listen hatten nichts Aufregendes an sich, sondern ihren festen Ablauf und gewohnten Platz bei allen öffentlichen Äußerungen des Aller- höchsten Wohlwollens Als sie herabgelassen waren, stand denn auch gleich eine Frau Fabrikant Weghuber auf, die eine um das Wohltätigkeitswesen sehr verdiente Dame war, völlig unzugäng- lich der Vorstellung, daß es etwas Wichtigeres geben könne als die Gegenstände ihrer Sorgen, und sie trat mit dem Vorschlag einer »Groß-Österreichischen-Franz-Josefs-Suppenanstalt« an die Ver- sammlung heran, die mit Zustimmung zuhörte. Nur bemerkte der Vertreter des Ministeriums für Kultus und Unterricht, daß auch bei seiner Behörde eine gewissermaßen ähnliche Anregung ein- gelaufen sei, nämlich ein Monumentalwerk »Kaiser Franz Josef I. und seine Zeit« herauszugeben. Aber nach diesem glücklichen An- lauf trat wieder Schweigen ein, und die meisten der Anwesenden fühlten sich in eine peinliche Lage gebracht. Wenn man sie am Herweg gefragt hätte, ob sie wüßten, was geschichtliche, große oder dergleichen Ereignisse seien, würden sie das gewiß bejaht haben, doch gegenüber der gespannten Zu- mutung, ein solches Ereignis zu erfinden, war ihnen allmählich flau zumute geworden, und es regte sich so etwas wie das Murren einer sehr natürlichen Natur in ihnen. In diesem gefährlichen Augenblick unterbrach die taktsichere Diotima, die Erfrischungen vorbereitet hatte, die Sitzung. 43 Erste Begegnung Ulrichs mit dem großen Mann. In der Weltgeschichte geschieht nichts Unver- nünftiges, aber Diotima stellt die Behauptung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt In der Pause bemerkte Arnheim: Je umfassender die Organi- sation sei, desto weiter würden die Vorschläge auseinander gehen. Dies sei ein Kennzeichen der nur auf den Verstand aufgebauten gegenwärtigen Entwicklung. Aber gerade deshalb stelle es einen ungeheuren Vorsatz dar, ein ganzes Volk zu zwingen, daß es sich auf den Willen, die Eingebung und das Wesentliche besinne, welches tiefer als der Verstand liege. Ulrich antwortete mit der Frage, ob er denn glaube, daß aus dieser Aktion etwas entstehen werde? -178- »Ohne Zweifel;« erwiderte Arnheim »große Geschehnisse sind immer der Ausdruck einer allgemeinen Lage!« Diese sei heute gegeben; und schon die Tatsache, daß eine Zusammen- kunft wie die heutige irgendwo möglich gewesen sei, beweise ihre tiefe Notwendigkeit. Da sei aber etwas schwer zu Unterscheidendes dabei, meinte Ulrich. »Etwa angenommen, der Komponist des letzten Operetten- welterfolgs wäre ein Intrigant und würde sich zum Weltpräsiden- ten aufwerfen, was doch bei seiner ungeheuren Beliebtheit im Be- reich des Möglichen läge- wäre dies nun ein Sprung in der Ge- schichte oder ein Ausdruck der geistigen Lage ?<.* »Das ist ganz unmöglich!« sagte Dr. Arnheim ernst. »Ein solcher Komponist kann weder ein Intrigant noch ein Politiker sein; es ließe sich sein komisch-musikalisches Genie sonst nicht begreifen, und in der Weltgeschichte geschieht nichts Unvernünftiges.« »In der Welt aber doch so viel?« »In der Weltgeschichte niemals!« Arnheim war sichtlich nervös. In der Nähe standen Diotima und Graf Leinsdorf in lebhaft leisem Gespräch. Se. Erlaucht hatte der Freundin nun doch sein Erstaunen darüber ausgedrückt, bei diesem ausnehmend österreichischen Anlaß einen Preußen zu treffen. Er hielt es schon aus Taktgründen für gänzlich ausgeschlossen, daß ein Staatsfremder in der Parallelaktion eine führende Rolle spielen könne, obgleich Diotima auf den vorzüglichen und beruhigenden Eindruck hinwies, den solche Freiheit von politischem Eigennutz auf das Ausland ausüben müsse. Da änderte sie aber ihre Kampfweise und vergrößerte überraschend ihren Plan. Sie sprach vom Takt der Frau, der eine Gefühlssicherheit sei und sich zu innerst an die Vor- urteile der Gesellschaft nicht kehre. Se. Erlaucht solle nur einmal auf diese Stimme hören. Arnheim sei ein Europäer, ein in ganz Europa bekannter Geist; und gerade weil er kein Österreicher sei, beweise man durch seine Teilnahme, daß der Geist als solcher in Österreich eine Heimat habe, und plötzlich stellte sie die Behaup- tung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt. Die Welt, er- läuterte sie, werde nicht eher Beruhigung finden, als die Nationen in ihr so in höherer Einheit leben wie die österreichischen Stämme in ihrem Vaterland. Ein Größer-Österreich, ein Weltösterreich, darauf habe sie in diesem glücklichen Augenblick Se. Erlaucht ge- bracht, das sei die krönende Idee, die der Parallelaktion bisher gefehlt habe. - Hinreißend, pazifistisch gebietend stand die schöne Diotima vor ihrem erlauchten Freund. Graf Leinsdorf konnte sich noch nicht entschließen, seine Einwände aufzugeben, aber er be- wunderte wieder einmal den flammenden Idealismus und die Weite des Blicks dieser Frau und erwog, ob es nicht doch vorteil- -179- haftci waie, Arnheim ins Gespiach zu ziehen, als gleich auf so folgenschwere Anregungen zu antwoiten. Arnheim war unruhig, weil er dieses Gespiäch witteite, ohne es beeinflussen zu können Er und Ulrich wuiden von Neugierigen umgeben, welche die Peison des Krösus angezogen hatte, und Ulrich sagte gei ade. »Es gibt mehieie tausend Berufe, in denen die Men- schen aufgehen; doit steckt ihie Klugheit. Wenn man aber das allgemein Menschliche und allen Gemeinsame von ihnen verlangt, .so kann eigentlich nur dreicilei ubiigbleiben die Dummheit, das Geld oder höchstens ein wenig religiöse Erinnerung!« »Ganz rich- tig, die Religion!« schaltete Ainheim nachdi ucklich ein und fiagte Ulrich, ob er denn glaube, daß sie schon völlig und bis auf die Wurzeln verschwunden sei? — Er hatte das Wort Religion so laut betont, daß Graf Leinsdorf es höien mußte. Se. Erlaucht schien inzwischen mit Diotima einen Ausgleich ge- schlossen zu haben, denn gefuhrt von der Freundin naheite er sich jetzt der G ruppe, die sich taktvoll auflöste, und spi ach Dr. Arnheim an. Ulrich sah sich mit einemmal allein und konnte die Lippen nagen. Er begann — weiß Gott wieso, um sich die Zeit zu vertreiben oder um nicht so verlassen dazustehn — an die Wagenfahrt zu dieser Zu- sammenkunft zu denken Graf Leinsdoif, der ihn mit sich genommen hatte, besaß als moderner Geist Kraftwagen, aber da er zugleich am Überlieferten festhielt, benutzte er zuweilen auch ein Gespann zweier prächtigen Braunen, das er samt Kutscher und Kalesche beibehielt, und als der Haushofmeister seine Befehle einholte, hatte Se, Er- laucht es angemessen gefunden, zur gründenden Sitzung der Par- allelaktion mit solchen zwei schönen, fast schon historischen Ge- schöpfen zu fahren. »Das ist der Pepi, und das ist der Hans«, erläuterte Graf Leinsdorf unterwegs; man sah die tanzenden braunen Hügel der Kruppen und zuweilen einen der nickenden Köpfe, der im Rhythmus zur Seite blickte, daß der Schaum vom Maul flog. Es war schwer zu begreifen, was in den Tieren vor sich ging; es war ein schöner Vormittag, und sie liefen. Vielleicht sind Futter und Laufen die einzigen großen Pferdeleidenschaften, wenn man berücksichtigt, daß Pepi und Hans verschnitten waren und die Liebe nicht als greifbares Verlangen kannten, sondern nur als einen Hauch und Schmelz, der ihr Weltbild zuweilen mit dünn leuchtenden Wolken überzog. Die Leidenschaft des Futters war in einer marmornen Krippe mit köstlichen Haferkörnern aufbewahrt» in einer Raufe mit grünem Heu, dem Schnurren der Stallhalfter am Ring; und in dem Brodgeruch des warmen Stalls zusammen- gezogen, durch dessen wurzigen, glatten Duft wie Nadeln das ammoniakhaltige starke Ichgefühl drang: hier sind Pferde! Etwas anderes mochte es um das Laufen sein. Da ist die arme Seele noch -180- mit dem Rudel verknüpft, wo voran in den Leithengst oder in alle auf einmal von irgendwoher eine Bewegung kommt und die Schar Sonne und Wind entgegensprengt; denn wenn das Tier einsam ist und ihm alle vier Weiten des Raums offen stehn, so läuft oft ein irrsinniges Zittern durch seinen Schädel, und es stürmt.ziellos fort, stürzt sich in eine schreckliche Freiheit, die in einer Richtung so leer ist wie in der anderen, bis es vor Ratlosigkeit still steht und mit einer Schussel Hafer zurückzulocken ist. Pepi und Hans waren wohleingefahrene Pferde; sie griffen aus, schlugen die sonnen- beschienene, von Hausern eingezäunte Straße mit den Hufen; die Menschen waren ein graues Gewimmel für sie, das weder Freude noch Schreck verbreitete; die bunten Auslagen der Geschäfte, die in leuchtenden Farben prangenden Frauen — Wiesenstücke, die nicht genießbar sind; die Hüte, Krawatten, Bücher, Brillanten längs der Straße: eine Einöde. Nur die zwei Trauminseln von Stall und Traben hoben sich daraus, und zuweilen erschraken Hans und Pepi wie im Traum oder Spiel vor einem Schatten, drängten an die Deichsel, ließen sich von einem flachen Peitschenschlag wieder erfrischen und lehnten sich dankbar in die Zügel. Und plötzlich hatte sich Graf Leinsdorf in den Polstern aufgerichtet und Ulrich gefragt: »Der Stallburg hat mir erzählt, Herr Doktor, daß Sie sich für einen Menschen verwenden?« Ulrich fand in der Über- raschung gar nicht gleich den rechten Zusammenhang, und Leinsdorf fuhr fort: »Sehr schön von Ihnen. Ich weiß alles. Ich meine, es wird sich nicht viel tun lassen, das ist ja ein schrecklicher Kerl; aber das unfaßbar Persönliche und Gnadenbedürftige, das jeder Christen- mensch in sich hat, zeigt sich oft gerade an so einem Subjekt, und wenn man selbst etwas Großes unternehmen will, soll man am demütigsten der Hilflosen gedenken. Vielleicht kann man ihn noch einmal ärztlich untersuchen lassen.« Nach dem Graf Leinsdorf im Rütteln des Wagens diese lange Rede aufgerichtet von sich gege- ben hatte, ließ er sich wieder in die Polster zurückfallen und fügte hinzu: »Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir jetzt im Augen- blickalle unsere Kraft einem geschichtlichen Ereignis schuldig sind!« Ulrich fühlte eigentlich ein wenig Neigung für diesen naiven alten Aristokraten, der noch immer im Gespräch mit Diotima und Arnheim stand, und fast etwas Eifersucht. Denn die Unterhaltung schien sehr angeregt zu verlaufen; Diotima lächelte, Graf Leins- dorf hielt bestürzt die Augen offen, um folgen zu können, und Arnheim führte in vornehmer Ruhe das Wort. Ulrich fing den Ausdruck auf: »Gedanken in Machtsphären tragen«. Er mochte Arnheim nicht ausstehen, schlechtweg als Daseinsform nicht, grund- sätzlich, das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, Ge- schäft, Wohlleben und Belesenheit war ihm im höchsten Grade -181- unerträglich. Er war überzeugt, daß Arnheim schon am Abend vorher alles darauf angelegt hatte, um am Morgen zu dieser Sit- zung weder als erster noch als letzter einzutreffen; aber daß er trotzdem bestimmt, ehe er aufbrach, nicht nach der Uhr gesehen hatte, sondern vielleicht zum letztenmal, bevor er sich zum Früh- stück niedersetzte und den Vortrag seines Sekretärs empfing, der ihm die Post überreichte: da hatte er die Zeit, die zur Verfügung stand, in die innere Tätigkeit verwandelt, die er bis zum Aufbruch leisten wollte, und wenn er sich dieser Tätigkeit dann mit Un- befangenheit überließ, war er sicher, daß sie genau die Zeit aus- füllen werde, denn das Richtige und seine Zeit hangen durch geheimnisvolle Kraft zusammen wie eine Plastik und der Raum, in den sie gehört, oder ein Speerschütze und das Ziel, das er trifft, ohne hinzusehen. Ulrich hatte schon viel von Arnheim gehört und manches gelesen. In einem seiner Bücher stand, daß ein Mann, der seinen Anzug im Spiegel überwache, zu einer ungebrochenen Hand- lungsweise nicht fähig sei. Denn der Spiegel, ursprünglich zur Freude geschaffen, so führte er aus, sei zu einem Instrument der Angst geworden, wie die Uhr, die ein Ersatz dafür ist. daß unsere Tätigkeiten sich nicht mehr natürlich ablösen. Ulrich mußte sich ablenken, um nicht ungezogen auf die benach- barte Gruppe zu starren, und seine Augen blieben auf dem klei- nen Stubenmädchen ruhen, das zwischen den plaudernden Gruppen hindurchstrich und mit ehrfürchtigem Augenaufschlag Erfrischun- gen anbot. Aber die kleine Rachel bemerkte ihn nicht; sie hatte ihn vergessen und verabsäumte sogar, mit ihrem Brett zu ihm zu kommen. Sie hatte sich Arnheim genähert und bot ihm ihre Er- frischungen an wie einem Gott; sie hätte ihm am liebsten die kurze, ruhige Hand geküßt, als diese nach der Limonade griff und das Glas zerstreut festhielt, ohne daß der Nabob trank. Nachdem die- ser Höhepunkt überschritten war, tat sie ihre Pflicht wie ein ver- wirrter kleiner Automat und strebte schleunigst aus dem Zimmer der Weltgeschichte, wo alles voll Beinen und Gespräch war, wieder ins Vorzimmer hinaus. 44 Fortgang und Schluß der großen Sitzung, Ulrich findet an Rachel Wohlgefallen. Rachel an Soliman. Die Parallelaktion erhält eine feste Orgajiisation Ulrich liebte diese Art Mädchen, die ehrgeizig sind, sich gut be- nehmen und in ihrer wohlerzogenen Einschüchterung Frucht- -182- bäumchen gleichen, deren süße Reife eines Tages einem jungen Schlaraffenkavalier in den Mund fällt, wenn er geruht, die Lip- pen zu öffnen. »Sie müssen tapfer und abgehärtet sein wie die Steinzeitweiber, die nachts das Lager teilten und tagsüber auf den Märschen Waffen und Hausrat ihres Kriegers trugen« dachte er, obwohl er selbst, außer im fernen ersten Voralter der erwachen- den Männlichkeit, niemals auf solchem Kriegspfad gewandelt war. Seufzend nahm er Platz, denn die Beratung hatte wieder begonnen. In der Erinnerung fiel ihm auf, daß das schwarze Ornat, in das man diese Mädchen steckt, die gleichen Farben habe wie das der Nonnen; er bemerkte es zum erstenmal, und er wunderte sich darüber. Aber da sprach schon die göttliche Diotima und erklärte: Die Parallelaktion müsse in einem großen Zeichen gipfeln. Das heiße, sie könne nicht jedes beliebige weithin sichtbare Ziel ha- ben, und wenn es noch so patriotisch wäre. Sondern dieses Ziel müsse das Herz der Welt ergreifen. Es dürfe nicht nur praktisch, es müsse eine Dichtung sein. Es müsse ein Markstein sein. Es müsse ein Spiegel sein, in den die Welt blicke und erröte. Nicht nur er- röte, sondern wie im Märchen ihr wahres Antlitz erschaut habe und nicht mehr vergessen könne. Se. Erlaucht habe dafür die An- regung »Friedenskaiser« gegeben. Dies vorausgeschickt, lasse sich nicht verkennen, daß die bisher erörterten Vorschläge dem nicht entsprächen. Wenn sie im ersten Teile der Sitzung Symbole gesagt habe, so meine sie natürlich nicht Suppenanstalten, sondern es handle sich um nichts Geringe- res, als jene menschliche Einheit wiederzufinden, welche durch die so sehr verschieden gewordenen menschlichen Interessen verloren- gegangen sei. Da dränge sich freilich die Frage auf, ob die gegen- wärtige Zeit und die Völker von heute überhaupt solcher ganz gro- ßer gemeinsamer Ideen noch fähig seien? Alles sei ja vortrefflich, was vorgeschlagen worden, aber es gehe weit auseinander, worin sich schon zeige, daß keiner dieser Vorschläge die vereinheitlichende Kraft besitze, auf die es ankomme! Ulrich beobachtete Arnheim, während Diotima sprach. Aber es waren nicht Einzelheiten der Physiognomie, woran sein Unwille hängen blieb, sondern das Ganze schlechtweg. Obgleich diese Ein- zelheiten — der phönikisch harte Herrenkaufmannsschädel, das scharfe, aber wie aus etwas zu wenig Material und darum flach gebildete Gesicht, die englische Herrenschneiderruhe der Figur, und an der zweiten Stelle, wo der Mensch aus dem Anzug hervor- sieht, die etwas zu kurzfingrigen Hände — genügend bemerkenswert waren. Das gute Verhältnis, in dem alles zueinander stand, war es, was Ulrich reizte. Diese Sicherheit besaßen auch Arnheims Bücher; die Welt war in Ordnung, sobald sie Arnheim betrachtet hatte. -183- In Ulrich erwachte eine Gassenjungenlust, mit Steinen oder Stra- ßendreck nach diesem in Vollkommenheit und Reichtum aufge- wachsenen Menschen zu werfen, während er zusah, mit welcher Aufmerksamkeit der sich anstellte, um den albernen Vorgängen zu folgen, denen sie beiwohnen mußten; er trank sie förmlich wie ein Kenner, dessen Gesicht ausdrückt: ich will nicht zuviel sagen, aber das ist ganz edles Gewächs! Diotima war inzwischen zu Ende gekommen. Gleich nach der Pause, als sie sich wieder hingesetzt hatten, war allen Anwesen- den anzusehen gewesen, daß sie überzeugt waren, nun werde ein Ergebnis gefunden werden. Keiner hatte inzwischen daiüber nach- gedacht, aber alle nahmen die Haltung ein, in der man etwas Wich- tiges erwartet. Und nun schloß Diotima: — Wenn sich also die Frage aufdränge, ob die gegenwärtige Zeit und die heutigen Völ- ker überhaupt noch ganz großer gemeinsamer Ideen fähig seien, so müsse und dürfe man hinzufügen: der erlösenden Kraft! Denn um eine Erlösung handle es sich. Um einen erlösenden Aufschwung. Kurz gesagt; wenn man sich ihn auch noch nicht genau vorstellen könne Er müsse aus der Gesamtheit kommen oder er werde über- haupt nicht kommen. Deshalb erlaube sie sich, nach Rücksprache mit Sr. Erlaucht, folgenden, die heutige Sitzung abschließenden Vorschlag zu erstatten: Se, Erlaucht habe mit Recht bemerkt, daß eigentlich schon die Hohen Ministerien eine Einteilung der Welt nach ihren Hauptgesichtspunkten wie Religion und Unterricht, Handel, Industrie, Recht und so weiter darstellen. Wenn man deshalb beschließen wolle, Ausschüsse einzusetzen, an deren Spitze je ein Beauftragter dieser Regierungsstellen stehe, und an seine Seite Vertreter der ressortzuständigen Körperschaften und Volksteile wähle, so werde man einen Aufbau schaffen, welcher die haupt- sächlichen moralischen Kräfte der Welt schon geordnet enthalte, durch den sie einströmen und in dem sie gesiebt werden können. Die letzte Zusammenfassung wurde dann im Hauptausschuß er- folgen, und dieser Bau müsse nur noch durch einige besondere Aus- schüsse und Unterausschüsse wie ein Propagandakomitee, einen Ausschuß zur Beschaffung von Geldmitteln und dergleichen er- gänzt werden, wobei sie sich persönlich die Gründung eines gei- stigen Ausschusses zur weiteren Bearbeitung der grundlegenden Ideen, natürlich im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen, vorbehalten möchte. Wieder schwiegen alle, aber diesmal erleichtert. Graf Leins- dorf nickte mehrmals mit dem Kopf. Jemand fragte zur Ergänzung des Verständnisses, wie in die so gedachte Aktion das vornehm- lich österreichische hineinkommen werde? Zur Antwort erhob sich der General Stumm von Bordwehr, wäh- - ! S i - rend alle Redner vor ihm sitzend gesprochen hatten. Er wisse wohl, — sagte er — dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine beschei- dene Rolle angewiesen. Wenn er dennoch spreche, so geschehe es nicht, um sich in die unübertreffliche Kritik der bisher aufge- tauchten Vorschläge zu mengen, die alle vortrefflich waren. Den- noch möchte er zum Schlüsse folgenden Gedanken einer wohlwol- lenden Prüfung anheimstellen. Die geplante Kundgebung solle nach außen wirken. Was nach außen wirke, sei aber die Macht eines Volks. Auch sei die Lage in der europäischen Staatenfamilie derart, wie Se. Erlaucht gesagt habe, daß eine solche Kundgebung gewiß nicht zwecklos wäre. Der Gedanke des Staats sei nun ein- mal der der Macht, wie Treitschke sage; Staat sei die Macht, sich im Völkerkampf zu erhalten. Er rühre nur an eine bekannte Wunde, wenn er an den unbefriedigenden Zustand erinnere, in dem sich durch die Teilnahmlosigkeit des Parlaments der Ausbau unserer Artillerie und jener der Marine befinde. Er gebe darum zu bedenken, wenn kein anderes Ziel gefunden werden sollte, was ja noch ausstehe, daß dann eine breite, volkstümliche Teilnahme an den Fragen des Heeres und seiner Bewaffnung ein sehr wür- diges Ziel wäre. Si vis pacem para bellum! Die Kraft, die man im Frieden entfalte, halte den Krieg fern oder kürze ihn zumindest ab. Er könne also wohl versichern, daß eine solche Maßnahme auch völkerversöhnend zu wirken vermöge und eine ausdrucksvolle Kundgebung friedlicher Gesinnung darstellen würde. In diesem Augenblick war etwas Merkwürdiges im Zimmer. Die meisten der Anwesenden hatten anfangs den Eindruck gehabt, daß diese Rede nicht zu der eigentlichen Aufgabe ihres Beisam- menseins passe, aber als sich der General akustisch immer weiter verbreitete, horte sich das an wie der beruhigende Marschtritt ge- ordneter Bataillone. Der ursprüngliche Sinn der Parallelaktion »Besser als Preußen« erhob sich schüchtern, als bliese ferne eine Regimentskapelle den Marsch vom Prinz Eugenius, der gegen die Türken zog, oder das Gott erhalte . . Allerdings wenn da Se. Er- laucht, was er jedoch ganz und gar nicht beabsichtigte, aufgestan- den wäre, um vorzuschlagen, daß man den preußischen Bruder Arnheim an die Spitze der Regimentskapelle stellen solle, so würde man in dem ungewissen inneren Hebezustand, in dem man sich be- fand, geglaubt haben, Heil dir im Siegerkranz zu hören, und hätte kaum etwas dagegen einwenden können. Am Schlüsselloch signalisierte »Rachelle«: »Jetzt sprechen sie von Krieg!« Ein wenig war es nämlich auch deshalb geschehen, daß sie am Ende der Pause ins Vorzimmer zurückgestrebt hatte, weil Arn- heim diesmal wirklich seinen Soliman nach sich gezogen hatte. -185- Da das Wetter sich verschlechteite, war der kleine Mohr seinem Herrn mit einem Mantel gefolgt. Er hatte eine freche kleine Schnauze gemacht, als ihm Rachel öffnete, denn er war ein ver- dorbener junger Berliner, den die Frauen in einer Weise verwöhn- ten, mit der er noch nicht das Rechte anzufangen wußte. Aber Rachel hatte gedacht, daß man mit ihm in der Mohrensprache re- den müsse, und war einfach nicht auf den Einfall gekommen, es deutsch zu versuchen; sie hatte, da sie sich unbedingt verständigen mußte, rundweg den Arm um die Schulter des sechzehnjährigen Jungen gelegt, auf die Küche gezeigt, ihm einen Stuhl hingesetzt und an Kuchen und Getränken herangeschoben, was in der Nähe war. Sie hatte so etwas noch nie in ihrem Leben unternommen, und als sie sich vom Tisch aufrichtete, hatte ihr Herz geklopft. wie wenn in einem Mörser Zucker zerstoßen wird. »Wie heißen Sie?« fragte Soliman; da sprach er deutsch! »Rachelle!« hatte Rachel gesagt und war davongelaufen. Soliman hatte sich inzwischen in der Küche Kuchen, Wein und Brötchen schmecken lassen, eine Zigarette angezündet und ein Gespräch mit der Köchin begonnen. Als Rachel vom Servieren zu- rückkehrte, gab ihr das einen Stich. Sie sagte: »Da drinnen wird jetzt gleich wieder etwas sehr Wichtiges beraten werden!« Aber auf Soliman machte das keinen Eindruck, und die Köchin, die eine ältere Person war, lachte. »Daraus kann auch ein Krieg werden!« hatte Rachel erregt hinzugefügt, und als höchste Steigerung kam nun ihre Meldung vom Schlüsselloch, daß es fast schon soweit sei. Soliman horchte auf. »Sind österreichische Generale dabei?« fragte er. »Sehen Sie selbst!« sagte Rachel. »Einer ist schon da«! und sie gingen miteinander zum Schlüsselloch. Da fiel denn der Blick bald auf ein weißes Papier, bald auf eine Nase, bald ging ein großer Schatten vorbei, bald glänzte ein Ring auf. Das Leben zerfiel in helle Einzelheit; man sah grünes Tuch sich wie einen Rasen erstrecken; eine weiße Hand ruhte ohne Ge- gend, irgendwo, wächsern wie in einem Panoptikum; und wenn man ganz schief durchblickte, konnte man in einer Ecke die gol- dene Säbelquaste des Generals glimmen sehn. Selbst der verwöhnte Soliman zeigte sich ergriffen. Märchenhaft und unheimlich schwoll das Leben an, durch einen Türspalt und eine Einbildung gesehen. Die gebückte Haltung machte das Blut in den Ohren sausen, und die Stimmen hinter der Tür polterten bald wie Felsblöcke, bald glitten sie wie auf geseiften Bohlen. Rachel richtete sich langsam auf. Der Boden schien sich unter ihren Füßen zu heben, und der Geist der Ereignisse umschloß sie, als ob sie den Kopf unter eines jener schwarzen Tücher gesteckt hätte, welche die Zauberer und -186- Photographen benutzen. Dann richtete sich auch Soliman auf, und das Blut senkte sich zitternd aus ihren Köpfen. Der kleine Neger lächelte, und hinter den blauen Lippen schimmerte ein Scharlach- rotes Zahnfleisch. Während diese Sekunde im Vorzimmer zwischen den an den Wänden hängenden Überkleidern einflußreicher Personen langsam wie auf der Trompete geblasen dahinging, wurde im Zimmer in- nen alles zum Beschluß erhoben, nachdem Graf Leinsdorf dort aus- gesprochen hatte, daß man den hochwichtigen Anregungen des Herrn Generals großen Dank schulde, aber vorerst noch nicht ins Meritorische eingehen, sondern nur das Organisatorisch-Grund- legende beschließen wolle. Dazu war aber, außer der Anpassung des Plans an die Welt nach den Hauptgesichtspunkten der Mini- sterien, nur noch eine Schlußresolution vonnöten, die zum Inhalt hatte, daß die Anwesenden einstimmig übereingekommen seien, sobald sich durch ihre Aktion der Wunsch des Volks herausgestellt haben werde, diesen Sr. Majestät mit der untertänigsten Bitte zu unterbreiten, über die bis dahin bereitzustellenden Mittel zu seiner materiellen Durchführung aus Allerhöchster Gnade frei zu ver- fügen. — Dies hatte den Vorteil, daß das Volk in die Lage kam, sich selbst, aber doch durch Vermittlung des Allerhöchsten Wil- lens sein als würdigst erkanntes Ziel zu setzen, und war auf be- sonderen Wunsch Sr. Erlaucht beschlossen worden, denn obgleich es sich dabei nur um eine Formfrage handelte, fand er es wichtig, daß das Volk nichts aus sich allein und ohne den zweiten konsti- tutionellen Faktor tue; auch nicht diesen ehren. Die übrigen Teilnehmer würden es nicht so genau genommen haben, aber eben deshalb wandten sie auch nichts dagegen ein. Und daß die Sitzung mit einer Resolution schloß, war in Ordnung. Denn ob man bei einer Rauferei mit dem Messer den Schlußpunkt setzt oder am Ende eines Musikstücks alle zehn Finger ein paar- mal gleichzeitig in die Tasten schlägt, oder ob der Tänzer sich vor seiner Dame verbeugt, oder ob man eine Resolution beschließt: es wäre eine unheimliche Welt, wenn die Geschehnisse sich einfach davonschlichen und nicht am Ende noch einmal gehörig versichern würden, daß sie geschehen seien; und darum tut man es. 45 Schweigende Begegnimg zweier Berggipfel Als die Sitzung zu Ende war, hatte Dr. Arnheim unauffällig so manövriert, daß er als letzter zurückblieb, die Anstrengung da- -187- zu war von Diotima ausgegangen; Sektionschef Tuzzi hielt eine Respektsfrist ein, um sicher nicht vor dem Ende der Sitzung in sein Haus zurückzukehren. In diesen Minuten zwischen dem Weggang der Gäste und der Festigung der zurückbleibenden Lage, während des Wegs von ei- nem Zimmer ins andre, der von kleinen, in die Quere laufenden Anordnungen, Überlegungen und der Unruhe unterbrochen wurde, die ein davonziehendes großes Ereignis hinter sich läßt, war Arnheim lächelnd Diotima mit den Blicken gefolgt. Diotima fühlte, daß ihre Wohnung sich in zitternder Bewegung befand; alle Dinge, die we- gen des Ereignisses ihren Platz hatten verlassen müssen, kehrten nun nacheinander zurück, es war, wie wenn eine große Welle aus unzäh- ligen kleinen Grübchen und Gräben wieder über den Sand abrinnt. Und während Arnheim in vornehmem Schweigen wartete, bis sie und diese Bewegung um sie wieder zur Ruhe gekommen seien, erin- nerte sich Diotima, daß, so viel Menschen auch schon bei ihr ver-< kehrt hatten, noch nie ein Mann mit ihr so häuslich allein gewesen war, daß man das stumme Leben der leeren Wohnung spürte, außer Sektionschef Tuzzi. Und plötzlich wurde ihre Keuschheit durch eine ganz ungewohnte Vorstellung verwirrt; ihre leer ge- wordene Wohnung, in der auch ihr Mann fehlte, kam ihr wie eine Hose vor, in die Arnheim hineingefahren war. Es gibt solche Au- genblicke, sie können wie Ausgeburten der Nacht dem keuschesten Menschen widerfahren, und der wunderbare Traum einer Liebe, wo Seele und Leib ganz eins sind, erstrahlte in Diotima. Arnheim ahnte nichts davon. Seine Hose stellte eine einwand- freie senkrechte Linie auf das spiegelnde Parkett, sein Cut, seine Binde, sein ruhig lächelnder vornehmer Kopf redeten nicht, so vollkommen waren sie. Er hatte eigentlich den Plan gehabt, Dio- tima Vorwürfe wegen des Zwischenfalls bei seinem Kommen zu machen und Vorsorge für die Zukunft zu treffen; aber es gab in diesem Augenblick etwas, das diesen Mann, der mit amerikanischen Geldmagnaten als seinesgleichen verkehrte und von Kaisern und Königen empfangen worden war, diesen Nabob, der jede Frau mit Platin aufwiegen konnte, statt dessen gebannt auf Diotima starren ließ, die in Wahrheit Ermelinda oder gar nur Hermine Tuzzi hieß und bloß die Frau eines hohen Beamten war. Für die- ses Etwas muß hier wieder einmal das Wort Seele gebraucht wer- den. Es ist das ein Wort, das schon des öfteien, aber nicht gerade in den klarsten Beziehungen aufgetreten ist. Zum Beispiel als das, was der heutigen Zeit verlorengegangen ist oder sich nicht mit der Zivilisation vereinen läßt; als das, was in Widerstreit mit körper- lichen Trieben und ehelichen Gewohnheiten steht; als das, was von -188- einem Morder nicht nur unwillig- erregt wurde; als das, was durch die Parallelaktion befreit werden sollte; als religiöse Betrachtung und contemplatio in caligine divina beim Grafen Leinsdorf; als Liebe zu Gleichnissen bei vielen Menschen, und so fort. Von allen Eigentümlichkeiten dieses Wortes Seele ist aber die merkwürdig- ste, daß junge Menschen es nicht aussprechen können, ohne zu la- chen. Selbst Diotima und Arnheim scheuten sich, es ohne Verbin- dung zu gebrauchen; denn eine große, edle, feige, kühne, niedrige Seele zu haben, das läßt sich noch behaupten, aber schlechtweg zu sagen, meine Seele, das bringt man nicht über sich. Es ist ein aus- geprägtes Wort für ältere Leute, und das ist nur so zu verstehen, daß man annimmt, es müsse sich im Laufe des Lebens irgend et- was immer fühlbarer machen, für das man dringend einen Namen braucht, ohne ihn zu rinden, bis man schließlich den ursprunglich verschmähten dafür widerstrebend in Gebrauch nimmt. Wie soll man es also beschreiben? Man kann stehn oder gehn, wie man will, das Wesentliche ist nicht, was man vor sich hat, sieht, hört, will, angreift, bewältigt. Es liegt als Horizont, als Halbkreis voraus; aber die Enden dieses Halbkreises verbindet eine Sehne, und die Ebene dieser Sehne geht mitten durch die Welt hindurch. Vorn sehen das Gesicht und die Hände aus ihr heraus, laufen die Empfindungen und Bestrebungen vor ihr her, und niemand be- zweifelt: was man da tut, ist immer vernünftig oder wenigstens leidenschaftlich; das heißt, die Verhältnisse außen verlangen in einer Weise unsere Handlungen, die jedermann begreiflich ist, oder wenn wir, von Leidenschaft befangen, Unbegreifliches tun, so hat schließlich auch das seine Weise und Art. Aber so vollstän- dig dabei alles verständlich und in sich geschlossen erscheint, wird es doch von einem dunklen Gefühl begleitet, daß es bloß etwas Halbes sei. Es fehlt etwas am Gleichgewicht, und der Mensch dringt vor, um nicht zu wanken, wie es ein Seilläufer tut. Und da er durchs Leben dringt und Gelebtes hinter sich läßt, bilden das noch zu Lebende und das Gelebte eine Wand, und sein Weg gleicht schließlich dem eines Wurms im Holz, der sich beliebig winden, ja auch zurückwenden kann, aber immer den leeren Raum hinter sich läßt Und an diesem entsetzlichen Gefühl eines blinden, ab- geschnittenen Raums hinter allem Ausgefüllten, an dieser Hälfte, die immer noch fehlt, wenn auch alles schon ein Ganzes ist, be- merkt man schließlich das, was man die Seele nennt. Man denkt, ahnt, fühlt sie natürlich allezeit hinzu; in den ver- schiedensten Arten von Ersätzen und je nach Temperament. In der Jugend als ein deutliches Gefühl der Unsicherheit bei allem, was man tut, ob es wohl auch das« rechte sei. Im Alter als Staunen darüber, wie wenig man von dem getan hat, was man eigentlich ~ 18Q- vorhatte. Dazwischen als Trost, daß man ein verfluchter, tüchtiger, braver Kerl sei, wenn auch nicht alles im einzelnen zu rechtferti- gen ist, was man tut; oder daß ja auch die Welt nicht so sei, wie sie sollte, so daß am Ende alles, was man vei fehlt hat, noch einen gerechten Ausgleich darstellt; und schließlich denken manche Leute sogar über alles hinaus an einen Gott, der das ihnen fehlende Stück in der Tasche trägt. Eine besondere Stellung nimmt dabei nur die Liebe ein; in diesem Ausnahmefall wächst nämlich die zweite Hälfte zu. Der geliebte Mensch scheint dort zu stehen, wo sonst etwas fehlt. Die Seelen vereinigen sich sozusagen dos ä dos und machen sich dabei überflüssig. Weshalb die meisten Menschen nach dem Vorubergehn der einen großen Jugendliebe das Fehlen der Seele nicht mehr empfinden, und diese sogenannte Torheit eine dankbare soziale Aufgabe erfüllt. Weder Diotima noch Arnheim hatten geliebt. Von Diotima weiß man es, aber auch der große Finanzmann besaß eine in erweiter- tem Sinn keusche Seele. Er hatte immer Angst gehabt, daß die Ge- fühle, die er in Frauen erregte, nicht ihm, sondern seinem Geld gelten könnten, und lebte deshalb nur mit Frauen, denen auch er nicht Gefühle, sondern Geld gab. Er hatte niemals einen Freund besessen, weil er sich fürchtete, mißbraucht zu werden, sondern nur Geschäftsfreunde, auch wenn der geschäftliche Austausch ein gei- stiger war So war er durchtrieben von Lebenserfahrung, doch un- berührt und in der Gefahr des Alleinbleibens, als ihm Diotima begegnete, die das Schicksal für ihn bestimmt hatte. Die geheim- nisvollen Kräfte in ihnen stießen aufeinander. Es läßt sich das nur mit dem Streichen der Passatwinde vergleichen, dem Golfstrom, den vulkanischen Zitterwellen der Erdrinde; Kräfte, ungeheuer denen des Menschen überlegen, den Sternen verwandt, setzten sich in Bewegung, vom einen zum anderen, über die Grenzen der Stunde und des Tages hinaus; unermeßliche Ströme. Es ist in solchen Au- genblicken ganz gleichgültig, was gesprochen wird. Aus der senk- rechten Bügelfalte empor, schien Arnheims Leib in der Gottes- einsamkeit der Bergriesen dazustehn; durch die Welle des Tals mit ihm vereint, stand auf der anderen Seite einsamkeitsüberglänzt Diotima, in ihrem Kleid der damaligen Mode, das an den Ober- armen kleine Puffen bildete, über dem Magen den Busen in eine kunstvoll gefaltete Weite auflöste und unter der Kniekehle sich wieder an die Wade legte Die Glasschnüre der Türbehänge spie- gelten wie Weiher, die Lanzen und Pfeile an den Wänden zitter- ten ihre gefiederte und tödliche Leidenschaft aus, und die gelben Galman-Levy-Bände auf den Tischen schwiegen wie Zitronen- haine. Wir übergehen mit Ehrfurcht, was anfangs gesprochen wurde. - 190- 46 Ideale und Moral sind das beste Mittel, u?n das große Lock zu füllen, das man Seele nennt Arnheim schüttelte als erster den Zauberbann ab. Denn län- geres Verweilen in einem solchen Zustand war nach seiner An- sicht nicht möglich, ohne daß man entweder zu einem dumpfen, inhaltslosen, ruhseligen Brüten hinabsinkt oder der Andacht ein festes Gerüst von Gedanken und Überzeugungen unterschiebt, das ihr aber nicht mehr ganz wesensgleich ist. Ein solches Mittel, das die Seele zwar tötet, aber dann gleich- sam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch aufbewahrt, ist seit je ihre Verbindung mit der Vernunft, den Überzeugungen und dem praktischen Handeln gewesen, wie sie alle Moralen, Phi- losophien und Religionen erfolgreich durchgeführt haben. Weiß Gott, wie gesagt, was überhaupt eine Seele ist! Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß der glühende Wunsch, nur auf sie zu hören, einen unermeßlichen Spielraum, eine wahre Anarchie übrig läßt, und man hat Beispiele dafür, daß sozusagen chemisch reine Seelen geradezu Verbrechen begehn Sobald dagegen eine Seele Moral hat oder Religion, Philosophie, vertiefte bürgerliche Bil- dung und Ideale auf den Gebieten der Pilicht und des Schönen, ist ihr ein System von Vorschriften, Bedingungen und Durchfüh- rungsbestimmungen geschenkt, das sie auszufüllen hat, ehe sie dar- an denken darf, eine beachtenswerte Seele zu sein, und ihre Glut wird wie die eines Hochofens in schöne Sandrechtecke geleitet. Es bleiben dann im Grunde nur noch logische Fragen der Ausle- gung übrig, von der Art, ob eine Handlung unter dieses oder jenes Gebot fällt, und es hat die Seele die ruhige Übersichtlichkeit eines Feldes nach geschlagener Schlacht, wo die Toten still liegen und man sofort bemerken kann, wo ein Stückchen Leben sich noch erhebt oder stöhnt. Darum vollzieht der Mensch, so rasch er kann, diesen Übergang. Wenn ihn Glaubenssorgen quälen, wie es zuweilen in der Jugend vorkommt, geht er alsbald zur Verfolgung Ungläu- biger über; wenn ihn die Liebe verstört, macht er aus ihr die Ehe; und wenn ihn irgendeine andere Begeisterung überwältigt, ent- zieht er sich der Unmöglichkeit, dauernd in ihrem Feuer zu leben, dadurch, daß er für dieses Feuer zu leben beginnt. Das heißt, er füllt die vielen Augenblicke seines Tags, von denen jeder einen Inhalt und Antrieb braucht, an Stelle seines Idealzustands mit der Tätigkeit für seinen Idealzustand, das heißt mit den vielen Mit- teln zum Zweck, Hindernissen und Zwischenfällen aus, die ihm sicher verbürgen, daß er ihn niemals zu eri eichen braucht. Denn - 191 - dauernd vermögen bloß Narren, Geistesgestörte und Menschen mit fixen Ideen, im Feuer der Beseeltheit auszuharren; der gesunde Mensch muß sich damit begnügen, die Erklärung abzugeben, daß ihm ohne eine Flocke dieses geheimnisvollen Feuers das Leben nicht lebenswert vorkäme. Arnheims Dasein war von Tätigkeit ausgefüllt; er war ein Mann der Wirklichkeit und hatte mit wohlwollendem Lächeln und picht ohne Gefühl für die gute gesellschaftliche Haltung der Altöster- reicher zugehört, wie man in der Sitzung, deren Zeuge er war, von einer Kaiser-Franz- Josef-Suppenanstalt und dem Zusammenhang zwischen Pflichtgefühl und Militärmärschen gesprochen hatte; er war weit davon entfernt, sich daiuber lustig zu machen, wie es Uli ich getan hatte, denn er war überzeugt, daß es weit weniger Mut und Überlegenheit anzeige, großen Gedanken zu folgen, als in solchen alltäglichen und etwas lächerlichen Gemütern von gu- tem Aussehen den i uhrenden Kern von Idealismus gelten zu las- sen Als aber mitten darin Diotima, diese Antike mit einem wiene- rischen Plus, das Wort Welt-Österreich ausgesprochen hatte, ein Wort, das so heiß und fast auch so menschlich unverständlich war wie eine Flamme, da hatte ihn etwas ergriffen. Man ei zählte eine Geschichte von ihm. Er besaß in seinem Ber- liner Wohnhaus einen Saal, der ganz voll mit barocken und go- tischen Skulptuien war. Nun bildet aber die katholische Kirche (und Arnheim hatte große Liebe zu ihr) ihre Heiligen und die Banner- trager des Guten meistens in sehr beglückten, ja verzückten Stel- lungen ab. Da starben Heilige in allen Lagen, und die Seele rang die Körper wie ein Stuck Wasche, aus dem man das Wasser preßt. Die wie Säbel gekreuzten Gebärden der Arme und der verwun- denen Hälse, losgelöst aus ihrer ursprünglichen Umgebung und in einem fremden Zimmer vereinigt, machten den Eindruck einer Katatonikerversammlung in einem Irrenhaus. Diese Sammlung wurde sehr geschätzt und führte viele Kunstgelehrte zu Arnheim, mit denen er sich gebildet unterhielt, aber er setzte sich auch oft allein und einsam in .seinen Saal, und dann war ihm ganz anders zumute; ein schreckartiges Staunen war in ihm wie vor einer halb nrsmnigen Welt. Er fühlte, wie in der Moral ursprünglich ein unsägliches Feuer geglüht hat, bei dessen Anblick selbst ein Geist wie er nicht viel mehr tun konnte, als in die ausgebrannten Koh- len starren. Diese dunkle Ei scheinung von dem, was alle Religio- nen und Mythen durch die Ei Zählung ausdiücken, daß die Gesetze uranf anglich dem Menschen von den Göttern geschenkt worden seien, die Ahnung also eines Frühzustands der Seele, der nicht ganz geheueilich und doch den Göttern liebenswert gewesen sein -192- mußte, bildete dann einen seltsamen Rand von Unruhe um sein sonst so selbstgefällig ausgebreitetes Denken. Und Arnheim besaß einen Gärtnergehilfen, einen tiefschlichten Menschen, wie er das nannte, mit dem er sich oft über das Leben der Blumen unterhielt, weil man von so einem Mann mehr lernen kann als von Gelehr- ten. Bis Arnheim eines Tages entdeckte, daß dieser Gehilfe ihn bestahl. Man kann sagen, er trug geradezu verzweifelt alles weg, was er erreichen konnte, und sparte den Erlös auf, um sich selb- ständig zu machen, das war der einzige Gedanke, der ihn Tag und Nacht besaß; aber einmal verschwand auch eine kleine Skulptur, und die zu Hilfe genommene Polizei deckte den Zusammenhang auf. An dem Abend, wo Arnheim von dieser Entdeckung benach- richtigt wurde, ließ er den Mann rufen und machte ihm die ganze Nacht lang Vorwürfe wegen der Irrwege seines leidenschaftlichen Erwerbtriebs. Man erzählte, daß er selbst dabei sehr aufgeregt gewesen sei und zeitweise nahe daran, in einem dunklen Neben- zimmer zu weinen. Denn er beneidete diesen Mann, aus Ursachen, die er sich nicht erklären konnte, und am nächsten Morgen ließ er ihn von der Polizei abführen. Diese Geschichte wurde von nahen Freunden Arnheims bestä- tigt, und ähnlich war ihm auch diesmal zumute gewesen, als er mit Diotima allein in einem Zimmer stand und etwas wie das lautlose Lodern der Welt um die vier Wände fühlte. 47 Was alle geticnnt sind, ist Arnheim in einer Person In den folgenden Wochen nahm der Salon Diotimas einen ge- waltigen neuen Aufschwung Man kam hin, um das Neueste von der Parallelaktion zu erfahren und um den neuen Mann zu sehen, von dem es hieß, daß sich Diotima ihn verschrieben habe, einen deutschen Nabob, einen reichen Juden, einen Sonderling, der Gedichte schrieb, den Kohlenpreis diktierte und der persön- liche Freund des deutschen Kaisers war. Nicht nur Damen und Herren aus den Kreisen des Grafen Leinsdorf erschienen und aus der Diplomatie, sondern auch das bürgerliche Wirtschafts- und Geistesleben zeigte sich in erhöhtem Maße angezogen So stießen Spezialisten der Ewesprache und Komponisten aufeinander, die voneinander noch nie einen Ton gehört hatten, Webstühle und Beichtstühle, Menschen, die bei dem Worte Kurs an den Rennkurs, Börsenkurs oder Seminarkurs dachten. Nun ereignete sich aber etwas noch nie Dagewesenes- es gab lit Musil, Mann - 193 - einen Mann, der mit jedem in seiner Sprache reden konnte, und das war Arnheim. Er hielt sich von den offiziellen Sitzungen, nach dem pein- lichen Eindruck, den er am Beginn der ersten empfangen hatte, weiterhin fern, aber er nahm auch nicht immer an den Gesell- schaften teil, denn er war viel von der Stadt abwesend. Von der Sekretärstelle war selbstverständlich nicht mehr die Rede: er selbst hatte Diotima auseinandergesetzt, daß sich dieser Ein- fall nicht schicken würde, auch für ihn nicht, und Diotima konnte zwar Ulrich nicht ansehn, ohne ihn als einen Usurpator zu empfinden, aber sie fügte sich dem Urteil Arnheims. Er kam und ging; während drei oder fünf Tage wie nichts verflossen, kehrte er aus Paris, Rom, Berlin zurück; was sich bei Diotima er- eignete, war nur ein kleiner Ausschnitt aus seinem Leben. Aber er bevorzugte ihn und war mit ganzer Person in ihm an- wesend. Daß er mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bank- leuten über die Wirtschaft zu sprechen vermochte, war verständ- lich; aber er war imstande, ebenso unumschränkt über Molekular- physik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern. Er war ein au- ßerordentlicher Redner; wenn er einmal angefangen hatte, hörte er so wenig auf, wie man ein Buch abschließen kann, ehe darin alles gesagt ist, was zum Wort drängt; aber er hatte eine still vor- nehme, fließende Art zu sprechen, eine Art, die fast traurig übei sich selbst war, wie ein von dunklen Büschen eingesäumter Bach, und das gab dem Viel reden gleichsam etwas Notwendiges. Seine Belesenheit und sein Gedächtnis hatten wirklich einen ungewöhn- lichen Umfang; er vermochte Kennern die feinsten Stichworte ihres Wissensgebiets zu bringen, kannte abei ebensogut jede wich- tige Person aus dem englischen, dem französischen oder japa- nischen Adel und wußte auf Renn- und Golfplätzen nicht nur in Europa, sondern auch in Australien und Amerika Bescheid. So verließen selbst die Gemsjäger, Pferdebändiger und Stammlogen- besitzer der Hoftheater, die gekommen waren, um einen ver- rückten reichen Juden zu sehn (halt auch so was Neiches — hieß das in ihrer Mundart), Diotimas Haus mit einem achtungsvollen Kopfschütteln. Se. Erlaucht nahm einmal Ulrich beiseite und sagte zu ihm: »Wissen Sie, der Hochadel hat in den letzten hundert Jahren Pech mit seinen Hauslehrern gehabt! Früher sind das Menschen gewe- sen, von denen ein großer Teil nachher in das Konversationslexi- kon gekommen ist; und diese Hofmeister haben wieder Musik- und Zeichenlehrer mit sich gebracht, die zum Dank dafür Sachen gemacht haben, die man heute unsre alte Kultur nennt. Aber seit -194- es die neue und allgemeine Schule gibt und Leute aus meinen Krei- sen, entschuldigen Sie, den Doktortitel erwerben, sind irgendwie die Hauslehrer schlecht geworden. Unsere Jugend hat ja ganz recht, wenn sie Fasanen und Säue schießt, reitet und sich hübsche Frauenzimmer aussucht, — dagegen ist wenig zu sagen, wenn man jung ist; aber früher haben eben die Hauslehrer einen Teil dieser Jugendkraft darauf gelenkt, daß man den Geist und die Kunst ebenso hegen muß wie die Fasanen, und das fehlt heute.« Es war das Sr. Erlaucht eben so eingefallen, und es fielen ihm manchmal solche Dinge ein; plötzlich wandte er sich ganz zu Ulrich und schloß: »Sehen Sie, das ist das verhängnisvolle Jahr Achtundvierzig, wel- ches das Bürgertum vom Adel zu beider Schaden getrennt hat!« Er blickte besorgt in die Gesellschaft. Er ärgerte sich jedesmal, wenn in den Oppositionsreden des Parlaments die Wortführer mit der bürgerlichen Kultur protzten, und würde es gerne gesehen ha- ben, wenn die wahre bürgerliche Kultur beim Adel zu finden gt- wesen wäre; der arme Adel aber konnte nichts an ihr finden, sie war eine für ihn unsichtbare Waffe, mit der man ihn schlug, und da er im Lauf dieser Entwicklung immer mehr an Macht verloren hatte, kam man schließlich zu Diotima und besah sich die Sache. So empfand es Graf Leinsdorf manchmal mit bekümmer- tem Herzen, wenn er den Betrieb beobachtete; er würde ge- wünscht haben, daß man das Amt, zu dem in diesem Hause Ge- legenheit gegeben war, ernster genommen hätte. »Erlaucht, dem Bürgertum geht es heute mit den Intellektuellen genau so, wie es seinerzeit dem Hochadel mit seinen Hofmeistern gegangen ist!« suchte ihn Ulrich zu trösten. »Das sind ihm fremde Leute. Bitte, sehn Sie sich an, wie alle diesen Doktor Arnheim be- staunen.« Aber Graf Leinsdorf hatte ohnedies die ganze Zeit über nur auf Arnheim gesehn. »Das ist übrigens schon kein Geist mehr,« ging Ulrich auf dieses Staunen ein »das ist ein Phänomen wie ein Re- genbogen, den man beim Fuß fassen und ganz richtig betasten kann. Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Ka- jakfahrten, er ist ein Gelehrter, ein Gutsbesitzer und ein Börsen- mann; mit einem Wort, was wir alle getrennt sind, das* ist er in einer Person, und da staunen wir eben. Erlaucht schütteln den Kopf? Aber ich bin überzeugt, die Wolke des sogenannten Fort- schritts der Zeit, in die niemand hineinsieht, hat ihn uns aufs Par- kett gestellt.« »Ich habe nicht über Sie den Kopf geschüttelt,« berichtigte Se. Erlaucht »ich habe an den Doktor Arnheim gedacht. Alles in allem muß man zugeben, daß er eine interessante Persönlich- keit ist.« -195- 48 Die (hei Ursachen von A) nheims Beiuhmtheit und das Geheimnis des Ganzen Aber alles das war nur die gewöhnliche Wirkung der Person Dr. Arnheims. Er war ein Mann großen Formats. Seine Tätigkeit breitete sich über Kontinente der Erde wie des Wissens aus. Er kannte alles: die Philosophen, die Wirtschaft, die Musik, die Welt, den Sport. Er drückte sich geläufig in fünf Spra- chen aus. Die berühmtesten Künstler der Welt waren seine Freunde, und die Kunst von morgen kaufte er am Halm, zu noch nicht hin- aufgesetzten Preisen. Er verkehrte am kaiserlichen Hof und unter- hielt sich mit Arbeitern. Er besaß eine Villa in modernstem Stil, die in allen Zeitschriften für zeitgenössische Baukunst abgebildet wurde, und ein wackliges altes Schloß irgendwo in der kärgsten adeligen Mark, das geradezu wie die morsche Wiege des preu- ßischen Gedankens aussah. Solche Ausbreitung und Aufnahmefähigkeit ist selten von ei- genen Leistungen begleitet; aber auch darin machte Arnheim eine Ausnahme. Er zog sich ejn- oder zweimal im Jahr auf sein Land- gut zurück und schrieb dort die Erfahrungen seines geistigen Le- bens nieder. Diese Bücher und Abhandlungen, deren er nun schon eine stattliche Reihe verfaßt hatte, waren sehr gesucht, erreichten hohe Auflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt; denn zu einem kranken Arzt hat man kein Vertrauen, was aber einer zu sagen hat, der es verstanden hat, für sich selbst gut zu sorgen, dar- an muß doch wohl mancherlei Wahres sein. Dies war die erste Quelle seiner Berühmtheit. Die zweite entsprang dem Wesen der Wissenschaft. Die Wis- senschaft steht bei uns in hohem Ansehen, und mit Recht; aber wenn es auch sicher ein Menschenleben ganz ausfüllt, wenn man sich der Erforschung der Nierentätigkeit widmet, so gibt es doch Augenblicke dabei, wo man sich veranlaßt sieht, humanistische Augenblicke will dies sagen, an den Zusammenhang der Nieren mit dem Volksganzen zu erinnern. Darum wird in Deutschland so viel Goethe zitiert. Will ein Akademiker aber ganz besonders zei- gen, daß er nicht nur Gelehrsamkeit, sondern auch lebendigen, zukunftsfrohen Geist besitzt, so weist er sich am besten durch den Hinweis auf Schriften aus, deren Bekanntschaft nicht nur Ehre macht, sondern noch mehr Ehre verspricht, wie ein Papier, das im Steigen ist, und in solchen Fällen erfreuten sich Zitate aus Paul Arnheim zunehmender Beliebtheit. Die Ausflüge in die Gebiete -196- der Wissenschaften, die er unternahm, um seine allgemeinen Auf- fassungen zu stützen, genügten freilich nicht immer den strengsten Anforderungen. Sie zeigten wohl ein spielendes Verfügen über eine große Belesenheit, aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und Mißverständnisse, an de- nen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennen kann, wie sich schon an der Naht ein Kleid, das von einer Hausschneiderin ge- macht ist, von einem unterscheiden läßt, das aus einem richtigen Atelier stammt. Nur darf man durchaus nicht glauben, daß das Fachleute hinderte, Arnheim zu bewundern. Sie lächelten selbst- gefällig; er imponierte ihnen als etwas ganz Neuzeitliches, als ein Mann, von dem alle Zeitungen sprachen, ein Wirtschaftskönig, seine Leistungen waren, mit den geistigen Leistungen älterer Kö- nige verglichen, immerhin überragend, und wenn sie bemerken durften, daß sie auf ihrem eigenen Gebiet doch noch etwas be- trächtlich anderes darstellten als er, so erwiesen sie sich dafür dankbar, indem sie ihn einen geistvollen Mann nannten, einen ge- nialen oder ganz einfach einen universalen, was unter Fachleuten soviel sagt, wie wenn man unter Männern von einer Frau erklärt, daß sie eine Schönheit für den Frauengeschmack sei. Die dritte Quelle von Arnheims Berühmtheit lag in der Wirt- schaft. Es erging ihm nicht schlecht mit ihren alten, seebefahrenen Kapitänen; wenn er ein großes Geschäft mit ihnen zu vereinbaren hatte, legte er selbst die gerissensten hinein. Sie hielten zwar nicht viel von ihm als Kaufmann und nannten ihn den »Kronprinzen«, zum Unterschied von seinem Vater, dessen kurze, dicke Zunge nicht beweglich zu reden vermochte, aber dafür im weitesten Umkreis und an den feinsten Anzeichen herausschmeckte, was ein Geschäft war. Diesen fürchteten sie und verehrten ihn; wenn sie aber von den philosophischen Forderungen hörten, die der Kronprinz an ihren Stand stellte und sogar in die sachlichsten Unterredungen verflocht, so lächelten sie. Er war berüchtigt dafür, daß er in Verwaltungs- ratsitzungen die Dichter zitierte und darauf bestand, daß die Wirt- schaft etwas sei, das man von den anderen menschlichen Tätigkei- ten nicht absondern könne und nur im großen Zusammenhang alier Fragen des nationalen, des geistigen, ja selbst des innerlichsten Lebens behandeln dürfe. Aber immerhin, wenn sie auch dazu lä- chelten, konnten sie doch nicht ganz übersehen, daß Arnheim ju- nior gerade mit diesen Zutaten zum Geschäft die öffentliche Mei- nung in steigendem Maße beschäftigte. Bald im wirtschaftlichen, bald im politischen oder im kulturellen Teil der großen Blätter aller Nationen erschien eine Nachricht über ihn, die Würdigung einer Arbeit aus seiner Feder, der Bericht über eine bemerkens- werte Rede, die er irgendwo gehalten hatte, die Mitteilung von -197- seinem Empfang durch irgendeinen Herrscher oder Kunstverein, und es gab in dem sonst in der Stille und hinter doppelt verschlos- senen Türen wirkenden Kreis der Großunternehmer bald keinen Mann, von dem draußen so viel die Rede gewesen wäre, wie von ihm. Und man darf nicht glauben, daß die Herren Präsidenten, Aufsichtsräte, Generaldirektoren und Direktoren der Banken, Hüt- ten, Konzerne, Bergwerke und Schiffahrtsgesellschaften in ihrem Innern die böswilligen Menschen seien, als die sie oft hingestellt werden. Abgesehen von ihrem sehr entwickelten Familiensinn, ist die innere Vernunft ihres Lebens die des Geldes, und das ist eine Vernunft mit sehr gesunden Zähnen und schlichtem Magen. Sie alle waren überzeugt, daß die Welt viel besser wäre, wenn man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überließe, statt Panzerschiffen, Bajonetten, Majestäten und wirtschaftsun- kundigen Diplomaten; bloß weil die Welt ist, wie sie ist, und einem alten Vorurteil zuliebe ein Leben, das zuerst dem eigenen und dadurch erst dem allgemeinen Vorteil dient, tiefer bewertet wird als Ritterlichkeit und Staatsgesinnung, und Staatsaufträge moralisch höher stehen als private, waren sie die letzten, nicht da- mit zu rechnen, und machten sich bekanntlich die Vorteile, die be- waffnete Zollverhandlungen oder gegen Streikende eingesetztes Militär dem öffentlichen Wohl bieten, kräftig zunutze. Auf diesem Wege führt aber das Geschäft zur Philosophie, denn ohne Philo- sophie wagen heute nur noch Verbrecher anderen Menschen zu schaden, und so gewöhnten sie sich daran, in Arnheim junior eine Art vatikanischen Vertreters ihrer Angelegenheiten zu erblicken. Bei aller Ironie, die sie für seine Neigungen bereit hatten, war es ihnen angenehm, an ihm einen Mann zu besitzen, der ihre Bedurf- nisse auf einer Bischofsversammlung ebensogut zu vertreten ver- mochte wie auf einem Soziologenkongreß,- ja er gewann schließlich einen ähnlichen Einfluß auf sie, wie ihn eine schöne und schön- geistige Gattin ausübt, welche die ewige Kontoitätigkeit schmält, aber dem Geschäft nützt, weil sie von allen bewundert wird. Nun braucht man sich dazu nur noch die Wirkung Maeterlinckscher oder Bergsonscher Philosophie, angewendet auf die Fragen von Kohlenpreis und Kartellierungspolitik vorzustellen, um zu ermes- sen, wie niederdrückend bald in Paris, bald in Petersburg oder Kapstadt der jüngere Arnheim auf Industriellenversammlungen und in Direktionsbüros wirken konnte, sobald er dahin als der Ge- sandte seines Vaters kam und von Anfang bis zu Ende angehört werden mußte. Die Erfolge für das Geschäft waren ebenso bedeu- tend wie geheimnisvoll, und aus alledem entstand das bekannte Gerücht von des Mannes überragender Bedeutung und seiner glück- lichen Hand. -198- So könnte noch mancherlei von Arnheims Erfolg erzählt werden. Von den Diplomaten, welche das ihnen wesensfremde, aber wich- tige Gebiet der Wirtschaft mit der Vorsicht von Männern behan- delten, die einen nicht ganz verläßlichen Elefanten zu pflegen ha- ben, während er mit ihm in der Sorglosigkeit des eingeborenen Wärters umging. Von den Künstlern, denen er selten nützte, un- geachtet dessen sie doch das Gefühl hatten, mit einem Mäzen zu verkehren. Endlich von den Journalisten, die sogar den ersten Anspruch hätten, daß man von ihnen erzähle, weil sie es waren, die durch ihre Bewunderung Arnheim erst zu einem großen Mann machten, ohne den verkehrten Zusammenhang zu bemerken; denn man hatte ihnen einen Floh ins Ohr gesetzt, und sie glaubten das Gras der Zeit wachsen zu hören. Die Grundgestalt seines Erfolgs war überall die gleiche; umgeben von dem Zauberschein seines Reichtums und dem Gerücht seiner Bedeutung, mußte er immer mit Menschen verkehren, die ihn auf ihrem Gebiet überragten, aber er gefiel ihnen als Fachfremder mit überraschenden Kennt- nissen von ihrem Fach und schüchterte sie ein, indem er in seiner Person Beziehungen ihrer Welt zu anderen Welten darstellte, von denen sie keine Ahnung hatten. So war es ihm zur Natur gewor- den, einer Gesellschaft von Spezialmenschen gegenüber als Gan- zes und ein Ganzer zu wirken. Zuweilen schwebte ihm eine Art Weimarer oder Florentiner Zeitalter der Industrie und des Han- dels vor, die Führerschaft starker, den Wohlstand mehrender Persönlichkeiten, die befähigt sein müßten, die Einzelleistungen der Technik, Wissenschaften und Künste in sich zu vereinen und von hohem Standpunkt zu lenken. Die Fähigkeit dazu fühlte er in sich. Er besaß das Talent, niemals in etwas Nachweisbarem und Einzelnem überlegen zu sein, wohl aber durch ein fließendes und jeden Augenblick sich aus sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen, was vielleicht wirklich die Grundfähigkeit eines Politikers ist, aber Arnheim war außerdem überzeugt, daß es ein tiefes Geheimnis sei. Er nannte es »das Ge- heimnis des Ganzen«. Denn auch die Schönheit eines Menschen besteht beinahe in nichts Einzelnem und Nachweisbarem, sondern in jenem zauberhaften Etwas, das sich sogar kleine Häßlichkeiten dienstbar macht; und genau so sind die tiefe Güte und Liebe, die Würde und Größe eines Wesens fast unabhängig von dem, was es tut, ja sie sind imstande, alles, was es tut, zu adeln. Auf geheim- nisvolle Weise geht im Leben das Ganze vor den Einzelheiten. Mögen also immerhin kleine Leute aus ihren Tugenden und Feh- lern bestehn, so verleiht der große Mensch seinen Eigenschaften erst ihren Rang; und wenn es das Geheimnis seines Erfolges ist, daß dieser aus keinem seiner Verdienste und keiner seiner Eigen- -190- Schäften recht verstanden werden kann, so ist eben dieses Vorhan- densein einer Kraft, die mehr ist als jede ihrer Äußerungen, das Geheimnis, auf dem alles Große im Leben ruht- So hatte es Arn- heim in einem seiner Bücher beschrieben, und als er dies nieder- schrieb, glaubte er beinahe, das Überirdische an der Mantelfalte gefaßt zu haben, und ließ das auch im Text durchblicken. 49 Beginnende Gegensätze zwischen alter und neuer Diplomatie Der Verkehr mit Personen, deren Sonderfach der Geburtsadel war, machte darin keine Ausnahme. Arnheim dämpfte seine eigene Vornehmheit ab und beschränkte sich so bescheiden auf Geistes- adel, der seine Vorzüge und Grenzen kennt, daß nach einer Weile die Träger hochadeliger Namen neben ihm wirkten, als hätten sie vom Tragen dieser Last einen gekrümmten Arbeiterrücken. Wer das am schärfsten beobachtete, war Diotima. Sie erkannte das Ge- heimnis des Ganzen mit dem Verstand eines Künstlers, der seinen Lebenstraum in einer Weise verwirklicht sieht, die jedes Besser- machen ausschließt. Sie war nun wieder völlig mit ihrem Salon ausgesöhnt. Arn- heim warnte vor Überschätzung der äußeren Organisation; grobe materielle Interessen würden sich der reinen Absicht bemächtigen; er legte mehr Wert auf den Salon. Sektionschef Tuzzi sprach dagegen die Befürchtung aus, daß man auf diesem Wege über einen Abgrund von Reden nicht hinaus- kommen werde. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen und die stark ge- äderten, mageren dunklen Hände davor gekreuzt; er sah mit sei- nem Bärtchen und den südländischen Augen neben dem in einem tadellosen Anzug aus weichem Stoff aufgerichtet dasitzenden Arn- heim aus wie ein levantinischer Taschendieb neben einem Bre- menser Handelsherrn. Es stießen da zwei Vornehmheiten aufein- ander, und die österreichische, die sich, einem vielfach zusammen- gesetzten Hochgeschmack entsprechend, gerne mit einem Stich ins Nachlässige gab, hielt sich keineswegs für die geringere, Sektions- chef Tuzzi hatte eine nette Art, sich nach den Fortschritten der Parallelaktion zu erkundigen, als ob er nicht selbst und unmittel- bar wissen dürfte, was in seinem Hause vorgehe. »Wir wären froh, wenn wir möglichst bald erfahren könnten, was geplant wird« sagte er und blickte seine Gattin und Arnheim mit einem freund- -200- liehen Lächeln an, das ausdrücken sollte, ich bin in diesem Fall ja hier ein Fremder. Danach erzählte er, daß das gemeinsame Werk seiner Frau und Sr. Erlaucht den Amtsstellen schon schwere Sor- gen bereite. Der Minister hatte während des letzten Vortrags bei Sr. Majestät vorgefühlt, welche äußeren Kundgebungen aus Anlaß des Jubiläums unter Umständen auf Allerhöchste Billigung rech- nen durften, namentlich, wie weit an Allerhöchster Stelle der Plan genehm sein möchte, dem Zuge der Zeit vorgreifend, sich an die Spitze einer internationalen pazifistischen Aktion zu stellen; — denn das wäre die einzige Möglichkeit, erläuterte Tuzzi, wenn man den bei Sr. Erlaucht aufgetauchten Gedanken eines Weltösterreich politisch fassen wolle. Aber Se. Majestät in Allerhöchst Ihrer welt- bekannten Gewissenhaftigkeit und Zurückhaltung, erzählte er wei- ter, hätte sofort mit der energischen Bemerkung abgewehrt: »Ah, i mag mi net vordrängen lassen«; und nun wisse man nicht, ob es sich dabei um eine ausgesprochen entgegenstehende Allerhöchste Willensmeinung handle oder nicht. Tuzzi verfuhr so in einer zarten Weise unzart mit den kleinen Geheimnissen seines Berufs, wie es ein Mann tut, der gleichzeitig größere gut zu bewahren weiß. Er schloß damit, daß die Gesandt- schaften jetzt die Stimmung der fremden Höfe zu ergründen hät- ten, weil man der Stimmung des eigenen nicht sicher sei und doch irgendwo einen festen Punkt gewinnen müsse. Denn am Ende waren rein handwerklich ja viele Möglichkeiten gegeben, von der Einberufung einer allgemeinen Friedenskonferenz, über eine Zwanzig-Herrscher-Zusammenkunft, bis hinab zur Ausstattung des Haager Palastes mit Wandgemälden österreichischer Künstler oder einer Stiftung für die Kinder und Waisen der Hausangestell- ten im Haag. Er knüpfte die Frage daran, wie man am preußischen Hofe über das Jubiläumsjahr denke. — Arnheim erklärte, dar- über nicht unterrichtet zu sein. Der österreichische Zynismus stieß ihn ab; der er selbst so elegant zu plaudern wußte, fühlte sich in Tuzzis Nachbarschaft zugeknöpft wie ein Mann, der zu betonen wünscht, daß es kalt und ernst zu werden hat, sobald von Staats- geschaften die Rede ist. Dergestalt stellten sich zwei gegensätzliche Vornehmheiten, Staats- und Lebensstile, nicht ganz ohne neben- buhlerische Absicht vor Diotima dar. Aber stelle einen Windhund neben einen Mops, eine Weide neben eine Pappel, ein Weinglas auf einen Sturzacker oder ein Porträt statt in eine Kunstausstellung in ein Segelboot, kurz, bringe zwei hochgezüchtete und ausgeprägte Formen des Lebens nebeneinander, so entsteht zwischen ihnen bei- den eine Leere, eine Aufhebung, eine ganz bösartige Lächerlich- keit ohne Boden. Das fühlte Diotima in ihren Augen und Ohren, ohne es zu verstehen, und gab erschreckt dem Gespräch eine Wen- -201- düng, indem sie mit großer Entschiedenheit ihrem Mann ei klärte, sie beabsichtige, mit der Parallelaktion in erster Linie etwas geistig Großes zu erreichen, und werde nur die Bedurfnisse wirklich mo- derner Menschen in deren Führung einströmen lassen' Arnheim empfand es dankbar, daß dem Gedanken seine Würde wieder zurückgegeben sei, denn gerade weil er sich gegen gewisse Augenblicke des Versinkens wehren mußte, wünschte ei mit den Ereignissen, die sein Beisammensein mit Diotima in großer Weise rechtfertigten, so wenig zu spaßen wie ein Ertrinkender mit seinem Schwimmgurtel. Aber zu seiner eigenen Überraschung [ragte er Diotima nicht ohne Zweifel in der Stimme, wen sie dann wohl in die geistige Spitzengruppe der Parallelaktion wählen wolle 3 Diotima war dies natürlich noch ganz unklar; die Tage des Bei- sammenseins mit Arnheim hatten ihr eine solche Fülle von An- regungen und Ideen'geschenkt daß sie nicht dazu gekommen war, bestimmte Ergebnisse auszuwählen Wohl hatte Arnheim einige- mal ihr gegenüber wiederholt, daß es nicht auf die Demokratie der Ausschusse, sondern auf starke und umfassende Persönlich- keiten ankomme, aber dabei hatte sie einfach das Gefühl gehabt, du und ich, — wenn auch noch keineswegs den Entschluß, ja nicht einmal die Einsicht; nun war es wahrscheinlich gerade das, woran sie durch den Pessimismus, der in Amheims Stimme lag, erinnert wurde, denn sie antwortete »Gibt es denn heute überhaupt etwas, das man ganz wichtig und groß nennen kann, um es mit aller Kraft zu verwirklichen?'« »Es ist das Kennzeichen einer Zeit, welche die innere Sicherheit gesunder Zeiten verloren hat,« bemerkte Arnheim darauf »daß sich in ihr nur schwer etwas als das Wichtigste und Größte heraus- bildet.« Sektionschef Tuzzi hatte die Augen zu einem Stäubchen auf sei- ner Hose niedergeschlagen, so daß man sein Lächeln als Zustim- mung deuten konnte, »In der Tat, was sollte es sein?« fuhr Arnheim prüfend fort, »Die Religion?« Sektionschef Tuzzi richtete nun sein Lächeln empor; Arnheim hatte das Wort zwar nicht so nachdrücklich und zweifelsfrei aus- gesprochen wie seinerzeit in Nachbarschaft Sr Erlaucht, aber immerhin mit wohlklingendem Ernst. Diotima verwahrte sich gegen das Lächeln ihres Gatten und warf ein* »Warum nicht? Auch die Religion!« »Gewiß, aber da wir einen praktischen Entschluß fassen müs- sen Haben Sie je daran gedacht, einen Bischof in den Ausschuß zu wählen, der für die Aktion ein zeitgemäßes Ziel finden soll? Gott ist im tiefsten unmodern: Wir vermögen nicht, ihn uns in Frack, -202- glattrasieit und mit einem Scheitel vorzustellen, sondern tun es nach Patriarchenart. Und was ist außer der Religion vorhanden? Die Nation? Der Staat?« Hier freute sich Diotima, weil Tuzzi gewöhnlich den Staat als eine männliche Angelegenheit behandelte, über die man mit Frauen nicht spricht. Jetzt schwieg er aber und tat nur so in den Augen, als ob darüber doch noch einiges mehr zu sagen wäre »Die Wissenschaft?« fragte Arnheim weiter; »die Kultur? Bleibt die Kunst. Wahrhaftig, sie wäre es, die am ersten die Einheit des Daseins und seine innere Ordnung spiegeln müßte. Aber wir ken- nen doch das Bild, das sie heute bietet. Allgemeine Zerrissenheit; Extreme ohne Zusammenhang. Dem neuen, mechanisierten Ge- sellschafts- und Gefühlsleben haben bereits im Anfang Stendhal, Balzac und Flaubert die Epopöe geschaffen, das Dämonium der Unterschichten haben Dostojewski, Strindberg und Freud auf- gedeckt: wir heute Lebenden haben das tiefe Gefühl, daß in alle- dem nichts mehr für uns zu tun übrig ist.« Hier schaltete Sektionschef Tuzzi ein, daß er den Ht>mer vor- nehme, wenn er etwas Gediegenes lesen wolle, oder den Peter Rosegger Arnheim griff die Anregung auf. »Sie müßten noch die Bibel hinzunehmen. Mit Bibel, Homer und Rosegger oder Reuter läßt es sich auskommen' Und da sind wir auch in der innersten Zone des Problems! Angenommen, wir hätten einen neuen Homer: Fra- gen wir uns mit letzter Aufrichtigkeit, ob wir überhaupt fähig wären, ihm zuzuhören? Ich glaube, wir müssen das verneinen. Wir haben ihn nicht, weil wir ihn nicht brauchen!« Arnheim saß nun im Sattel und ritt. »Wenn wir ihn brauchen würden, würden wir ihn haben! Denn letzten Endes geschieht in der Weltgeschichte nichts Negatives. Was kann es darum bedeuten, daß wir alles wahrhaft Große und Wesentliche in die Vergangenheit verlegen? Homer und Christus sind nicht wieder erreicht, geschweige denn übertroffen worden; es gibt nichts Schöneres als das Hohelied; Gotik und Renaissance stehn vor der Neuzeit wie ein Gebirgsland vor dem Eingang einer Ebene; wo sind heute große Herrscher- gestalten?! Wie kurzatmig erscheint selbst die Tat Napoleons ne- ben der der Pharaonen, das Werk Kants neben dem Buddhas, das Goethes neben dem Homers! Aber schließlich leben wir und müs- sen für etwas leben- welchen Schluß haben wir also daraus zu ziehen? Keinen anderen, als daß — « Hier brach Arnheim jedoch ab und versicherte, daß er zaudere, es auszusprechen- denn es bliebe nur der Schluß übrig, daß alles, was man wichtig nehme und für groß halte, nichts mit dem zu tun habe, was die innerste Kraft unseres Lebens sei. -203- »Und diese wäre?« fragte Sektionschef Tuzzi; dagegen, daß man das meiste viel zu wichtig nehme, hatte er wenig einzuwenden. »Kein Mensch kann das heute sagen,« erwiderte Arnheim. »Die Zivilisationsfrage ist nur mit dem Herzen zu losen. Durch das Auftreten einer neuen Person. Durch das innere Gesicht und den reinen Willen. Der Verstand hat nichts anderes zuwege gebracht, als die große Vergangenheit bis zum Liberalismus abzuschwächen. Aber vielleicht sehen wir nicht weit genug und rechne*! mit zu kleinen Maßen; jeder Augenblick kann der einer Weltwende sein!« Diotima hatte einwenden wollen, daß dann für die Parallel- aktion überhaupt nichts mehr übrig bleibe. Aber merkwürdiger- weise wurde sie von Arnheims dunklen Gesichten hingerissen. Vielleicht war ein Rest von »lästigen Lernaufgaben« in ihr zurück- geblieben und beschwerte sie, wenn sie immer wieder die neuesten Bücher lesen und über die neuesten Bilder reden mußte; der Pessi- mismus der Kunst gegenüber befreite sie von vielen Schönheiten, die ihr im Grunde gar nicht gefallen hatten; jener gegenüber der Wissenschaft erleichterte ihre Angst vor der Zivilisation, dem Übermaß des Wissenswürdigen und Einflußreichen. So war Arn- heims hoffnungsloses Urteil über die Zeit für sie eine Wohltat, die sie mit einemmal spürte. Und angenehm fuhr ihr der Gedanke durchs Herz, daß Arnheims Melancholie irgendwie mit ihr zu- sammenhänge. 50 Weite) e Entiüicklung. Sektionschef Tuzzi beschließt, sich über die Person Arnheims Klarheit zu verschaffen Diotima hatte recht geraten. Seit dem Augenblick, wo Arn- heim bemerkt hatte, daß der Busen dieser wundervollen Frau, die seine Bücher über die Seele gelesen hatte, von einer Macht gehoben und bewegt wurde, die man nicht mißverstehen konnte, war er einer Verzagtheit verfallen, die ihm sonst fremd war. Um es kurz und nach seiner eigenen Erkenntnis auszudrücken, es war die Verzagtheit des Moralisten, dem auf einmal und unerwartet der Himmel auf Erden begegnet, und will man ihm das nachemp- finden, so braucht man sich bloß vorzustellen, wie es wäre, wenn rings um uns nichts als diese stille blaue Pfütze mit schwimmenden weichen, weißen Federballen läge. An sich betrachtet, ist der moralische Mensch lächerlich und un- angenehm, wie der Geruch jener ergebenen armen Leute lehrt, die nichts ihr eigen nennen als ihre Moral; die Moral braucht große -204- Aufgaben, von denen sie ihre Bedeutung empfängt, und darum hatte Arnheim die Ergänzung seiner zur Moral neigenden Natur immer im Weltgeschehen gesucht, in der Weltgeschichte, in der ideologischen Durchdringung seiner Tätigkeit. Das war seine Lieb- lingsvorsteilung, Gedanken in Machtsphären zu tragen und Ge- schäfte nur in Zusammenhang mit geistigen Fragen zu behandeln. Er nahm gern Vergleiche für sich aus der Geschichte, um sie mit neuem Leben zu füllen; die Rolle der Finanz in der Gegenwart schien ihm jener der katholischen Kirche ähnlich zu sein, als einer aus dem Hintergrund wirkenden, im Verkehr mit den herrschen- den Gewalten unnachgiebig-nachgiebigen Macht, und er betrach- tete sich zuweilen in seiner Tätigkeit wie einen Kardinal. Aber diesmal war er doch eigentlich mehr aus Laune gereist; und wenn er auch ganz absichtslos selbst eine ™eise aus Laune nicht unter- nahm, so konnte er sich doch nicht entsinnen, wie der Plan dazu, übrigens ein bedeutsamer Plan, ui sprimglich in ihm entstanden sei. Es waltete etwas von unvorhergesehener Eingebung und plötz- lichem Entschluß über seiner Fahrt, und es war wahrscheinlich die- ser kleine Umstand von Freiheit, der es bewirkte, daß eine Urlaubs- reise nach Bombay schwerlich einen exotischeren Eindruck auf ihn gemacht haben wurde, als es die abseitige deutsche Großstadt tat, in die er geraten war. Der in Preußen völlig unmögliche Gedanke, daß er eingeladen wurde, um in der Parallelaktion eine Rolle zu spielen, hatte das übrige dazu getan und stimmte ihn phantasievoll unlogisch wie ein Traum, dessen Widersinn seiner praktischen Klugheit nicht entging, ohne daß diese jedoch imstande gewesen wäre, den Reiz des Märchenhaften zu durchbrechen. Er hätte den Zweck seines Kommens wahrscheinlich viel einfacher und auf ge- raden Wegen auch erreichen können, aber er betrachtete es wie einen Erholungsurlaub von der Vernunft, immer wieder hierher zurückzukehren, und wurde von seinem Geschäftsgeist für solchen Märchenwandei dadurch bestraft, daß er den schwarzen Sitten- punkt, den er sich selbst hätte geben müssen, als graue Färbung ins Allgemeine verrieb. Zu einer so weitgehenden Betrachtung in Dunkel wie jenesmal in Gegenwart Tuzzis kam es allerdings kein zweites Mal; schon deshalb nicht, weil sich Sektionschef Tuzzi gewöhnlich nur flüchtig zeigte, und Arnheim seine Worte auf die verschiedensten Personen verteilen mußte, die er in diesem schönen Land erstaunlich auf- nahmefähig fand. Er nannte in Gegenwart Sr. Erlaucht Kritik unfruchtbar und die Jetztzeit entgöttert, wobei er nochmals zu ver- stehen gab, daß der Mensch aus solcher negativen Existenz nur durch das Herz erlöst werden könne, und für Diotima die Behaup- tung anschloß, einzig der kulturvolle Süden Deutschlands könnte -205- noch imstande sein, das deutsche Wesen und so vielleicht auch die Welt von den Ausschreitungen des Rationalismus und Rechen- triebs zu befreien. Er sprach, umgeben von Damen, über die not- wendige Organisierung der inneren Zartheit, um die Menschheit vor Wettrüsten und Seelenlosigkeit zu retten. Er erläuterte einem Kreis von schaffenden Männern das Hölderlin-Wort, daß es in Deutschland keine Menschen mehr gebe, sondern nur noch Berufe. »Und niemand kann in seinem Beruf ohne Gefühl für eine höhere Einheit etwas leisten; am wenigsten der Finanzmann!« schloß er diese Ausführung. Man hörte ihm gerne zu, weil es schön war, daß ein Mann, der so viele Gedanken hatte, auch Geld besaß; und der Umstand, daß jeder, der ihn sprach, mit dem Eindruck davonging, ein Unter- nehmen wie die Parallelaktion sei eine höchst verdächtige, mit den gefährlichsten geistigen Widersprüchen behaftete Angelegen- heit, bestärkte alle in dem Eindruck, daß niemand anderer sich so gut dazu eignen würde wie er, die Führung in diesem Abenteuer zu übernehmen. Allein Sektionschef Tuzzi wäre nicht in aller Stille einer der führenden Diplomaten seines Landes gewesen, wenn er von der gründlichen Anwesenheit Arnheims in seinem Hause nichts be- merkt hätte; er konnte bloß in keiner Weise klug daraus werden. Aber er zeigte es nicht, weil ein Diplomat niemals seine Gedanken zeigt. Dieser Fremde war ihm im höchsten Grade unangenehm, persönlich, aber sozusagen auch grundsätzlich; und daß er offen- kundig den Salon seiner Frau zum Operationsfeld für irgend- welche geheime Absichten erwählt hatte, empfand Tuzzi als eine Herausforderung. Er glaubte nicht einen Augenblick den Ver- sicherungen Diotimas, daß der Nabob die Kaiserstadt an der Donau nur darum so oft aufsuche, weil sich sein Geist inmitten ihrer alten Kultur am wohlsten fühle, stand jedoch zunächst vor einer Aufgabe, für deren Lösung ihm jeder Anhaltspunkt fehlte, denn ein solcher Mensch war ihm in seinen amtlichen Beziehungen noch nicht vorgekommen. Und seit ihm Diotima ihren Plan auseinandergesetzt hatte, Arn- heim eine führende Stellung in der Parallelaktion einzuräumen, und sich über den Widerstand Sr. Erlaucht beklagte, war Tuzzi ernstlich betroffen. Er hielt weder von der Parallelaktion noch vom Grafen Leinsdorf etwas, aber er hatte den Einfall seiner Frau politisch so überraschend taktlos gefunden, daß ihm in diesem Augenblick zumute war, es stürze die langjährige männliche Er- ziehungsarbeit, die er sich schmeicheln durfte geleistet zu haben, wie ein Kartenhaus zusammen. Sogar dieses Gleichnis hatte Sek- tionschef Tuzzi in seinem Inneren gebraucht, obwohl er sich sonst -206- niemals Gleichnisse gestattete, weil sie zu literarisch sind und nach schlechter gesellschaftlicher Haltung riechen; diesmal aber war ihm ganz erschüttert dabei zumute. Diotima verbesserte allerdings in der Folge ihre Stellung wieder durch ihren Eigensinn Sie war sanft ausfällig geworden und hatte von einer neuen Art Menschen erzählt, welche die geistige Ver- antwortung für den Weltlauf nicht mehr untätig den Berufslen- kern überlassen könne. Dann hatte sie vom Takt der Frau gespro- chen, der zuweilen eine Sehergabe sein könne und den Blick mög- licherweise in weitere Fernen lenke als die tägliche Berufsarbeit. Schließlich sagte sie, Arnheim sei ein Europäer, ein in ganz Europa bekannter Geist, die Leitung der Staatsgeschäfte in Europa ge- schehe zu wenig europäisch und viel zu ungeistig, und die Welt werde nicht Frieden finden, ehe ein weltösterreichischer Geist sie so durchwehe, wie die alte österreichische Kultur sich um die ver- schiedensprachigen Stämme auf dem Boden der Monarchie schlinge. — Sie hatte noch nie sich so entschieden der Überlegenheit ihres Mannes entgegenzusetzen gewagt, aber Sektionschef Tuzzi wurde dadurch vorübergehend wieder beruhigt, denn er hatte die Bestre- bungen seiner Gattin nie für wichtiger als Schneiderfragen an- gesehn, war glucklich, wenn andere sie bewunderten, und betrach- tete nun auch diese Angelegenheit milder und ungefähr so, wie wenn eine farbenfreudige Frau einmal ein zu buntes Band aus- gewählt hätte. Er beschränkte sich darauf, ihr mit ernster Höflich- keit die Gründe zu wiederholen, die es in der Männerwelt aus- geschlossen erscheinen ließen, einem Preußen vor aller Augen die Entscheidung österreichischer Angelegenheiten anzuvertraun, räumte aber im übrigen ein, daß es Vorteile bieten möge, sich mit einem Mann in so eigenartiger Stellung zu befreunden, und ver- sicherte Diotima, daß sie seine Bedenken mißdeuten würde, wenn sie aus,, ihnen schließen wollte, daß es ihm nicht angenehm sei, Arnheim so oft wie möglich in ihrer Gesellschaft zu sehn. Er hoffte bei sich, daß sich auf diesem Wege die Gelegenheit, dem Fremden eine Falle zu stellen, schon finden werde. Erst als Tuzzi mitansehen mußte, wie Arnheim überall Erfolg hatte, kam er wieder darauf zurück, daß Diotima sich allzu enga- giert mit diesem Manne zeige, aber er erfuhr nun abermals, daß sie seinen Willen nicht wie sonst achtete, ihm widersprach und seine Besorgnisse für Hirngespinste erklärte. Er beschloß, als Mann nicht gtgQn die Dialektik einer Frau zu streiten, sondern die Stunde abzuwarten, wo seine Voraussicht von selbst triumphieren werde; da ereignete es sich jedoch, daß er einen gewaltigen Antrieb er- hielt. Denn eines Nachts beunruhigte ihn etwas, das ihm wie ein unendlich fernes Weinen vorkam; es störte ihn anfangs kaum, er -207- begriff es einfach nicht, aber von Zeit zu Zeit verringerte sich die seelische Entfernung um einen Sprung, und mit einemmal war die bedrohliche Unruhe dicht an seinen Ohren, und er fuhr so jäh aus dem Schlaf, daß er sich im Bett aufsetzte. Diotima lag zur Seite gewandt und gab kein Zeichen, aber er fühlte an irgendetwas, daß sie wache. Er rief sie leise beim Namen, wiederholte diese Frage und versuchte mit zärtlichen Fingern ihre weiße Schulter zu sich zu drehn. Aber wie er drehte, und ihr Gesicht im Dunkel über der Schulter aufging, sah es ihn böse an, drückte Trotz aus und hatte geweint. Leider hatte sein fester Schlaf Tuzzi inzwischen wieder halb überwältigt, zog ihn eigensinnig von hinten zurück zu den Polstern, und Diotimas Gesicht schwebte nur noch wie eine schmer- zende helle Verzerrung vor ihm, die er in keiner Weise mehr be- griff. »Was ist denn?« brummte er im leisen Baß des Einschlafens und ei hielt eine klare, gereizte, unangenehme Antwort ins Ohr geprägt, die in seine Schlaftrunkenheit fiel und darin liegen blieb wie eine blinkende Munze im Wasser. »Du schläfst so unruhig, daß niemand neben dir schlafen kann!« hatte Diotima hart und deutlich gesagt; sein Ohr hatte es aufgenommen, aber damit war Tuzzi vom Wachen auch schon abgeschieden, ohne auf den Vor- wurf weiter eingehen zu können. Er fühlte bloß, daß ihm schweres Unrecht geschehen sei. Ruhig zu schlafen, gehörte nach seiner Ansicht zu den Haupttugenden eines Diplomaten, denn es war eine Bedingung jedes Erfolgs. Man durfte ihn da nicht antasten, und er empfand sich dinch Diotimas Bemerkung ernstlich in Frage gestellt. Er begriff, daß Verände- rungen mit ihr vorgegangen seien. Es fiel ihm zwar nicht einmal im Schlaf ein, seine Frau greifbarer Untreue zu verdächtigen, dennoch stand es keinen Augenblick in Zweifel für ihn, daß das persönliche Unbehagen, das ihm zugefügt worden, mit Arnheim zusammenhängen müsse. Er schlief sozusagen zornig bis zum Mor- gen durch und wachte mit dem festen Entschluß auf, um diese stö- rende Person Klarheit zu schaffen. 51 Das Haus Fischöl Direktor Fische! von der Lloyd-Bank war jener Bankdirektor, oder richtiger gesagt Bankproknrist mit dem Titel Direktor, der eine Einladung des Grafen Lei.isdoii aus zunächst unbegreif- lichen Gründen zu beantwoiten vergessen hatte und danach nicht wieder eingeladen wurde Und auch jene erste Aufforderung - 208 - hatte er nur den Beziehungen seiner Gattin Klementine verdankt. Klementine Fischel stammte aus einer alten Beamtenfamilie, ihr Vater war Präsident des Obersten Rechnungshofes gewesen, ihr Großvater Kameralrat, und drei ihrer Brüder nahmen hohe Stel- lungen in verschiedenen Ministerien ein. Sie hatte vor vierund- zwanzig Jahren Leo aus zwei Gründen geheiratet; erstens weil hohe Beamtenfamilien manchmal mehr Kinder als Vermögen be- sitzen, zweitens aber auch aus Romantik, weil ihr im Gegensatz zu der peinlich sparsamen Begrenztheit ihres Elternhauses das Bank- wesen als ein freigeistiger, zeitgemäßer Beruf erschienen war und ein gebildeter Mensch im neunzehnten Jahrhundert den Wert eines anderen Menschen nicht danach beurteilt, ob er Jude oder Katho- lik ist; ja, wie es damals war, empfand sie nahezu etwas besonders Gebildetes dabei, sich über das naive antisemitische Vorurteil des gewöhnlichen Volks hinwegzusetzen. Die Arme mußte später erleben, daß in ganz Europa ein Geist des Nationalismus emporkam und mit ihm auch eine Welle der Judenangriffe hochstieg, die ihren Mann sozusagen in ihren Armen aus einem geachteten Freigeist in den Ätzgeist eines bodenfrem- den Abstämmlings verwandelte. Anfangs hatte sie sich dagegen mit dem ganzen Ingrimm eines »groß denkenden Herzens« auf- gelehnt, aber mit den Jahren wurde sie von der naiv grausamen, immer weiter um sich greifenden Feindseligkeit zermürbt und von dem allgemeinen Vorurteil eingeschüchtert« Ja, sie mußte es sogar erleben, daß sie vor sich selbst bei den Gegensätzen, die sich zwi- schen ihr und ihrem Mann allmählich immer heftiger auftaten, — als er aus Gründen, über die er niemals richtig Auskunft geben wollte, über die Stufe eines Prokuristen nicht wegkam und alle Aussicht verlor, jemals wirklicher Bankdirektor zu werden — man- ches, was sie verletzte, achselzuckend damit erklärte, daß Leos Charakter eben doch dem ihren fremd sei, wenn sie auch geg.n Außenstehende die Grundsätze ihrer Jugend niemals preisgab. Diese Gegensätze bestanden freilich im Grunde aus nichts an- derem als dem Mangel an Übereinstimmung; wie in vielen Ehen ein sozusagen natürliches Unglück an die Oberfläche kommt, sobald sie aufhören, verblendet glücklich zu sein. Seit die Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken geblie- ben war, vermochte Klementine nicht mehr, gewisse seiner Eigen- heiten damit zu entschuldigen, daß er eben nicht in einem spiegel- stillen alten Ministerialbüro, sondern am »sausenden Webstuhl der Zeit« sitze, und wer weiß, ob sie ihn nicht gerade wegen dieses Goethezitats geheiratet hatte?! Sein ausrasierter Backenbart, der sie seinerzeit gemeinsam mit dem auf der Mitte der Nase thronen- den Kneifer an einen englischen Lord mit Favorits erinnert hatte, 14 Musil, Mann _209 — mahnte sie jetzt an einen Börsenmakler, und einzelne Angewohn- heiten in Gebärde und Redeweise begannen ihr geradezu uner- träglich zu werden, Klementime versuchte anfangs, ihren Gatten zu verbessern, aber sie stieß dabei auf außergewöhnliche Schwie- rigkeiten, denn es zeigte sich, daß nirgends in der Welt ein Maß dafür vorhanden ist, ob ein Backenbart rechtmäßig an einen Lord oder an einen Makler erinnert und ein Kneifer einen Platz auf der Nase hat, der zusammen mit einer Handbewegung Enthusiasmus oder Zynismus ausdrückt. Außerdem war aber Leo Fischel auch gar nicht der Mann, der sich hätte verbessern lassen. Er erklärte die Bemängelungen, die das christlich-germanische Schönheitsideal eines Ministei talrats aus ihm machen wollten, für gesellschaftliche Faxen und lehnte ihre Erörterung als eines vernünftigen Mannes unwürdig ab, denn je mehr seine Gattin an Einzelheiten Anstoß nahm, desto mehr betonte er die großen Richtlinien der Vernunft. Dadurch verwandelte sich das Haus Fischel allmählich in den Kampfplatz zweier "Weltanschauungen. Der Lloyd-Bank-Direktor Fischel philosophierte gern, aber nur zehn Minuten täglich. Er liebte es, das menschliche Dasein als ver- nünftig begründet zu erkennen, glaubte an seine geistige Rentabi- lität, die er sich gemäß der wohlgegliederten Ordnung einer Groß- bank vorstellte, und nahm täglich mit Gefallen zur Kenntnis, was er von neuen Fortschritten in der Zeitung las. Dieser Glaube an die unerschütterlichen Richtlinien der Vernunft und des Fortschritts hatte es ihm lange Zeit ermöglicht, über die Ausstellungen seiner Frau mit einem Achselzucken oder einer schneidenden Antwort hmwegzugehn. Aber da es das Unglück gewollt hatte, daß sich im Verlauf dieser Ehe die Zeitstimmung von den alten, Leo Fischel günstigen Grundsätzen des Liberalismus, den großen Richtbildern der Freigeistigkeit, der Menschenwürde und des Freihandels ab- wandte, und Vernunft und Fortschritt in der abendländischen Welt durch Rassentheorien und Straßenschlagworte verdrängt wurden, so blieb auch er nicht unberührt davon. Er hatte diese Entwicklung anfangs schlechtweg geleugnet, genau so wie Graf Leinsdorf ge- wisse »unliebsame Erscheinungen öffentlicher Natur« zu leugnen pflegte; er wartete darauf, daß sie von selbst verschwinden wür- den, und dieses Warten ist der erste, kaum noch fühlbare Grad der Tortur des Ärgers, die das Leben über Menschen mit aufrech- ter Gesinnung verhängt. Der zweite Grad heißt gewöhnlich, und hieß darum auch bei Fischel so, das »Gift«. Das Gift ist das trop- fenweise Auftreten neuer Anschauungen in Moral, Kunst, Politik, Familie, Zeitungen, Büchern und Verkehr, das bereits von einem ohnmächtigen Gefühl der Unwiderruflichkeit begleitet wird und von empörter Leugnung, die eine gewisse Anerkennung des Vor- -210- handenseins nicht vermeiden kann. Direktor Fischel blieb aber auch der dritte und letzte Grad nicht erspart, wo die einzelnen Schauer und Strähnen des Neuen zu einem dauernden Regen zusammen- geronnen sind, und mit der Zeit wird das zu einer der entsetzlich- sten Martern, die ein Mensch erleben kann, der täglich nur zehn Minuten Zeit für Philosophie hat. Leo lernte kennen, in wieviel Dingen der Mensch verschiedene Meinungen haben kann. Der Trieb, recht zu haben, ein Bedürfnis, das fast gleichbedeutend mit Menschenwürde ist, begann im Hause Fischel Ausschreitungen zu feiern. Dieser Trieb hat in Jahrtausen- den Tausende bewundernswerter Philosophien, Kunstwerke, Bücher, Taten und Parteigängerschaften hervorgebracht, und wenn dieser bewundernswerte, aber auch fanatische und ungeheure, mit der menschlichen Natur geborene Trieb sich mit zehn Minuten Lebens- philosophie oder Aussprache über die grundsätzlichen Fragen des Hauswesens begnügen muß, so ist es unvermeidlich, daß er wie ein Tropfen glühenden Bleis in ungezählte Spitzen und Zacken zerplatzt, die auf das schmerzhafteste verwunden können. Er zer- sprang an der Frage, ob ein Hausmädchen zu entlassen sei oder nicht, und ob Zahnstocher auf den Tisch gehören oder nicht; aber woran immer er zersprang, besaß er die Fähigkeit, sich sofort zu zwei, an Einzelheiten unerschöpflich reichen, Weltanschauungen zu ergänzen. Das ging bei Tage an, denn da war Direktor Fischel in seinem Büro, in der Nacht aber war er Mensch, und das verschlimmerte ungemein das Verhältnis zwischen ihm und Klementine. Im Grunde kann sich ein Mensch bei der heutigen Kompliziertheit aller Dinge doch nur auf einem Gebiet voll auskennen, und das waren bei ihm Lombarden und Effekten, weshalb er nachts zu einer gewissen Nachgiebigkeit neigte. Klementine dagegen blieb auch dann spitz und unnachgiebig, denn sie war in der pflichtbewußten, beständi- gen Atmosphäre eines Beamtenhauses aufgewachsen, und dazu duldete ihr Standesbewußtsein nicht getrennte Schlafräume, um die ohnehin unzureichende Wohnung nicht noch mehr zu verklei- nern. Gemeinsame Schlafräume aber bringen einen Mann, wenn sie verfinstert sind, in die Lage eines Schauspielers, der vor einem unsichtbaren Parkett die dankbare, aber schon sehr abgespielte Rolle eines Helden darstellen muß, der einen fauchenden Löwen vorzaubert. Seit Jahren hatte sich Leos dunkler Zuschauerraum dabei weder den leisesten Applaus noch das geringste Zeichen von Ablehnung entschlüpfen lassen, und man darf sagen, daß das die stärksten Nerven erschüttern konnte. Am Morgen, beim Frühstück, das nach ehrbarer Überlieferung gemeinsam eingenommen wurde, war Klementine steif wie eine gefrorene Leiche und Leo zuckend -211- von Empfindlichkeit Selbst ihre Tochter Gerda merkte jedesmal etwas davon und malte sich voll Grauen und bitterem Widerwillen das Eheleben als einen Katzenkampf in nächtlicher Dunkelheit aus. Gerda war dreiundzwanzig Jahre alt und bildete das bevor- zugte Kampfobjekt zwischen ihren beiden Erzeugern. Leo Fischel fand, daß es für sie an der Zeit wäre, ihn an eine günstige Heirat denken zu lassen. Gerda dagegen sagte: »Du bist altmodisch, lieber Papa« und hatte ihre Freunde in einem Schwärm christlich-ger- manischer Altersgenossen gewählt, die nicht die geringste Aus- sicht auf Versorgung boten, dafür aber das Kapital verachteten und lehrten, daß noch nie ein Jude die Fähigkeit bewiesen habe, ein großes Menschheitssymbol aufzustellen. Leo Fischel nannte sie antisemitische Lümmel und wollte ihnen das Haus verbieten, aber Gerda sagte: »Das verstehst du nicht, Papa, das ist doch bloß sym- bolisch«, und Gerda war nervös und blutarm und regte sich gleich so sehr auf, wenn man nicht vorsichtig mit ihr umging. So duldete Fischel diesen Verkehr, wie einst Odysseus die Freier der Penelope in seinem Hause hatte dulden müssen, denn Gerda war der Licht- strahl in seinem Leben; aber er duldete nicht schweigend, denn das lag nicht in seiner Natur. Er glaubte selbst zu wissen, was Moral und große Ideen seien, und er sagte es bei jeder Gelegen- heit, um auf Gerda einen günstigen Einfluß zu nehmen. Und Gerda antwortete jedesmal: »Ja, du hättest unbedingt recht, Papa, wenn man diese Sache nicht von Grund aus anders ansehen müßte, als du es noch tust!« Und was tat Klementine, wenn Gerda so sprach? Nichts! Sie schwieg mit einem ergebenen Gesicht dazu, aber Leo konnte sicher sein, daß sie hinter seinem Rücken Gerdas Willen unterstützen würde, als ob sie wüßte, was Symbole seien! Leo Fischel hatte stets jede Ursache zu der Annahme gehabt, daß sein guter jüdischer Kopf dem seiner Gattin überlegen sei, und nichts empörte ihn so sehr wie die Beobachtung, daß sie aus Ger- das Verrücktheit Nutzen zog. Warum sollte ausgerechnet er plötz- lich nicht mehr imstande sein, modern zu denken? Das war ein System! Er erinnerte sich dann der Nacht. Das war schon nicht mehr Ehrabschneidung; das war die Ehre mit der Wurzel abgra- ben! In der Nacht hat der Mensch nur ein Nachthemd an, und darunter kommt gleich der Charakter. Keine Fachkenntnisse und -klugheit schützen ihn. Man setzt seine ganze Person ein. Nichts sonst. Was sollte es also heißen, daß Klementine, wenn von christ- lich-germanischer Auffassung die Rede war, ein Gesicht machte, als ob er ein Wilder wäre? Nun ist der Mensch ein Wesen, das Verdächtigungen so wenig verträgt wie ein Seidenpapier den Regen. Seit Klementine Leo nicht mehr schön faftd, fand sie ihn unerträglich, und seit Leo sich -212- von Klementine angezweifelt fühlte, erspähte er bei jedem Anlaß eine Verschwörung in seinem Haus. Dabei waren Klementine und Leo, wie alle Welt, der das durch Sitte und Literatur eingeredet wird, in dem Vorurteil befangen, daß sie durch ihre Leidenschaf- ten, Charaktere, Schicksale und Handlungen voneinander abhin- gen. In Wahrheit besteht aber natürlich das Dasein mehr als zur Hälfte nicht aus Handlungen, sondern aus Abhandlungen, deren Meinung man in sich aufnimmt, aus Dafürhalten mit entgegen- sprechendem Dagegenhalten und aus der aufgestapelten Unper- sönlichkeit dessen, was man gehört hat und weiß. Das Schicksal dieser beiden Gatten hing zum größern Teil von einer trüben, zähen, ungeordneten Schichtung von Gedanken ab, die gar nicht ihrer, sondern der öffentlichen Meinung angehörten und sich mit dieser verändert hatten, ohne daß sie sich davor bewahren konn- ten. Neben dieser Abhängigkeit war die persönliche von einander nur ein winziger Teil, ein irrsinnig überschätzter Rückstand. Und während sie sich einredeten, ein Privatleben zu haben, und gegen- seitig ihren Charakter und Willen in Frage stellten, lag die ver- zweifelte Schwierigkeit in der Unwirklichkeit dieses Streites, die sie durch alle möglichen Verdrießlichkeiten verdeckten. Es war das Unglück Leo Fischeis, daß er weder Karten spielte, noch Vergnügen daran fand, hübsche Mädchen auszuführen, son- dern, ermüdet von seinem Dienst, an einem ausgeprägten Familien- sinn litt, wogegen seine Gattin, die nichts zu tun hatte, als Tag und Nacht den Schoß dieser Familie zu bilden, durch keinerlei romantische Vorstellungen davon mehr beirrt wurde. Es befiel Leo Fischel manchmal ein Erstickungsgefühl, das, nirgends greif- bar, von allen Seiten auf ihn eindrang. Er war eine tüchtige kleine Zelle im sozialen Körper, die brav ihre Pflicht tat, aber von überall vergiftete Säfte erhielt. Und obgleich das weit über seinen Bedarf an Philosophie hinausging, so begann er, von seiner Lebensgefähr- tin im Stich gelassen, als alternder Mensch, der keinen Grund ein- sah, von der vernünftigen Mode seiner Jugend abzulassen, die tiefe Nichtigkeit des seelischen Lebens zu ahnen, seine Gestaltlosig- keit, die ewig die Gestalten wechselt, die langsame, aber ruhelose Umwälzung, die immer alles mit sich dreht. An einem solchen Morgen, wo sein Denken durch Familienfra- gen beansprucht war, hatte Fischel vergessen, die Zuschrift Sr. Er- laucht zu beantworten, und an vielen folgenden Morgen bekam er Schilderungen von den Vorgängen im Kreise der Sektionschefs- gattin Tuzzi, die es sehr bedauerlich erscheinen ließen, daß eine solche Gelegenheit für Gerda, in die beste Gesellschaft zu kom- men, nicht wahrgenommen worden sei. Fischel selbst hatte kein ganz reines Gewissen, da ja doch sein eigener Generaldirektor und -213- der Gouverneur der Staatsbank hingingen, aber bekanntlich weist man Vorwürfe umso heftiger zurück, je stärker man selbst zwischen Schuld und Unschuld gespannt ist. Aber jedesmal, wenn Fischel sich mit der Überlegenheit des schaffenden Mannes über diese patriotische Angelegenheit lustig zu machen suchte, wurde ihm erklärt, daß ein auf der Zeithöhe stehender Finanzmann wie Paul Arnheim eben schon anders denke, Es war zum Staunen, wie viel Klementine und auch Gerda — die ansonsten den Wünschen ihrer Mutter natürlich widersprach — von diesem Manne in Erfahrung gebracht hatten, und da man auch auf der Börse mancherlei Ver- wunderliches von ihm redete, so fühlte sich Fischel in die Verteidi- gung gedrängt, denn er konnte einfach nicht mit und vermochte auch nicht, von einem Mann mit solchen Geschäftsverbindungen zu behaupten, daß man ihn nicht ernst nehmen dürfe. Wenn Fischel sich aber in die Verteidigung gedrängt fühlte, so nahm das sachgemäß die Form der Kontermine an, das heißt, er schwieg so undurchsichtig wie möglich zu allen Anspielungen, die sich auf das Haus Tuzzi, Arnheim, die Parallelaktion und sein eigenes Versagen bezogen, zog Erkundigungen über den Aufent- halt Arnheims ein und wartete heimlich auf ein Ereignis, das die innere Hohlheit von alledem mit einem Schlage offenbaren und den hohen Familienkurs dieser Angelegenheit zerschmettern sollte. 52 Sektionschef Tuzzi stellt eine Lücke im Betrieb seines Ministeriums fest Sektionschef Tuzzi hatte nach seinem Entschluß, Klarheit um die Person Dr. Arnheims zu schaffen, bald die Genugtuung, im Aufbau des seine Sorge bildenden Ministeriums des Äußern und des Kaiserlichen Hauses eine wesentliche Lücke zu entdecken: es war auf Personen wie Arnheim nicht eingerichtet. Er selbst las von schöngeistigen Büchern außer Memoirenwerken nur die Bibel, Homer und Rosegger und darauf tat er sich etwas zugute, weil es ihn vor Zersplitterung bewahrte; aber daß auch im ganzen Aus- wärtigen Amt kein Mann zu finden war, der ein Buch von Arnheim gelesen hatte, erkannte er als einen Fehler. Sektionschef Tuzzi besaß das Recht, die übrigen leitenden Beam- ten zu sich rufen lassen zu können, aber am Morgen nach jener von Tränen beunruhigten Nacht hatte er sich zum Chef des Presse- departements hinbegeben, geleitet von einem Gefühl, daß man nicht gut dem Anlaß, der ihn eine Aussprache suchen hieß, schon -214- volle Amtswürde zubilligen könne. Der Chef des Pressedeparte- ments bewunderte Sektionschef Tuzzi wegen der Fülle persön- licher Einzelheiten, die dieser von Arnheim wußte, gab zu, für seine Person den Namen auch schon oft gehört zu haben, verwahrte sich aber gleich gegen die Vermutung, daß der Mann aktenmäßig in seinem Departement vorkomme, da er seines Erinnerns niemals den Gegenstand einer amtlichen Relation gebildet habe und die Bearbeitung des Zeitungsmaterials sich begreiflicherweise nicht auf die Lebensäußerungen von Privatpersonen erstreckte. Tuzzi räumte ein, daß etwas anderes keinesfalls zu erwarten wäre, machte aber die Bemerkung, daß die Grenze zwischen amtlicher und privater Bedeutung von Personen und Erscheinungen heute nicht immer klar zu bestimmen sei, was der Chef des Pressedepartements sehr scharf gesehen fand, worauf sich die beiden Sektionschefs in der Auffassung einigten, einen sehr interessanten Mangel des Systems vor sich zu haben. Es war offenbar ein Vormittag, an dem Europa ein wenig Ruhe hatte, denn die beiden Sektionschefs ließen den Kanzleidirektor kommen und ein Faszikel anlegen, das mit Arnheim, Dr. Paul, zu überschreiben war, wenn es auch vorläufig noch leer blieb. Nach dem Kanzleidirektor kamen die Leiter des Aktenarchivs und des Archivs für Zeitungsausschnitte an die Reihe, die sofort aus dem Kopf und strahlend vor Tüchtigkeit zu sagen wußten, daß in ihren Registern ein Arnheim nicht vorkomme. Endlich ließ man noch die Amts Journalisten holen, die täglich die Blätter zu bearbeiten und den Chefs die Auszuge vorzulegen hatten, und sie alle machten ein bedeutsames Gesicht, als sie nach Arnheim gefragt wurden, und versicherten, daß er in ihren Blättern sehr oft und mit günstigster Betonung genannt werde, vermochten jedoch nichts über den In- halt seiner Schriften mitzuteilen, weil seine Tätigkeit, wie sie so- fort zu sagen wußten, nicht in den Aufgabenkreis der amtlichen Berichterstattung einbezogen sei. Das tadellose Funktionieren der Maschinerie des Auswärtigen Amtes erwies sich, sowie man nur auf den Knopf drückte, und alle Beamten verließen das Zimmer mit dem Gefühl, ihre Verläßlichkeit in gutem Licht gezeigt zu haben, »Es ist genau so, wie ich es Ihnen gesagt habe,« der Chef dts Pressedepartements wandte sich befriedigt an Tuzzi »kein Mensch weiß etwas.« Die beiden Sektionschefs hatten die Berichte mit würdigem Lächeln angehört, saßen — von der Umgebung gleichsam für die Ewigkeit präpariert, wie die Fliege im Bernstein — in prächtigen Lederstühlen, auf dem weichen roten Teppich, hinter den dunkel- roten hohen Fenstervorhängen des weiß-goldenen Zimmers, das noch aus Maria Theresias Zeiten stammte, und erkannten, daß die -215- Lücke im System, die sie nun wenigstens entdeckt hatten, schwer zu schließen sein würde. »Im Departement,« rühmte dessen Chef »wird jede öffentliche Äußerung bearbeitet; aber irgendwelche Ufer muß man dem Begriff der Öffentlichkeit lassen. Ich kann mich verbürgen, daß jeder Zwischenruf, den ein Abgeordneter in irgend einem Landtag im laufenden Jahr gemacht hat, binnen zehn Minuten in unseren Archiven zu finden ist, und jeder Zwischenruf der letzten zehn Jahre, sofern er sich auf die Außenpolitik bezieht, in längstens einer halben Stunde, Das gilt auch von jedem politi- schen Zeitungsartikel; meine Herren arbeiten gewissenhaft. Aber das sind greifbare, sozusagen verantwortliche Äußerungen, die in Zusammenhang mit festen Verhältnissen, Mächten und Begriffen stehn. Und wenn ich mich rein fachlich frage, unter welchem Stich- wort der Beamte, der die Auszüge oder den Katalog macht, einen Essay von jemand eintragen soll, der nur für seine Person . . . also wen soll ich da nennen?« Tuzzi nannte hilfreich den Namen eines der jüngsten Schrift- steller, die bei Diotima verkehrten. Der Chef des Pressedepartements blickte schwerhörig und be- unruhigt zu ihm auf. »Also sagen wir den; aber wo ist die Grenze zu ziehen zwischen dem, was man beachtet, und dem, was man übergeht? Es hat sogar auch schon politische Gedichte gegeben. Soll man da jeden Versimacher — ? Oder soll man vielleicht nur Burgtheaterautoren — ?« Die beiden Herrn lachten. »Wie will man überhaupt genau herausziehn, was solche Leute meinen, und wenn sie der Schiller und Goethe wären?! Einen hö- heren Sinn hat es natürlich immer, aber so für praktische Zwecke widersprechen sie sich bei jedem zweiten Wort.« Es war den beiden Herrn inzwischen klar geworden, daß sie Gefahr liefen, sich um etwas »Unmögliches« zu bemühn, das Wort auch mit jenem Geschmack von gesellschaftlicher Lächerlichkeit genommen, für den Diplomaten ein so feines Empfinden haben. »Man kann dem Ministerium nicht einen ganzen Stab von Buch- und Theaterkritiken! angliedern,« stellte Tuzzi lächelnd fest »aber andererseits, wenn man einmal darauf aufmerksam wird, ist nicht zu leugnen, daß solche Leute auf die Bildung der in der Welt herrschenden Anschauungen nicht ohne Einfluß sind und auf die- sem Wege auch in die Politik wirken.« »In keinem Auswärtigen Amt der Welt macht man das« kam ihm der Pressechef zu Hilfe. »Gewiß. Aber steter Tropfen höhlt den Stein.« Tuzzi fand, daß dieses Zitat sehr gut eine gewisse Gefahr ausdrücke. »Irgend etwas Organisatorisches sollte man vielleicht doch versuchen?« -216- »Ich weiß nicht, ich habe Widerstände« meinte der andere Sek- tionschef. »Ich natürlich auch!« fügte Tuzzi hinzu. Er hatte gegen Ende dieser Unterredung ein peinliches Empfinden wie bei belegter Zunge und vermochte nicht recht zu unterscheiden, ob es Unsinn sei, wovon er geredet habe, oder ob es sich nicht doch noch als eine Folge des Scharfsinns herausstellen werde, für den er berühmt war. Auch der Chef des Pressedepartements vermochte das nicht zu trennen, und deshalb versicherten die beiden Herren einander, daß sie über diese Frage später noch einmal sprechen wollten. Der Chef des Pressedepartements gab den Auftrag, die gesam- ten Werke Arnheims für die Amtsbibliothek zu bestellen, damit die Sache doch auch einen gewissen Abschluß habe, und Sektions- chef Tuzzi begab sich in eine politische Abteilung, wo er ersuchte, die Botschaft in Berlin mit einem eingehenden Bericht über die Person Arnheims zu betrauen. Es war dies das einzige, was ihm im Augenblick zu tun übrig blieb, und ehe dieser Bericht eintraf, hatte er nur seine Frau, um sich über Arnheim zu unterrichten, was ihm gänzlich unangenehm geworden war. Er erinnerte sich an den Aus- spruch Voltaires, daß die Menschen die Worte nur anwenden, um ihre Gedanken zu verbergen, und der Gedanken sich nur bedienen, um ihre Ungerechtigkeiten zu begründen. Gewiß, das war immer Diplomatie gewesen. Aber daß ein Mensch soviel sprach und schrieb wie Arnheim, um seine wahren Absichten hinter Worten zu verbergen, das beunruhigte ihn als etwas Neues, hinter das er kommen mußte. 53 Man führt Moosbrugger in ein neues Gefängnis Der Prostituiertenmörder Christian Moosbrugger war, wenige Tage nachdem in den Zeitungen die Berichte über die gegen ihn geführte Verhandlung zu erscheinen aufgehört hatten, ver- gessen worden, und die Erregung der Öffentlichkeit hatte sich anderen Gegenständen zugewandt. Nur ein Kreis von Sachver- ständigen beschäftigte sich noch weiter mit ihm. Sein Verteidiger hatte die Nichtigkeitsbeschwerde angemeldet, eine neue Überprü- fung seines Geisteszustandes verlangt und sonst noch einiges ge- tan; die Hinrichtung war auf unbestimmte Zeit verschoben worden, und man führte Moosbrugger in ein anderes Gefängnis. Die Vorsicht, die dabei angewandt wurde, schmeichelte ihm; geladene Gewehre, viele Personen, Eisenschellen an Arm und Bein: -217- man erwies ihm Aufmerksamkeit, man hatte Furcht vor ihm, und Moosbrugger liebte das. Als er in den Zellenwagen stieg, blickte er nach Bewunderung aus und warf ein Auge in den erstaunten Blick der Vorübergehenden. Kalter Wind, der die Straße herab- blies, spielte in seinen Locken, die Luft zehrte an ihm. Zwei Sekun- den lang; dann schob ein Justizsoldat an seinem Hintern, um ihn in den Wagen zu bringen. Moosbrugger war eitel; er liebte es nicht, so geschoben zu wer- den; er fürchtete, daß ihn die Wache stoßen, anschreien oder über ihn lachen könnte; der gefesselte Riese wagte keinen seiner Führer anzusehen und rutschte freiwillig bis an die Vorderwand des Wagens. Er fürchtete sich aber nicht vor dem Tod. Man muß im Leben vieles aushalten, das bestimmt weher tut als das Aufhängen, und ob man ein paar Jahre mehr oder weniger lebt, darauf kommt es schon gar nicht an. Der passive Stolz eines Mannes, der viel ein- gesperrt worden ist, verbot ihm, sich vor der Strafe zu fürchten; aber er hing auch sonst nicht am Leben. Was hätte er daran lieben sollen? Doch nicht den Frühlingswind oder die weiten Landstra- ßen oder die Sonne? Das macht nur müde, heiß und staubig. Nie- mand liebt das, der es wirklich kennt. »Erzählen können,« dachte Moosbrugger »gestern habe ich dort an der Ecke in dem Wirtshaus einen ausgezeichneten Schweinsbraten gegessen!« Das war schon mehr. Aber auch darauf konnte man verzichten. Was ihn gefreut hätte, wäre eine Befriedigung seines Ehrgeizes gewesen, der immer nur dummen Beleidigungen begegnet war. Ein wirres Geholper kam aus den Rädern durch die Bank in seinen Körper; hinter den Gitterstäben in der Türe liefen die Pflastersteine zurück, Lastfuhr- werke blieben zurück, zuweilen torkelten Männer, Frauen oder Kinder quer durch die Stäbe, von weit hinten schob sich ein Fiaker heran, wuchs, kam näher, begann Leben zu sprühen wie ein Schmie- deblock Funken, die Pferdeköpfe schienen die Türe durchstoßen zu wollen, dann lief das Geklapper der Hufe und der weiche Laut der Gummireifen hinter der Wand vorbei. Moosbrugger drehte den Kopf langsam zurück und sah wieder die Decke an, wo sie vor ihm an die Seitenwand stieß. Der Lärm draußen rauschte, schmet- terte; war wie ein Tuch gespannt, über das hie und da der Schatten irgendeines Vorgangs huschte. Moosbrugger empfand diese Fahrt als Abwechslung, ohne auf ihren Inhalt viel zu achten. Zwischen zwei dunklen, ruhenden Gefängniszeiten schoß eine Viertelstunde undurchsichtig weiß schäumender Zeit. So hatte er auch seine Frei- heit immer empfunden. Nicht eigens schön. »Die Geschichte mit der letzten Mahlzeit,« dachte er »dem Gefängnisgeistlichen, den Henkern und der Viertelstunde, bis alles aus ist, wird nicht viel -218- anders sein; sie wird auch auf ihren Rädern vorwärts tanzen, man wird fortwährend zu tun haben wie jetzt, um bei den Stößen nicht von der Bank zu rutschen, und wird nicht viel sehen und hören, weil lauter Leute um einen herumspringen. Es wird schon das Ge- scheiteste sein, wenn man endlich von allem Ruhe hat!« Die Überlegenheit eines Mannes, der sich von dem Wunsch zu leben befreit hat, ist sehr groß. Moosbrugger erinnerte sich an den Kommissär, der ihn als erster bei der Polizei einvernommen hatte. Das war ein feiner Mann gewesen, der leise sprach. »Schaun Sie, Herr Moosbrugger,« hatte er gesagt »ich bitte Sie einfach instän- dig: gönnen Sie mir doch den Erfolg!« Und Moosbrugger hatte erwidert: »Gut, wenn Sie den Erfolg haben wollen, so machen wir jetzt Protokoll.« Der Richter hatte das später nicht glauben wollen, aber der Kommissär hatte es vor Gericht bestätigt. »Wenn Sie schon nicht aus eigenem Ihr Gewissen erleichtern wollen, so schen- ken Sie mir doch die persönliche Genugtuung, daß Sie es mir zu- liebe tun« : Das hatte der Kommissär vor dem ganzen Gericht wie- derholt, sogar der Vorsitzende hatte freundlich geschmunzelt, und Moosbrugger hatte sich erhoben. »Meine volle Hochachtung vor dieser Aussage des Herrn Polizeikommissärs!« hatte er laut ver- kündet und mit einer eleganten Verbeugung hinzugefügt: »Obwohl der Herr Kommissär mich mit den Worten entlassen haben: ,Wir sehen uns wohl nie wieder', so habe ich doch die Ehre und das Vergnügen, den Herrn Kommissär heute wiederzusehn.« Das Lächeln des Einverständnisses mit sich selbst verklärte Moosbruggers Gesicht, und er vergaß die Soldaten, die ihm gegen- über saßen und geradeso wie er von den Stößen des Wagens hin und her geschleudert wurden. 54 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Ciarisse reaktionär Ciarisse sagte zu Ulrich: »Man muß für Moosbrugger etwas tun, dieser Mörder ist musikalisch!« Ulrich hatte endlich an einem freien Nachmittag den Besuch nachgeholt, der durch seine Verhaftung so folgenschwer verhindert worden war. Ciarisse hielt den Rand seines Rocks in Brusthöhe gefaßt; Wal- ter stand mit einem nicht ganz aufrichtigen Gesicht daneben. »Wie meinst du das: musikalisch?« fragte Ulrich lächelnd. Ciarisse machte ein lustig beschämtes Gesicht. Unwillkürlich. -219» Als drängte Scham bei allen Zügen heraus, und sie müßte das Gesicht lustig spannen, um sie zurück zu halten. Sie ließ ihn los. »Nun eben so« sagte sie. »Du bist doch jetzt ein einflußreicher Mann geworden!« Es war nicht immer klug aus ihr zu werden. Der Winter hatte schon einmal begonnen und dann wieder auf- gehört. Hier, außer der Stadt, gab es noch Schnee; weiße Felder und dazwischen wie dunkles Wasser die schwarze Erde. Die Sonne übergoß alles gleichmäßig. Glarisse hatte eine orangefarbene Jacke an und eine blaue Wollmütze. Sie gingen zu dritt spazieren, und Ulrich mußte ihr inmitten der wüst aufgebrochenen Natur die Schriften Arnheims erklären. Es war darin vor algebraischen Rei- hen die Rede und von Benzolringen, von der materialistischen Geschichtsauffassung und der universalistischen, von Brückenträ- gern, der Entwicklung der Musik, dem Geist des Kraftwagens, Hata 606, der Relativitätstheorie, der Bohrschen Atomistik, dem autogenen Schweiß verfahren, der Flora des Himalaja, der Psycho- analyse, der Individualpsychologie, der Experimentalpsychologie, der physiologischen Psychologie, der Sozialpsychologie und allen anderen Errungenschaften, die eine an ihnen reich gewordene Zeit verhindern, gute, ganze und einheitliche Menschen hervorzubrin- gen. Aber alles das kam in einer sehr beruhigenden Weise in den Schriften Arnheims vor, denn er versicherte, daß alles, was man nicht verstehe, nur eine Ausschreitung unfruchtbarer Verstandes- kräfte bedeute, während das Wahre immer das Einfache, die menschliche Würde und der Instinkt für übermenschliche Wahr- heiten sei, den jeder erwerben könne, wenn er einfach lebe und mit den Sternen im Bunde sei. »Viele behaupten heute etwas Ähn- liches,« erläuterte Ulrich »aber Arnheim glaubt man es, weil man sich ihn als einen großen, reichen Mann vorstellen darf, der be- stimmt alles genau kennt, wovon er spricht, selbst am Himalaja war, Kraftwagen besitzt und Benzolringe trägt, so viele er will!« Ciarisse wollte wissen, wie Benzolringe aussehen; eine unklare Erinnerung an Karneolringe leitete sie. »Du bist trotzdem reizend, Ciarisse!« meinte Ulrich. »Gott sei Dank, braucht sie nicht jeden chemischen Unsinn zu verstehn!« verteidigte sie Walter; dann aber begann er die Schrif- ten Arnheims zu verteidigen, die er gelesen hatte. Er wolle nicht sagen, daß Arnheim das Beste sei, was man sich vorzustellen ver- möge, aber immerhin sei er das Beste, was die Gegenwart hervor- gebracht habe; das sei neuer Geist! Zwar einwandfreie Wissen- schaft, aber zugleich auch über das Wissen hinaus! So ging der Spaziergang vorbei. Das Endergebnis für alle waren nasse Füße, ein gereiztes Gehirn, als ob die dünnen, in der Wintersonne glän- zenden nackten Baumäste als Splitter in der Netzhaut stecken ge- -220- blieben wären, der gemeine Wunsch nach heißem Kaffee und das Gefühl menschlicher Verlorenheit. Verdampfender Schnee stieg von den Schuhen auf, Ciarisse freute sich, weil die Stube schmutzig wurde, und Walter hielt die weiblich kräftigen Lippen die ganze Zeit über geschürzt, weil er Streit suchte. Ulrich erzählte von der Parallel aktion. Bei Arnheim kamen sie wieder in Streit. »Ich werde dir sagen, was ich gegen ihn habe« wiederholte Ulrich. »Der wissenschaftliche Mensch ist heute eine ganz unvermeidliche Sache; man kann nicht nicht wissen wollen! Und zu keiner Zeit ist der Unterschied zwischen der Erfahrung eines Fachmanns und der eines Laien so groß gewesen wie in der jetzigen. An dem Kön- nen eines Masseurs oder eines Klavierspielers merkt es jeder; man schickt heute kein Pferd mehr ohne besondere Vorbereitung auf die Rennbahn. Bloß in den Fragen des Menschseins glaubt sich noch jeder zur Entscheidung berufen, und ein altes Vorurteil behaup- tet, daß man als Mensch geboren wird und stirbt! Weiß ich aber, daß die Frauen vor fünftausend Jahren wörtlich die gleichen Briefe an ihre Liebhaber geschrieben haben wie heute, so kann ich doch keinen solchen Brief mehr lesen, ohne mich zu fragen, ob es nicht einmal anders werden sollte!« Ciarisse zeigte sich zum Einverständnis geneigt. Walter dagegen lächelte wie ein Fakir, der mit keiner Wimper zucken will, wenn man ihm eine Hutnadel durch die Wangen stößt. »Das heißt also nichts anderes, als daß du dich bis auf weiteres weigerst, ein Mensch zu sein!« warf er ein. »Ungefähr. Es haftet ein unangenehmes Gefühl von Dilettan- tismus daran!« »Aber ich will dir noch etwas ganz anderes zugeben« fuhr Ulrich nach einiger Überlegung fort. »Die Fachleute werden niemals fer- tig. Nicht nur sind sie heute unfertig; sondern sie vermögen sich die Vollendung ihrer Tätigkeit überhaupt nicht auszudenken. Viel- leicht nicht einmal zu wünschen. Kann man sich zum Beispiel vor- stellen, daß der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald er sie biologisch und psychologisch völlig zu begreifen und behandeln gelernt hat? Trotzdem streben wir diesen Zustand an! Das ist es. Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhalten; denn wie die Trunksucht, die Geschlechts- sucht und die Gewaltsucht, so bildet auch der Zwang, wissen zu müssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht ist. Es ist gar nicht richtig, daß der Forscher der Wahrheit nachstellt, sie stellt ihm nach. Er erleidet sie. Das Wahre ist wahr, und die Tat- sache ist wirklich, ohne sich um ihn zu kümmern: er hat bloß die Leidenschaft dafür, die Trunksucht am Tatsächlichen, die seinen -221- Charakter zeichnet, und schert sich den Teufel darum, ob ein Gan- zes, Menschliches, Vollkommenes oder was überhaupt aus seinen Feststellungen wird. Das ist ein widerspruchsvolles, ein leidendes und dabei ungeheuer tatkräftiges Wesen!« »Und?« fragte Walter. »Was: und?« »Du willst doch nicht behaupten, daß man es dabei bewenden lassen kann?!« »Ich möchte es dabei bewenden lassen« sagte Ulrich ruhig. »Un- sere Anschauung von unserer Umgebung, aber auch von uns selbst, ändert sich mit jedem Tag. Wir leben in einer Durchgangszeit. Vielleicht dauert sie, wenn wir unsere tiefsten Aufgaben nicht bes- ser anpacken als bisher, bis zum Ende des Planeten. Trotzdem soll man, wenn man ins Dunkel gestellt ist, nicht wie ein Kind aus Angst zu singen beginnen. Ein solcher Gesang aus Angst ist es aber, wenn man so tut, als wüßte man, wie man sich hienieden zu be- nehmen hat; da kannst du grundstürzend brüllen, es ist doch nur Angst! Übrigens bin ich überzeugt: Wir galoppieren! Wir sind noch weit von den Zielen entfernt, sie rücken nicht näher, wir sehen sie überhaupt nicht, wir werden uns noch oft verreiten und die Pferde wechseln müssen; aber eines Tags — übermorgen oder in zweitausend Jahren — wird der Horizont zu fließen beginnen und uns brausend entgegenstürzen!« Es war dämmerig geworden. »Niemand kann mir ins Gesicht sehn« dachte Ulrich. »Ich weiß nicht einmal selbst, ob ich lüge.« Er sprach, wie man in einem Augenblick, der seiner selbst nicht ge- wiß ist, das Ergebnis jahrzehntelanger Gewißheit zusammenfaßt. Er erinnerte sich daran, daß doch dieser Jugendtraum längst hohl geworden war, den er Walter vorhielt. Er wollte nicht mehr wei- ter reden. »Und wir sollen« erwiderte Walter mit Schärfe »auf jeden Sinn des Lebens verzichten?!« Ulrich fragte ihn, wozu er eigentlich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so, meinte er. Ciarisse kicherte. Sie meinte es nicht bös, die Frage war ihr so spaßhaft vorgekommen. Walter zündete Licht an, denn es schien ihm nicht nötig zu sein, daß Ulrich vor Clarisse den Vorteil des dunklen Mannes ausnütze. Ärgerliche Blendung überschüttete die drei. Ulrich erläuterte verstockt: »Was man im Leben braucht, ist bloß die Überzeugung, daß das Geschäft besser geht als das des Nach- barn. Das heißt: deine Bilder, meine Mathematik, irgendjemandes Kinder und Frau; alles das, was einem Menschen versichert, daß er zwar in keiner Weise etwas Ungewöhnliches ist, aber in dieser - 222 - Weise, keinerweise etwas Ungewöhnliches zu sein, doch nicht so leicht seinesgleichen hat!« Walter hatte sich noch nicht wieder hingesetzt. Unruhe war in ihm. Triumph. Er rief aus: »Weißt du, was du da sagst? Fort- wursteln! Du bist einfach ein Österreicher. Du lehrst die österrei- chische Staatsphilosophie des Fortwursteins!« »Das ist vielleicht nicht so übel, wie du denkst« gab Ulrich zur Antwort. »Man kann aus einem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Schärfe und Genauigkeit oder Schönheit dahin kommen, daß einem Fortwursteln besser gefällt als alle Anstrengungen in neuem Geiste! Ich wünsche dir dazu Glück, daß du Österreichs Weltsen- dung entdeckt hast.« Walter wollte erwidern. Aber es zeigte sich, daß das Gefühl, das ihn in die Höhe getrieben hatte, nicht nur Triumph war, sondern — wie sagt man es? — auch der Wunsch, einen Augen- blick hinauszugehen. Er schwankte zwischen den zwei Wünschen. Aber beides ließ sich nicht vereinen, und sein Blick glitt von Ulrichs Augen ab auf dtn Weg zur Türe. Als sie allein waren, sagte Ciarisse: »Dieser Mörder ist musi- kalisch. Das heißt — « sie hielt ein, dann fuhr sie geheimnisvoll fort: »Man kann gar nichts sagen, aber du mußt etwas für ihn tun.« »Was soll ich denn tun?« »Ihn befrein.« »Du träumst wohl?« »Du meinst doch alles gar nicht so, wie du es zu Walter sagst?!« fragte Ciarisse, und ihre Augen schienen ihn zu einer Antwort zu drängen, deren Inhalt er nicht erraten konnte. »Ich weiß nicht, was du willst?« sagte er. Ciarisse sah ihm eigensinnig auf ,die Lippen; dann wiederholte sie: »Du solltest trotzdem das tun, was ich gesagt habe; du wüydest verwandelt werden.« Ulrich betrachtete sie. Er begriff nicht recht. Er mußte etwas überhört haben; einen Vergleich oder irgendein Wiewenn, das ihrer Rede Sinn gab. Es klang sehr sonderbar, sie ohne diesen Sinn so natürlich sprechen zu hören, als handelte es sich um eine ge- wöhnliche Erfahrung, die sie gemacht habe. Aber da kehrte Walter zurück. »Ich kann dir ja zugeben — « be- gann er. Die Unterbrechung hatte das Gespräch entschärft. Er saß wieder auf seinem Stühlchen am Klavier und sah befrie- digt seine Schuhe an, an denen Erde haftete. Er dachte: »Warum haftet an Ulrichs Schuh keine Erde? Sie ist die letzte Rettung des europäischen Menschen.« Ulrich aber sah die Beine über Walters Schuhen an; sie staken - 223 - in schwarzen Strümpfen aus Baumwolle und hatten die unschöne Form weicher Mädchenbeine. »Man muß es schätzen, wenn ein Mann heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein« sagte Walter. »Das gibt es nicht mehr« meinte Ulrich. »Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermeßlichen Un- durchsichtigkeit erfüllt- Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein mensch- liches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.« »Sehr richtig« sagte Walter sofort. »Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Nei- gung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil fin- den heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie du das in Schutz nehmen magst!« Ulrich zuckte die Achseln. »Man muß sich ganz zurückziehn« sagte Walter leise. »Es geht doch auch so« erwiderte ihm der Freund. »Vielleicht sind wir auf dem Weg zum Ameisenstaat oder irgend einer ande- ren unchristlichen Aufteilung der Leistungen.« Ulrich bemerkte bei sich, daß man ebensogut übereinstimmen könne wie sich streiten. In der Höflichkeit lag die Verachtung so klar wie ein Leckerbissen in Aspik, Er wußte, daß auch seine letzten Worte Walter ärgern mußten, aber er begann sich danach zu sehnen, einmal mit einem Menschen zu sprechen, mit dem er ganz übereinstimmen könnte. Solche Gespräche hatte es zwischen Walter und ihm einst gegeben. Da werden die Worte von einer geheimen Kraft aus der Brust geholt, und keines verfehlt sein Ziel. Wenn man dagegen mit Abneigung spricht, steigen sie wie Nebel von einer Eisfläche auf. Er sah Walter ohne Groll an. Er war sicher, daß auch der das Gefühl hatte, sich durch dieses Gespräch, je weiter es gehe, desto mehr in seiner inneren Meinung zu verunstalten, aber die Schuld daran ihm beimaß. »Alles, was man denkt, ist entweder Zuneigung oder Abneigung!« dachte Ulrich. Das kam ihm in diesem Augenblick so lebhaft als richtig vor, daß er es wie einen körperlichen Zwang empfand, ähnlich dem berührenden Schwan- ken eng aneinandergeschlossener Menschen. Er sah sich nach Cia- risse um. Aber Ciarisse hörte scheinbar schon seit längerem nicht mehr zu; sie hatte irgendwann die Zeitung aufgenommen, die vor ihr auf dem Tisch gelegen war; dann hatte sie in sich geforscht, warum -224» ihr das ein so tiefes Vergnügen mache, Sie fühlte die unermeßliche Undurchsichtigkeit, von der Ulrich gesprochen hatte, vor den Au- gen. Die Arme entfalteten die Dunkelheit und öffneten sich selbst. Die Arme bildeten mit dem Stamm des Leibes zwei Kreuzbalken, und dazwischen hing die Zeitung. Das war das Vergnügen, aber die Worte, mit denen es zu beschreiben ist, kamen nicht in Clarisse vor. Sie wußte bloß, daß sie auf die Zeitung sah, ohne zu lesen, und daß ihr vorkam, in Ulrich stecke etwas barbarisch Geheimnis- volles, eine ihr selbst verwandte Kraft, ohne daß ihr etwas Ge- naueres darüber einfiel. Ihre Lippen hatten sich zwar geöffnet, als ob sie lächeln würde, aber es geschah ohne Bewußtsein, nur in lose erstarrter Spannung. Walter fuhr leise fort: »Du hast recht, wenn du sagst, daß heute nichts mehr ernst, vernünftig oder auch nur durchschaubar ist; aber warum willst du nicht verstehen, daß gerade die steigende Vernünftigkeit, die das Ganze durchseucht, schuld daran ist. In alle Gehirne hat sich das Verlangen gelegt, immer vernünftiger zu werden, mehr denn je das Leben zu rationalisieren und zu speziali- sieren, und zugleich das Unvermögen, sich denken zu können, was aus uns werden soll, wenn wir alles erkennen, zerteilen, typisieren, in Maschinen verwandeln und normen. Es kann so nicht weiter- gehn.« »Mein Gott,« antwortete Ulrich gleichmütig »der Christ der Mönchszeiten hat gläubig sein müssen, obwohl er sich nur einen Himmel denken konnte, der mit seinen Wolken und Harfen etwas langweilig war; und wir fürchten uns vor dem Himmel der Ver- nunft, der uns an die Lineale, geraden Bänke und entsetzlichen Kreidefiguren der Schulzeit erinnert.« »Ich habe das Gefühl, daß eine zügellose Ausschreitung der Phantastik die Folge sein wird« fügte Walter nachdenklich hinzu. Es war eine kleine Feigheit und List in dieser Rede. Er dachte an das geheimnisvolle Wider vernünftige in Clarisse, und während er von der Vernunft sprach, die es zu Ausschreitungen treibe, dachte er an Ulrich. Die beiden andern nahmen es nicht wahr, und das gab ihm den Schmerz und den Triumph des Un- verstandenen. Er hätte Ulrich am liebsten gebeten, solange er in der Stadt weile, sein Haus nicht mehr zu betreten, wenn es nur, ohne einen Aufstand bei Clarisse zu erregen, möglich ge- wesen wäre. So sahen die beiden Männer Clarisse schweigend zu. Clarisse bemerkte plötzlich, daß sie nicht mehr stritten, rieb sich die Augen und blinzelte Ulrich und Walter freundlich an, die, von gelbem Licht bestrahlt, wie in einem Glasschrank vor den abend- blauen Fensterscheiben saßen. 15 Musil, Mann — 225 - 55 Soli?nan und Arnhcim Der Mädchenmördei Christian Moosbrugger besaß aber noch eine zweite Freundin. Die Frage seiner Schuld oder seines Lei- dens hatte vor einigen Wochen ihr Herz so lebhaft ergriffen wie das vieler anderer, und sie hatte eine Auffassung des Falls, die von der gerichtlichen etwas abwich. Der Name Christian Moos- brugger gefiel ihr wohl, und sie stellte sich darunter einen ein- samen, hochgewachsenen Mann vor, der an einer moosüberwach- senen Mühle saß und dem Donnern des Wassers lauschte. Sie war fest überzeugt, daß sich auf eine ganz unerwartete Weise die Be- schuldigungen aufklären würden, die man gegen ihn erhob. Wenn sie in der Küche oder im Speisezimmer mit ihrer Näharbeit saß, kam es vor, daß Moosbrugger, nachdem er seine Ketten abgeschüt- telt hatte, neben sie trat, und dann spannen sich ganz wilde Phan- tasien an. Es war in ihnen keineswegs ausgeschlossen, daß Chri- stian, wenn er sie, Rachel, rechtzeitig kennen gelernt hätte, seine Laufbahn als Mädchenmörder aufgegeben und sich als ein Räu- berhauptmann von ungeheurer Zukunft entpuppt haben würde. Dieser arme Mann in seinem Kerker ahnte das Herz nicht, das, über Diotimas auszubessernde Wäsche gebeugt, für ihn klopfte. Es war gar nicht weit von der Wohnung des Sektionschefs Tuzzi zum Landesgericht. Von einem Dach zum anderen würde ein Adler nur wenige Flügelschläge gebraucht haben; aber der modernen Seele, die Ozeane und Kontinente spielend überbrückt, ist nichts so unmöglich, wie die Verbindung zu den Seelen zu finden, die um die nächste Ecke wohnen. So hatten sich die magnetischen Ströme wieder aufgelöst, und Rachel liebte seit einiger Zeit die Parallelaktion statt Moosbrug- gers. Selbst wenn in den Zimmern drinnen die Dinge nicht ganz so in Gang kamen, wie sie sollten, ging in den Vorzimmern un- gemein viel vor sich. Rachel, die früher immer Muße gefunden hatte, die Zeitungen zu lesen, die von der Herrschaft in die Küche gelangten, kam nicht mehr dazu, seit sie von früh bis spät als kleine Schildwache vor der Parallelaktion stand. Sie liebte Diotima, Sek- tienschef Tuzzi, Se. Erlaucht Graf Leinsdorf, den Nabob, und seit sie bemerkt hatte, daß er eine Rolle in diesem Haus zu spielen beginne, auch Ulrich; so liebt ein Hund die Freunde seines Hauses mit einem Gefühl und doch verschiedenen Gerüchen, die aufre- gende Abwechslung bedeuten. Aber Rachel war klug. An Ulrich zum Beispiel bemerkte sie recht wohl, daß er immer ein wenig in Gegensatz zu den anderen stand, und ihre Phantasie hatte begon- -226- nen, ihm eine besondere und noch nicht aufgeklärte Rolle in der Parallelaktion zuzuschreiben. Er sah sie immer freundlich an, und die kleine Rachel nahm wahr, daß er sie besonders lange dann be- trachtete, wenn er glaubte, daß sie es nicht sehe. Sie hielt es für gewiß, daß er etwas von ihr wünsche; mochte es nur kommen; ihr weißes Fellchen zog sich erwartungsvoll zusammen, und aus ihren schönen schwarzen Augen schoß hie und da eine ganz kleine gol- dene Spitze zu ihm hinüber! Ulrich fühlte das Knistern dieser klei- nen Person, ohne sich darüber Rechenschaft geben zu können, wäh- rend sie um die statiösen Möbel und Besucher herumstrich, und es bot ihm einige Zerstreuung. Er verdankte seinen Platz in Rachels Aufmerksamkeit nicht zum geringsten geheimnisvollen Vorzimmergesprächen, durch die Arn- heims beherrschende Stellung ins Wanken geraten war; denn dieser strahlende Mann hatte, ohne es zu wissen, außer ihm und Tuzzi noch einen dritten Feind in seinem kleinen Diener Soliman. Dieser Mohrenknabe war die funkelnde Schließe in dem Zauber- gürtel, den die Parallelaktion um Rachel gelegt hatte. Ein komi- scher Kleiner, der hinter seinem Herrn aus dem Märchenland in die Straße gekommen war, wo Rachel diente, war er von ihr ein- fach als der unmittelbar für sie bestimmte Teil des Märchens in Besitz genommen worden; so war es sozial vorgesehen; der Nabob war die Sonne und gehörte Diotima, Soliman gehörte Rachel und war ein in der Sonne leuchtender, entzückend bunter Scherben, den sie für sich aufhob. Aber das war nicht ganz des Knaben Meinung. Er stand, trotz seiner körperlichen Kleinheit, schon zwischen dem sechzehnten und dem siebzehnten Jahr und war ein Wesen voll Romantik, Bosheit und persönlichen Ansprüchen. Arnheim hatte ihn einst im Süden Italiens aus einer Truppe von Tänzern heraus- geholt und zu sich genommen; der sonderbar zappelige Kleine, mit der Melancholie seines Affenblicks, hatte ihm ans Herz gegriffen, und der reiche Mann beschloß, ihm ein höheres Leben zu eröffnen. Es war dies eine Sehnsucht nach inniger, treuer Gesellschaft, wie sie den Einsamen nicht selten als Schwäche anwandelte, die er aber gewöhnlich hinter vermehrter Tätigkeit verbarg, und er hatte Soliman bis zu dessen vierzehntem Jahr ungefähr so unachtsam als gleichgestellt behandelt, wie man früher in reichen Häusern die Milchgeschwister der eigenen Kinder aufzog, die an allen Spie- len und Vergnügungen teilhaben dürfen, ehe der Augenblick kommt, wo man herauskehren muß, daß die Milch einer Ammen- brust mit Geringerem säugt als die der Mutterbrust. Soliman hatte Tag und Nacht, am Schreibtisch oder während stundenlanger Ge- spräche mit berühmten Besuchern zu Füßen, hinter dem Rücken oder auf den Knien seines Herrn gekauert. Er hatte Scott, Shake- -227- speare und Dumas gelesen, wenn gerade Scott, Shakespeare und Dumas auf den Tischen herumlagen, und hatte am Handwörter- buch der Geisteswissenschaften buchstabieren gelernt. Er aß die Bonbons seines Herrn und begann frühzeitig, wenn es niemand sah, auch seine Zigaretten zu rauchen. Ein eigener Lehrer kam und gab ihm — etwas unregelmäßig wegen der vielen Reisen — Ele- mentarunterricht. Bei alledem hatte sich Soliman fürchterlich ge- langweilt und nichts so sehr geliebt wie die Aufgaben eines Kam- merdieners, an denen er gleichfalls teilhaben durfte, denn das war eine wirkliche und erwachsene Tätigkeit, die seinem Tatendrang schmeichelte. Aber eines Tags, und es war noch nicht lange her, hatte ihn sein Herr zu sich rufen lassen und ihm freundlich erklärt, daß er nicht ganz das gehalten habe, was er sich von ihm versprochen hätte, daß er nun kein Kind mehr sei und daß Arnheim, der Herr, die Verant- wortung dafür trage, daß aus Soliman, dem kleinen Diener, ein or- dentlicher Mensch werde; weshalb er beschlossen habe, ihn von nun an genau als das zu behandeln, was er einst sein müsse, so daß ersieh noch rechtzeitig daran gewöhnen könne. Viele erfolgreiche Männer — fügte Arnheim hinzu — hätten als Stiefelputzer und Teller- wäscher angefangen, worin gerade ihre Kraft gelegen habe, denn das Wichtigste sei, daß man von allem Anfang an alles ganz tue. Diese Stunde, wo er von einem unbestimmten Luxusgeschöpf zum Diener mit freier Station und kleinem Salär befördert worden war, richtete in Solimans Herzen eine Verwüstung an, von der Arnheim nichts ahnte. Soliman hatte die Eröffnungen, die ihm Arnheim machte, überhaupt nicht verstanden, wohl aber hatte er sie mit dem Gefühl erraten und haßte seinen Herrn seit der Ver- änderung, die mit ihm vollzogen worden war. Er verzichtete auch weiterhin keineswegs auf Bücher, Bonbons und Zigaretten, aber während er sich früher bloß genommen hatte, was ihn freute, be- stahl er Arnheim nun mit vollem Bewußtsein und konnte sich an diesem Rachegefühl so wenig genugtun, daß er manchmal auch einfach Dinge zerbrach, versteckte oder wegwarf, die zur Verwun- derung Arnheims, der sich dunkel an sie zu erinnern glaubte, nie wieder zum Vorschein kamen. Während sich Soliman derart wie ein Kobold rächte, nahm er sich aber in seinen dienstlichen Ob- liegenheiten und im gefälligen Auftreten ungemein zusammen. Er war nach wie vor eine Sensation bei allen Köchinnen, Stubenmäd- chen, Hotelangestellten und weiblichen Besuchern, wurde von ihren Blicken und ihrem Lächeln verwöhnt, von Gassenbuben spöttisch begafft und blieb es gewohnt, sich als eine fesselnde und wichtige Persönlichkeit zu fühlen, auch wenn er unterdrückt wurde. Selbst sein Herr schenkte ihm noch zuweilen einen zufriedenen und ge- schmeichelten Blick oder ein freundliches und weises Wort, man -228- lobte ihn allgemein als anstelligen, gefälligen Jungen, und wenn es sich gerade so traf, daß Soliman kurz vorher etwas besonders Verwerfliches auf sein Gewissen geladen hatte, so genoß er dienst- willig grinsend seine Überlegenheit wie eine verschluckte Kugel glühend kalten Eises. Das Vertrauen dieses Jungen hatte Rachel in dem Augenblick gewonnen, wo sie ihm mitteilte, daß in ihrem Hause vielleicht ein Krieg vorbereitet werde, und seither mußte sie die schändlichsten Eröffnungen über ihren Abgott Arnheim von ihm entgegenneh- men. Trotz all seiner Blasiertheit sah Solimans Phantasie aus wie ein Nadelkissen voll Schwertern und Dolchen, und in allem, was er Rachel von Arnheim erzählte, donnerte es von Roßhufen, und es schwankten Fackeln und Strickleitern. Er vertraute ihr an, daß er gar nicht Soliman heiße, und nannte ihr einen langen, sonderbar klingenden Namen, den er so schnell aussprach, daß sie sich ihn niemals merken konnte. Später fügte er das Geheimnis hinzu, daß er der Sohn eines Negerfürsten und seinem Vater, der tausende Krieger, Rinder, Sklaven und Edelsteine besitze, als Kind gestoh- len worden sei; Arnheim habe ihn gekauft, um ihn dereinst dem Fürsten furchtbar teuer wieder zu verkaufen, aber er wolle fliehen und habe es bisher bloß deshalb nicht tun können, weil sein Vater so weit weg wohne. Rachel war nicht so dumm, diesen Geschichten zu glauben; aber sie glaubte ihnen, weil ihr in der Parallelaktion kein Maß des Unglaub- lichen groß genug war. Sie würde auchgerne Soliman verboten haben, so von Arnheim zu sprechen; aber sie mußte es sich an einem mit Grauen vermengten Mißtrauen gcgtn seine Vermessenheit genug sein lassen, denn irgendwie fühlte sie die Behauptung, daß seinem Herrn nicht zu trauen sei, trotz aller Zweifel als eine ungeheure, herannahende, spannende Verwicklung in der Parallelaktion. Es waren Gewitterwolken, hinter denen der hochgewachsene Mann in der moosbewachsenen Mühle verschwand, und ein fahles Licht sammelte sich in den faltigen Grimassen von Solimans klei- nem Affengesicht. 56 Lebhafte Arbeit in den Ausschüssen der Parallel- aktion. Ciarisse schreibt an Se. Erlaucht und schlägt ein Nietzsche- Jahr vor Zu dieser Zeit mußte Ulrich zwei- bis dreimal in jeder Woche Se. Erlaucht besuchen. Er fand ein hohes, schlankes, schon als Raum -229- entzückendes Zimmer für sich bereit. Am Fenster stand ein großer Maria-Theresia-Schreibtisch. An der Wand hing ein dunkles Bild, mit verschlossen leuchtenden roten, blauen und gelben Flecken dar- in, das irgendwelche Reiter darstellte, die anderen, gestürzten Rei- tern Lanzen in die Weichteile bohrten; und an der gegenüberlie- genden Wand befand sich eine vereinsamte Dame, deren Weich- teile sorgfältig durch ein goldgesticktes Wespenkorsett geschützt waren. Es war nicht einzusehen, warum man sie ganz allein an diese Wand verbannt hatte, denn sie hatte offenbar der Familie Leinsdorf angehört, und ihr junges gepudertes Gesicht sah dem des Grafen so ähnlich wie eine Fußstapfe in trockenem Schnee einer Fußstapfe in nasser Lehmerde. Ulrich hatte übrigens wenig Ge- legenheit, das Gesicht des Grafen Leinsdorf zu betrachten. Der äußere Verlauf der Parallelaktion hatte seit der letzten Sitzung einen solchen Aufschwung genommen, daß Se. Erlaucht niemals dazukam, sich den großen Gedanken zu widmen, sondern seine Zeit mit dem Durchlesen von Eingaben, mit Besuchern, Unterredungen und Ausfahrten verbringen mußte. So hatte er schon eine Aus- sprache mit dem Ministerpräsidenten, eine Unterredung mit dem Erzbischof, eine Besprechung in der Hofkanzlei gehabt und einige- male im Herrenhaus mit den Mitgliedern des Hochadels und der Nobelbourgeoisie Fühlung genommen. Ulrich war diesen Erörte- rungen nicht zugezogen worden und erfuhr nur soviel, daß man auf allen Seiten mit starken politischen Widerständen der Gegenseite rechne, weshalb alle diese Stellen erklärten, die Parallelaktion de- sto kräftiger unterstützen zu können, je weniger sie darin genannt würden, und sich vorläufig nur durch Beobachter in den Ausschüs- sen vertreten ließen. Erfreulicherweise machten diese Ausschüsse von Woche zu Woche große Fortschritte. Sie hatten, wie es in der gründenden Sitzung beschlossen worden war, die Welt nach den großen Gesichtspunk- ten der Religion, des Unterrichts, des Handels, der Landwirtschaft und so weiter eingeteilt, in jedem Ausschuß saß schon ein Vertreter des entsprechenden Ministeriums, und alle Ausschüsse widmeten sich bereits ihrer Aufgabe, daß jeder Ausschuß im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen auf die Vertreter der ressortzustän- digen Körperschaften und Volksteile warte, um deren Wünsche, Anregungen und Bitten zu erfassen und dem Hauptausschuß zu- zuleiten. Auf diese Weise hoffte man, ihm die »hauptsächlichsten« moralischen Kräfte des Landes geordnet und zusammengefaßt zu- strömen zu lassen, und hatte schon die Genugtuung, daß dieser schriftliche Verkehr anwuchs. Die Zuschriften der Ausschüsse an den Hauptausschuß konnten sich bereits nach kurzer Zeit auf andere Zuschriften berufen, die dem Hauptausschuß bereits geschickt wor- -230- den waren, und begannen mit einem Satz zu beginnen, der von einem zum andern Mal gewichtiger wurde und mit den Worten anfing: »Unter Bezugnahme auf diesstellige Zahl Nummer sound- soviel, beziehungsweise Nummer soundso, gebrochen durch rö- misch . . .«, worauf wieder eine Zahl folgte; und alle diese Zahlen wurden mit jeder Zuschrift größer. Das hatte schon etwas von ge- sundem Wachstum an sich, und dazu kam, daß auch die Gesandt- schaften auf halbamtlichem Wege über den Eindruck zu berichten begannen, den die Kraftäußerung des österreichischen Patriotismus auf das Ausland mache; daß bereits die fremden Gesandten vor- sichtig Gelegenheit suchten, um sich Auskunft zu holen; daß auf- merksam gewordene Volksabgeordnete sich nach den Absichten erkundigten; und die private Tatkraft sich in den Anfragen von Geschäftshäusern zu äußern begann, die sich die Freiheit nahmen, Anregungen zu unterbreiten, oder um einen festen Anhaltspunkt für die Verbindung ihrer Firma mit dem Patriotismus ersuchten. Ein Apparat war da, und weil er da war, mußte er arbeiten, und weil er arbeitete, begann er zu laufen, und wenn ein Automobil in einem weiten Feld zu laufen beginnt, und es säße selbst niemand am Steuer, so wird es doch einen bestimmten, sogar sehr eindrucks- vollen und besonderen Weg zurücklegen. Auf diese Weise entstand also ein mächtiger Vortrieb, und Graf Leinsdorf bekam ihn zu fühlen. Er setzte seinen Kneifer auf und las alle Zuschriften mit großem Ernst vom Anfang bis zum Ende. Dies waren nicht mehr die Vorschläge und Wünsche unbekannter leidenschaftlicher Personen, die ihn anfangs überschwemmt hatten, ehe die Angelegenheit in eine geregelte Bahn gebracht worden war, und selbst wenn diese Eingaben oder Anfragen aus dem Schoß des Volkes kamen, so waren sie von den Vorständen alpiner Ge- nossenschaften unterzeichnet, von Freidenkerbünden, Jungfrauen- kongregationen, gewerblichen Vereinen, Geselligkeitsbünden, Bür- gerklubs und anderen jener groben Grüppchen, die dem Übergang vom Individualismus zum Kollektivismus vorauslaufen wie Keh- richthäufchen einem wirbelnden Wind. Und wenn Se. Erlaucht auch nicht mit allem einverstanden war, was von ihm verlangt wurde, so stellte er doch im ganzen einen wesentlichen Fortschritt fest. Er setzte seinen Kneifer ab, reichte die Zuschrift dem Ministerialrat oder Sekretär zurück, der sie ihm übergeben hatte, und nickte be- friedigt, ohne ein Wort zu äußern; er hatte das Gefühl, daß die Parallelaktion auf einem guten und ordentlichen Wege sei, und der wahre Weg werde sich schon finden. Der Ministerialrat, der die Zuschrift wieder übernahm, legte sie gewöhnlich auf einen Stapel anderer Zuschriften, und wenn die letzte oben lag, las er in den Augen Sr. Erlaucht. Dann pflegte der -231- Mund Sr. Erlaucht zu sprechen: »Das ist alles ausgezeichnet, aber man kann nicht ja und nicht nein sagen, solange wir über den Mit- telpunkt unserer Ziele nichts Grundsätzliches wissen.« Das aber war es, was der Ministerialrat schon bei jeder vorangegangenen Zu- schrift in den Augen Sr. Erlaucht gelesen hatte, und es bildete genau auch seine eigene Meinung, und er hielt einen goldgefaßten Taschenbleistift in der Hand, mit dem er schon an das. Ende einer jeden Zuschrift die Zauberformel »Ass.« geschrieben hatte. Diese Zauberformel Ass., die in den kakanischen Ämtern in Gebrauch war, hieß »Asserviert«, auf deutsch soviel wie »Zu späterer Ent- scheidung aufgehoben«, und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts verloren gehen läßt und nichts übereilt. Asserviert wurde zum Beispiel die Bitte des kleinen Beamten um eine außergewöhn- liche Wöchnerinnenbeihilfe so lange, bis das Kind erwachsen und selbständig erwerbsfähig war, aus keinem anderen Grunde als dem, daß die Materie bis dahin vielleicht gesetzlich geregelt sein konnte und das Herz der Vorgesetzten vorher die Bitte nicht abschlagen wollte; asserviert wurde aber auch die Eingabe einer einflußreichen Person oder Amtsstelle, die man durch Ablehnung nicht kränken durfte, obgleich man wußte, daß eine andere einflußreiche Stelle gegen ihre Eingabe war, und grundsätzlich wurde alles, was zum erstenmal an ein Amt herantrat, solange asserviert, bis ihm ein ähnlicher Fall voranging. Aber es wäre ganz falsch, sich über diese Gewohnheit der Ämter lustig zu machen, denn außerhalb der Büros wird noch viel mehr asserviert. Wie wenig will es sogar bedeuten, daß in den Thron- schwüren der Könige noch immer das Versprechen vorkommt, die Türken oder die Heiden zu bekriegen, wenn man bedenkt, daß in der Geschichte der Menschheit noch nie ein Satz ganz durchstrichen oder ganz zu Ende geschrieben worden ist, woraus zuweilen jenes verwirrende Tempo des Fortschritts entsteht, das täuschend einem geflügelten Ochsen gleicht. Dabei geht in den Ämtern doch wenig- stens einiges verloren, in der Welt aber nichts. So ist Asservation eine der Grundformeln unseres Lebensgebäudes. Wenn Sr. Erlaucht aber etwas besonders dringend erschien, so mußte er eine andere Methode wählen. Er schickte dann die Anregung zunächst zum Hof, an seinen Freund Graf Stallburg, mit der Anfrage, ob man sie als »vorläufig definitiv«, wie er das nannte, in Aussicht nehmen dürfe. Nach einiger Zeit kam dann jedesmal die Antwort zurück, daß in diesem Punkte eine Allerhöchste Willensmeinung derzeit nicht übermittelt werden könne, vielmehr es erwünscht erscheine, sich zunächst die öffentliche Meinung selbst bilden zu lassen, und je nach der Aufnahme, die der Vorschlag in ihr finde, und sonstigen sich herausstellen sollenden Erfordernissen ihn später wieder in -232- Erwägung zu ziehn. Der Akt, zu dem die Anregung damit gewor- den war, ging dann an die ressortzuständige Ministerialstelle und kam von dort mit dem Vermerk zurück, daß man sich hieramts zur alleinigen Entscheidung nicht für zuständig erachte, und wenn das geschehen war, merkte sich Graf Leinsdorf vor, in einer der näch- sten Sitzungen des Hauptausschusses zu beantragen, daß ein inter- ministerieller Unterausschuß zum Studium der Angelegenheit ein- gesetzt werde. Unerbittlich entschieden war er nur in dem einen Fall, wo ein Schriftstück einlief, das weder die Unterschrift eines Vereinsvor- standes noch einer staatlich anerkannten kirchlichen, wissenschaft- lichen oder künstlerischen Korporation trug. Ein solcher Brief kam in diesen Tagen von Ciarisse, worin sie sich auf Ulrich berief und vorschlug, ein österreichisches Nietzsche- Jahr zu veranstalten, wo- bei man gleichzeitig für den Frauenmörder Moosbrugger etwas tun müsse; als Frau fühle sie sich berufen, das vorzuschlagen, schrieb sie, und dann wegen der bedeutungsvollen Übereinstimmung, die darin bestehe, daß Nietzsche geisteskrank gewesen sei und Moos- brugger es auch sei. Ulrich konnte seinen Ärger kaum unter einem Scherz verbergen, als Graf Leinsdorf ihm diesen Brief zeigte, den er schon an der eigenartig unreifen, aber von dicken Balkenstrichen und Unterstreichungen durchkreuzten Schrift erkannte. Jedoch Graf Leinsdorf, als er seine Verlegenheit wahrzunehmen glaubte, sagte ernst und gütig: »Das ist nicht uninteressant. Es ist, ich möchte sagen, feurig und tatkräftig; aber wir müssen leider alle solche Einzelvorschläge ad acta legen, sonst kommen wir zu keinem Ziel. Vielleicht übergeben Sie diesen Brief, da Sie die Dame, die ihn schreibt, doch persönlich zu kennen scheinen, Ihrer Frau Kusine?« 57 Großer Aufschwung. Diotima macht sonderbare Erfahrungen mit dem Wesen großer Ideen Ulrich steckte den Brief zu sich, um ihn verschwinden zu lassen, aber es wäre auch gar nicht leicht gewesen, mit Diotima dar- über zu sprechen, denn diese fühlte sich, seit der Artikel über das österreichische Jahr erschienen war, von einem ganz ungeordneten Aufschwung erfaßt. Nicht nur übergab ihr Ulrich, wenn möglich ungelesen, alle Akten, die er von Graf Leinsdorf erhielt, sondern auch die Post brachte täglich Stöße von Zuschriften und Zeitungs- ausschnitten, die Buchhändler schickten ihr gewaltige Mengen von Büchern zur Ansicht, der Verkehr in ihrem Hause schwoll an, wie -233- die See schwillt, wenn Wind und Mond vereint an ihr saugen, auch das Telefon kam keinen Augenblick zur Ruhe, und wenn die kleine Rachel nicht mit dem Eifer eines Erzengels am Apparat amtiert und die meisten Auskünfte selbst erteilt hätte, weil sie einsah, daß man ihre Herrin nicht unausgesetzt bemühen könne, so wäre Diotima unter der Last der Anforderungen zusammengebrochen. Dieser Nervenzusammenbruch, der niemals eintrat und immer zitternd in ihrem Körper pochte, schenkte Diotima aber nun ein Glück, das sie noch nicht gekannt hatte. Es war ein Schaudern, ein Überrieseltwerden von Bedeutsamkeit, ein Knistern wie das des Drucks in einem Stein, der im Scheitel des Weltgebäudes sitzt, ein Prickeln wie das Gefühl des Nichts, wenn man auf einer weithin alles überragenden Bergspitze steht. Mit einem Wort, es war das Gefühl der Position, das der Tochter eines bescheidenen Mittel- schullehrers und jungen Gattin eines bürgerlichen Vizekonsuls, die sie ungeachtet ihres Aufstiegs in den frischesten Teilen ihres Wesens bisher doch wohl geblieben war, mit einemmal zu Bewußtsein kam. — Ein solches Gefühl der Position gehört zu den unbemerkten, aber grundwichtigen Zuständen des Daseins so wie das Nicht- bemerken der Erddrehung oder des persönlichen Anteils, den wir zu unseren Wahrnehmungen beisteuern. Der Mensch trägt den größten Teil seiner Eitelkeit, da man ihn gelehrt hat, daß er ihn nicht im Herzen tragen dürfe, unter den Füßen, indem er auf dem Boden eines großen Vaterlandes, einer Religion oder einer Ein- kommensteuerstufe wandelt, und in Ermangelung solcher Position genügt ihm sogar, was jeder haben kann, sich auf der augenblicklich höchsten Spitze der aus dem Nichts aufgestiegenen Zeitsäule zu be- finden, das heißt, gerade jetzt zu leben, wo alle Früheren zu Staub geworden sind und keine Späteren noch da sind. Steigt diese Eitel- keit aber, die gewöhnlich unbewußt ist, aus irgendwelchen Ursachen mit einemmal von den Füßen in den Kopf, so kann das eine gelinde Verrücktheit erzeugen, ähnlich der jener Jungfrauen, die glauben, mit der Weltkugel schwanger zu gehn. Sogar Sektionschef Tuzzi erwies Diotima jetzt die Ehre, sich bei ihr nach den Vorgängen zu erkundigen und sie manchmal zu bitten, diesen und jenen kleinen Auftrag zu übernehmen, wobei das Lächeln, mit dem er sonst über ihren Salon zu sprechen pflegte, einem würdigen Ernst gewichen war. Man wußte noch immer nicht, wie weit an Allerhöchster Stelle etwa der Plan genehm sein würde, sich an die Spitze einer inter- nationalen pazifistischen Kundgebung gestellt zu sehen, aber er knüpfte an diese Möglichkeit wiederholt die besorgte Bitte, daß sich Diotima auf außenpolitischem Gebiet nicht in das Geringste einlassen möge, ohne ihn vorher um Rat zu fragen. Er gab sogar auf der Stelle den Ratschlag, daß man, wenn ernstlich irgendwann -234- die Anregung einer internationalen Friedensaktion auftauchen sollte, sofort dafür Sorge tragen müßte, daß nicht politische Ver- wicklungen aus ihr entstünden. Man brauche eine so schöne Idee keinesfalls abzulehnen, erklärte er seiner Gattin, selbst dann nicht, wenn die Möglichkeit bestehen sollte, sie zu verwirklichen, aber es sei unbedingt nötig, sich von Anfang an alle Durchführungs- und Rückzugsmöglichkeiten offenzuhalten. Er legte Diotima sodann die Unterschiede zwischen einer Abrüstung, einer Friedenskonferenz, einer Herrscherzusammenkunft bis hinab zu jener schon erwähnten Stiftung zur Ausstattung des Haager Friedenspalastes mit Wand- gemälden heimischer Künstler dar und hatte noch nie so sachlich mit seiner Ehefrau gesprochen. Er kehrte sogar zuweilen, mit der Ledermappe im Arm, noch einmal ins Schlafzimmer zurück, um seine Darlegungen zu ergänzen, etwa wenn er beizufügen vergessen hatte, daß er persönlich alles, was mit dem Namen Weltösterreich zusammenhänge, selbstverständlich nur in Verbindung mit einem pazifistischen oder humanitären Unternehmen für möglich halte, wenn man nicht für gefährlich unberechenbar gelten solle, oder ähnliches. Diotima antwortete mit geduldigem Lächeln: »Ich werde mich bemühen, deinen Wünschen Rechnung zu tragen, aber du darfst dir von der Bedeutung der Außenpolitik für uns keine übertriebenen Vorstellungen machen. Es ist ein geradezu erlösender Aufschwung im Innern da und kommt aus der anonymen Tiefe des Volks; du weißt nicht, von wieviel Bitten und Vorschlägen ich täglich über- schwemmt werde.« Sie war bewundernswert; denn sie hatte, ohne es sich merken zu lassen, mit gewaltigen Schwierigkeiten zu kämpfen. In den Be- ratungen des großen, nach den Gesichtspunkten der Religion, der Gerechtigkeit, der Landwirtschaft, des Unterrichts und so weiter aufgebauten Zentralausschusses begegneten alle höheren Anregun- gen jener eisigen und ängstlichen Zurückhaltung, welche Diotima gar wohl von ihrem Mann kannte, als er noch nicht so aufmerksam geworden war; und sie fühlte sich manchmal ganz mutlos vor Un- geduld und konnte sich nicht verhehlen, daß dieser Widerstand der trägen Welt schwer zu brechen sein werde. So klar für sie selbst das Österreichische Jahr als weltösterreichisches Jahr dastand und die österreichischen Nationen als das Vorbild der Nationen der Welt darstellen sollte, wozu eigentlich nichts anderes nötig war, wie zu beweisen, daß der Geist in Österreich seine wahre Heimat habe, so deutlich zeigte es sich, daß dies für die Köpfe der Schwer- fälligen noch eines besonderen Inhalts bedurfte und durch einen Einfall ergänzt werden mußte, der durch seine mehr sinnfällige als allgemeine Natur dem Verständnis entgegenkam. Und Diotima -235- studierte stundenlang in vielen Büchern, um eine Idee zu finden, die das leiste, und natürlich sollte es in besonderer Weise auch eine symbolisch österreichische Idee sein; aber Diotima machte sonder- bare Erfahrungen mit dem Wesen großer Ideen. Es zeigte sich, daß sie in einer großen Zeit lebte, denn die Zeit war voll von großen Ideen; aber man sollte nicht glauben, wie schwierig es ist, das Größte und Wichtigste davon zu verwirklichen, sobald alle Bedingungen dafür gegeben sind, bis auf die eine, was man dafür halten soll! Jedesmal, wenn Diotima sich beinahe schon für eine solche Idee entschieden hatte, mußte sie bemerken, daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen. So ist es nun einmal, und sie konnte nichts dafür. Ideale haben merk- würdige Eigenschaften und darunter auch die, daß sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie genau befolgen will. Da waren zum Beispiel Tolstoi und die Berta Suttner — zwei Schrift- steller, von deren Ideen man damals ungefähr gleichviel hörte — , aber wie kann sich, dachte Diotima, die Menschheit ohne Gewalt auch nur Brathühner verschaffen? Und was fängt man mit den Soldaten an, wenn man, wie jene es verlangten, nicht töten soll? Sie werden erwerbslos, die Armen, und die Verbrecher haben gol- dene Zeiten. Solche Anträge lagen aber vor, und man hörte, daß schon Unterschriften gesammelt würden. Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahr- heit doppelt und mehrfach gibt. Darum hat der vernünftige Mensch, und das war in diesem Fall Sektionschef Tuzzi, der dadurch sogar eine gewisse Ehrenrettung erfuhr, ein tief eingewurzeltes Mißtrau- en gegen ewige Wahrheiten; er wird zwar niemals bestreiten, daß sie unentbehrlich seien, aber er ist überzeugt, daß Menschen, die sie wörtlich nehmen, verrückt sind. Nach seiner Einsicht — die er sei- ner Gattin hilfreich darbot — , enthalten die menschlichen Ideale ein Unmaß der Forderung, das ins Verderben führen muß, wenn man es nicht schon von vornherein nicht ganz ernst nimmt. Als den besten Beweis dafür führte Tuzzi an, daß solche Worte wie Ideal und ewige Wahrheit in Büros, wo es sich um ernste Dinge handelt, überhaupt nicht vorkommen; einem Referenten, der es sich einfal- len ließe, sie in einem Akt anzuwenden, würde augenblicklich nahe- gelegt werden, sich zur Erlangung eines Erholungsurlaubes amts- ärztlich untersuchen zu lassen. Aber Diotima, wenn sie ihm auch wehmütig zuhörte, schöpfte aus solchen Stunden der Schwäche am Ende doch wieder neue Kraft, sich in ihre Studien zu stürzen. Sogar Graf Leinsdorf war überrascht von ihrer geistigen Energie, als er endlich die Zeit fand, zu einer Rücksprache zu erscheinen. Se. Erlaucht wollte eine aus der Mitte des Volkes aufsteigende -236- Kundgebung. Er wünschte aufrichtig, den Volkswillen zu erkunden und durch vorsichtig von oben kommende Einflußnahme zu läutern, denn er wollte ihn dereinst Sr. Majestät nicht als eine Gabe des Byzantinismus, sondern als Zeichen der Selbstbesinnung der im Strudel der Demokratie treibenden Völker unterbreiten. Diotima wußte, daß Se. Erlaucht noch immer an dem Gedanken »Friedens- kaiser« festhielt und an einer glanzvollen Kundgebung des wahren Österreich, wenn er auch den Vorschlag Weltösterreich nicht grund- sätzlich ablehnte, sofern nur darin das Gefühl einer um ihren Patriarchen gescharten Völkerfamilie richtig zum Ausdruck komme. Von dieser Familie nahm Se. Erlaucht allerdings unter der Hand und stillschweigend Preußen aus, obgleich er gegen die Person des Dr. Arnheim nichts einzuwenden fand und sie sogar ausdrücklich als eine interessante Person bezeichnet hatte. »Wir wollen ja sicher nichts im verbrauchten Sinn Patriotisches haben,« mahnte er »wir müssen die Nation, die Welt aufrütteln. Ich finde die Idee, ein österreichisches Jahr zu machen, recht schön und habe ja eigentlich selbst zu den Journalisten gesagt, daß man die Phantasie des Publi- kums auf ein solches Ziel lenken müsse. Aber haben Sie sich schon einmal überlegt, meine Liebe, wenn es bei diesem österreichischen Jahr bleibt, was wir in diesem Jahr machen sollen? Sehen Sie, das ist es! Das muß man auch wissen. Man muß da ein bißchen von oben nachhelfen, sonst gewinnen die unreifen Elemente die Oberhand. Und ich finde absolut nicht Zeit, mir etwas einfallen zu lassen!« Diotima fand Se. Erlaucht sorgenvoll und erwiderte lebhaft: »Die Aktion muß in einem großen Zeichen gipfeln oder gar nicht! Das ist gewiß. Sie muß das Herz der Welt ergreifen, erfordert aber auch eine von oben kommende Einflußnahme. Das ist nicht zu be- streiten. Das österreichische Jahr ist ein ausgezeichneter Vorschlag, aber meiner Meinung nach wäre ein Weltjahr noch schöner; ein weltösterreichisches Jahr, wo der europäische Geist in Österreich seine wahre Heimat erblicken könnte!« »Vorsichtig! Vorsichtig!« warnte Graf Leinsdorf, der von der geistigen Kühnheit seiner Freundin schon oft erschreckt worden war. »Ihre Ideen sind vielleicht immer ein klein wenig zu groß, Diotima! Sie haben das ja schon einmal gesagt, aber man kann nicht vorsichtig genug sein! Was haben Sie sich also ausgedacht, das wir in diesem Welt jähr tun sollen?« Mit dieser Frage hatte Graf Leinsdorf aber, von jener Geradheit geleitet, die sein Denken so charaktervoll machte, genau den schmerzhaftesten Punkt in Diotima berührt. »Erlaucht,« sagte sie nach einigem Zögern »das ist die schwierigste Frage der Welt, auf die Sie eine Antwort von mir wollen. Ich beabsichtige, so bald als möglich einen Kreis der bedeutendsten Männer einzuladen, Dichter -237- und Denker, und ich will die Anregungen dieser Versammlung ab- warten, ehe ich etwas sage.« »So ist es recht!« rief Se. Erlaucht aus, sofort für das Abwarten gewonnen. »So ist es recht! Man kann nicht vorsichtig genug sein! Wenn Sie wüßten, was ich jetzt alle Tage zu hören bekomme!« 58 Die Parallelaktion erregt Bedenken. In der Geschichte der Menschheit gibt es aber kein freiwilliges Zurück Einmal hatte Se. Erlaucht auch Zeit, mit Ulrich eingehender zu sprechen. »Mir ist dieser Doktor Arnheim nicht sehr angenehm« vertraute er ihm an. »Gewiß, ein überaus geistvoller Mann, man kann sich über Ihre Kusine nicht wundern; aber schließlich ein Preuße. Er schaut so zu. Wissen Sie, wie ich ein kleiner Bub war, im Jahr fünfundsechzig, da hat mein seliger Vater auf Schloß Chrudim einen Jagdgast gehabt, der hat auch immer so zugeschaut, und ein Jahr danach hat sich herausgestellt, daß kein Mensch wußte, wer ihn eigentlich bei uns eingeführt hatte, und daß er ein preußischer Generaistabsmajor gewesen ist! Ich will damit selbstverständlich gar nichts gesagt haben, aber es ist mir nicht angenehm, daß der Arnheim alles von uns weiß.« »Erlaucht,« sagte Ulrich »ich bin froh, daß Sie mir Gelegenheit geben, mich auszusprechen. Es ist Zeit, daß etwas geschieht; ich mache Erfahrungen, die mich nachdenklich stimmen und für einen ausländischen Beobachter nicht geeignet sind. Die Parallelaktion sollte doch alle Leute glücklich erregen, das beabsichtigen Erlaucht doch auch?« »Na, ja, natürlich!« »Aber das Gegenteil gelingt!« rief Ulrich aus. »Ich habe den Ein- druck, daß sie alle gebildeten Leute auffallend bedenklich und traurig macht!« Se. Erlaucht schüttelte den Kopf und drehte einen Daumen um den anderen, wie er es immer tat, wenn sich sein Gemüt nachdenk- lich verfinsterte. In der Tat hatte auch er schon Erfahrungen ge- macht, die ähnlich denen waren, die ihm Ulrich nun berichtete. »Seit es bekanntgeworden ist, daß ich mit der Parallelaktion etwas zu tun habe,« erzählte dieser »vergehen nicht drei Minuten, wenn ich mit jemand zusammenkomme, der mit mir ein wenig all- gemeiner sprechen will, ohne daß er mir sagt:- »Was wollen Sie eigentlich mit der Parallelaktion erreichen? Es gibt ja heute doch keine großen Leistungen und keine großen Mariner mehr!« -238- »Ja, damit meinen sie bloß sich selber nicht!« warf Se. Erlaucht «in. »Ich kenne das, ich bekomme es auch zu hören. Die Großindu- striellen schimpfen auf die Politik, die ihnen nicht genug* Schutz- zölle abwirft, und die Politiker schimpfen auf die Industrie, die zu wenig Wahlgelder hergibt.« »Sehr richtig!« nahm Ulrich seine Darlegung wieder auf. »Ganz bestimmt glauben die Chirurgen, daß die Chirurgie seit den Tagen Billroths Fortschritte gemacht hat; sie sagen bloß, daß die übrige Medizin und die ganze Naturforschung der Chirurgie zu wenig nützt. Ich möchte sogar behaupten, wenn Erlaucht es mir gestatten, daß auch die Theologen überzeugt sind, die Theologie sei heute irgendwie weiter als zu Christi Zeit — « Graf Leinsdorf hob in nachsichtiger Abwehr die Hand. »Also ich bitte um Entsdiuldigung, wenn ich etwas Unpassendes gesagt habe, es hätte auch gar nicht sein müssen; denn das, worauf ich hinaus will, scheint etwas ganz Allgemeines zu bedeuten. Die Chirurgen, habe ich gesagt, behaupten, daß die Naturforschung nicht ganz das hält, was man von ihr verlangen müßte. Spricht man dagegen mit einem Naturforscher über die Gegenwart, so klagt er darüber, daß er im allgemeinen gern seinen Blick ein bißchen er- heben möchte, sich aber im Theater langweilt und keinen Roman findet, der ihn unterhält und anregt. Spricht man mit einem Dichter, so sagt dieser, es gibt keinen Glauben. Und spricht man, da ich die Theologen jetzt auslassen will, mit einem Maler, so kann man ziemlich sicher sein, er wird behaupten, daß die Maler in einer Zeit mit so miserabler Dichtung und Philosophie nicht ihr Bestes geben können. Die Reihenfolge, in der das einer auf den anderen schiebt, ist natürlich nicht immer die gleiche, aber jedesmal hat es etwas vom Schwarzen Peter, wenn Erlaucht das kennen, oder vom Ge- vatter, leih mir die Scheer an sich; und die Regel, die dem zugrunde liegt, oder das Gesetz kann ich nicht herausbringen! Ich fürchte, man muß sagen, daß ein jeder Mensch im besonderen und mit sich ge- rade noch zufrieden ist, aber im allgemeinen ist ihm aus irgend einem universalen Grund in seiner Haut nicht wohl, und es scheint, daß die Parallelaktion dazu bestimmt ist, das an den Tag zu bringen.« »Du lieber Gott,« antwortete Se. Erlaucht auf diese Ausführun- gen, ohne daß recht klar wurde, was er damit meine »nichts als Undankbarkeit!« »Ich habe übrigens« fuhr Ulrich fort »schon zwei Mappen voll schriftlicher Anträge allgemeiner Natur, die Ew. Erlaucht zurück- zustellen ich noch nicht Gelegenheit fand. Ich habe eine davon mit der Überschrift »Zurück zu . . .!' versehen. Merkwürdig viele Men- schen teilen uns nämlich mit, daß die Welt in früheren Zeiten auf einem besseren Punkt gewesen sei als jetzt, zu dem sie die Par- allelaktion bloß zurückzuführen brauchte. Wenn ich von dem selbst- verständlichen Verlangen Zurück zum Glauben absehe, so ist noch ein Zurück zum Barock, zur Gotik, zum Naturzustand, zu Goethe vertreten, zum deutschen Recht, zur Sittenreinheit und etliches andere.« »Hm ja; aber vielleicht ist ein wahrer Gedanke darunter, und man sollte ihn nicht entmutigen?« meinte Graf Leinsdorf. »Das wäre möglich; aber wie soll man antworten? Ihr Geschätz- tes vom Soundsovielten reiflich erwogen, halten wir derzeit den Zeitpunkt noch nicht geeignet . . . ? Oder: Mit Interesse gelesen, bitten wir Sie um detaillierte Bekanntgabe Ihrer Wünsche für Wie- dereinrichtung der Welt in Barock, Gotik, und so weiter?« Ulrich lächelte, aber Graf Leinsdorf fand, daß er in diesem Augenblick ein wenig zu heiter sei, und drehte abwehrend, mit gesammelter Kraft einen Daumen um den anderen. Sein Gesicht mit dem Knebelbart erinnerte, in der Härte, die es annahm, an die Zeit Wallensteins, und dann tat er eine Äußerung, die sehr be- merkenswert war. »Lieber Doktor,« sagte er »in der Geschichte der Menschheit gibt es kein freiwilliges Zurück!« Diese Äußerung überraschte vor allen Dingen Graf Leinsdorf selbst, denn er hatte eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen. Er war konservativ, ärgerte sich über Ulrich und hatte bemerken wol- len, daß das Bürgertum den universalen Geist der katholischen Kirche verschmäht habe und nun an den Folgen leide. Auch wäre es nahegelegen, die Zeiten des absoluten Zentralismus zu preisen, wo die Welt noch von verantwortungsbewußten Personen nach ein- heitlichen Gesichtspunkten geleitet worden ist. Aber mit einemmal war ihm, während er noch nach Worten suchte, eingefallen, daß er wirklich unangenehm überrascht sein würde, wenn er eines Mor- gens ohne warmes Bad und Eisenbahn aufwachen müßte und statt der Morgenblätter bloß ein kaiserlicher Ausrufer durch die Straßen ritte. Graf Leinsdorf dachte also »Was einmal war, wird niemals wieder in der gleichen Weise sein«, und während er das dachte, war er sehr erstaunt. Denn angenommen, daß es in der Geschichte kein freiwilliges Zurück gebe, so glich die Menschheit einem Mann, den ein unheimlicher Wandertrieb vorwärtsführt, für den es keine Rückkehr gibt und kein Erreichen, und das war ein sehr bemerkens- werter Zustand. Nun besaß zwar Se. Erlaucht eine außerordentliche Fähigkeit, zwei Gedanken, die einander widersprechen konnten, mit glück- licher Hand so auseinander zu halten, daß sie in seinem Bewußtsein nie zusammentrafen, aber diesen Gedanken, der gegen alle seine Grundsätze gerichtet war* hätte er ablehnen müssen. Allein er hatte -240- eine gewisse Neigung für Ulrich gefaßt, und soweit ihm seine Pflichten Zeit ließen, bereitete es ihm großes Vergnügen, diesem geistig regsamen und ihm so gut empfohlenen Mann, der bloß als Bürgerlicher ein wenig abseits von den wirklich großen Fragen stand, politische Gegenstände streng logisch zu erklären. Wenn man aber einmal mit Logik beginnt, wo ein Gedanke von selbst aus dem vorangehenden folgt, weiß man zum Schluß nie, wie das endet. Graf Leinsdorf nahm darum seine Äuße- rung nicht zurück, sondern sah Ulrich bloß eindringlich schwei- gend an. Ulrich nahm noch eine zweite Mappe zur Hand und benützte die Pause, um beide Mappen Sr. Erlaucht zu übergeben. »Der zweiten habe ich die Überschrift , Vorwärts zu . . . !' geben müssen« begann er zu erläutern, aber Se. Erlaucht fuhr auf und fand, daß seine Zeit schon abgelaufen sei. Er bat dringend, die Fortsetzung für ein an- dermal zu lassen, wenn mehr Zeit zum Nachdenken bleibe. »Ihre Kusine wird übrigens eine Gesellschaft der bedeutendsten Köpfe für diese Zwecke einladen« erzählte er, schon im Stehen. »Gehn Sie hin; gehen Sie, bitte, gewiß hin; ich weiß nicht, ob es mir selbst erlaubt sein wird, dabei zu sein!« Ulrich packte die Mappen ein, und Graf Leinsdorf kehrte sich im Dunkel des Türrahmens noch einmal um. »Ein großer Versuch macht natürlich alle Leute verzagt; aber wir werden sie schon auf- rütteln!« Sein Pflichtgefühl ließ es nicht zu, Ulrich ohne Trost zu- rückzulassen. 59 Moosbrugger denkt nach Inzwischen hatte sich Moosbrugger in seinem neuen Gefängnis eingerichtet, so gut es ging. Kaum hatte sich das Tor geschlos- sen, so war er angebrüllt worden. Man hatte ihm, als er auf- begehrte, mit Prügeln gedroht, wenn er sich recht erinnerte. Man hatte ihn in eine Einzelzelle gesteckt. Beim Spaziergang im Hof waren seine Hände gefesselt, und die Augen der Wärter hin- gen an ihm. Er war geschoren worden, ungeachtet seine Verurtei- lung noch nicht rechtskräftig war, angeblich, um ihn zu messen. Man hatte ihn mit einer stinkenden Schmierseife abgerieben, unter dem Vorwand einer Desinfektion. Er war ein alter Reisender, er wußte, daß nichts von alledem erlaubt war, aber hinter dem Eisen- tor ist es nicht einfach, in Ehren zu bestehn. Sie machten mit ihm, was sie wollten. Er ließ sich dem Gefangenhausleiter vorführen und 16 Musil, Mann _ 24 1 — beschwerte sich. Der Vorstand mußte zugeben, daß einiges nicht der Vorschrift entspreche, aber es sei keine Strafe, sagte er, sondern Vorsicht. Moosbrugger beklagte sich bei dem Anstaltsgeistlichen; aber der war ein guter Greis, dessen freundliche Seelsorge die ver- altete Schwäche hatte, daß sie vor Sexualverbrechen versagte. Er verabscheute sie mit dem Unverständnis eines Körpers, der nicht einmal ihren Rand gestreift hat, und erschrak sogar darüber, daß Moosbrugger mit seinem ehrlichen Aussehen die Schwäche des per- sönlichen Mitleids in ihm erregte; er wies ihn an den Anstaltsarzt, während er selbst, wie in allen solchen Fällen, nur eine große Bitte zum Schöpfer sandte, die auf keine Einzelheiten einging und so allgemein von Verwirrungen des Irdischen sprach, daß im Augen- blick des Gebets Moosbrugger ebenso inbegriffen war wie die Freidenker und Atheisten. Der Gefängnisarzt aber meinte zu Moos- brugger, alles, worüber er sich beklage, sei doch gar nicht so schlimm, gab ihm einen behaglichen Klaps und ließ sich durch nichts be- wegen, auf seine Beschwerden einzugehn, denn wenn Moosbrugger recht verstand, sei das überflüssig, solang die Frage, ob er krank sei oder simuliere, keine Antwort durch die Fakultät gefunden habe. Ergrimmt ahnte Moosbrugger, daß jeder von denen sprach, wie es ihm paßte, und daß es dieses Sprechen war, was ihnen die Kraft gab, mit ihm umzugehn, wie sie wollten. Er hatte das Gefühl einfacher Leute, daß man den Gebildeten die Zunge abschneiden sollte. Er blickte in das Doktorsgesicht mit den Schmissen, in das von innen ausgetrocknete geistliche Gesicht, in das streng aufgeräumte Kanzleigesicht des Verwalters, sah jedes in einer anderen Weise in das seine schaun, und etwas für ihn Unerreichbares, aber ihnen Gemeinsames lag in diesen Gesichtern, das lebenslang sein Feind gewesen war. Die zusammenziehende Kraft, die draußen jeden Menschen mit seinem Eigendünkel mühsam zwischen all das andere Fleisch preßt, war unter dem Dach des Strafhauses, trotz aller Disziplin um ein weniges schlaffer, wo alles auf Warten lebte und die lebendige Beziehung der Menschen zueinander, selbst wenn sie grob und hef- tig war, von einem Schatten der Unwirklichkeit ausgehöhlt wurde. Moosbrugger reagierte auf die Entspannung nach dem Kampf der Verhandlungen mit dem gesamten starken Körper. Er kam sich vor wie ein lockerer Zahn. Die Haut juckte ihn. Er fühlte sich ange- steckt und elend. Es war eine wehleidige, zart nervöse Oberemp- findlichkeit, wie sie ihn manchmal befiel; die Frau, die unter der Erde lag und ihm das eingebrockt hatte, erschien ihm als ein derbes böses Weibsstück gegenüber einem Kind, wenn er sie mit sich ver- glich. Trotzdem war Moosbrugger im ganzen nicht unzufrieden; er konnte an vielem bemerken, daß er hier eine wichtige Person sei, -242- und das schmeichelte ihm. Sogar die Fürsorge, die allen Sträflingen unterschiedslos zuteil wurde, bereitete ihm Genugtuung, Der Staat mußte sie nähren, baden, kleiden und sich um ihre Arbeit, Gesund- heit, ihre Bücher und ihren Gesang kümmern, seit sie sich etwas hat- ten zuschulden kommen lassen, während er das vordem niemals ge- tan hatte. Moosbrugger genoß die Achtsamkeit, wenn sie auch streng war, wie ein Kind, dem es gelungen ist, seine Mutter zu zwingen, sich zornig mit ihm zu beschäftigen; aber er wünschte nicht, daß sie lange dauere; die Vorstellung, daß er zu lebenslänglichem Zucht- haus begnadigt oder wieder einer Irrenanstalt übergeben werden könnte, erregte jenen Widerstand in ihm, den wir fühlen, wenn uns alle Anstrengungen, unserem Leben zu entkommen, immer wieder in die gleichen, verhaßten Lebenslagen zurückführen. Er wußte, daß sein Verteidiger sich um die Wiederaufnahme des Ver- fahrens bemühte und daß er noch einmal untersucht werden sollte, aber er nahm sich vor, rechtzeitig dagegen aufzutreten und darauf zu bestehen, daß man ihn töte. Daß sein Abschied seiner würdig sein müsse, stand für ihn fest, denn sein Leben war ein Kampf um sein Recht gewesen. In der Einzelzelle dachte Moosbrugger darüber nach, was sein Recht sei. Das konnte er nicht sagen. Aber es war das, was man ihm sein Leben lang vorenthalten hatte. In dem Augenblick, wo er daran dachte, schwoll sein Gefühl an. Seine Zunge wölbte sich und setzte zu einer Bewegung an wie ein Hengst im spanischen Schritt; so vornehm wollte sie es betonen. »Recht,« dachte er außerordentlich langsam, um diesen Begriff zu bestimmen, und dachte so, als ob er mit jemand spräche, »das ist, wenn man nicht unrecht tut oder so, nicht wahr?« — und plötzlich fiel ihm ein: »Recht ist Jus.« So war es; sein Recht war sein Jus! Er sah sein Holzlager an, um sich dar- auf zu setzen, drehte sich umständlich um, rückte vergebens an dei am Boden festgeschraubten Pritsche und ließ sich zögernd nieder. Sein Jus hatte man ihm vorenthalten! Er erinnerte sich an die Mei- sterin, die er mit sechzehn Jahren hatte. Er hatte geträumt, daß ihn etwas Kaltes am Bauch anblase, dann war es in seinem Leib ver- schwunden, er hatte geschrien, war aus dem Bett gefallen, und am nächsten Morgen hatte er sich am ganzen Körper zerschlagen ge- fühlt Nun hatten ihm aber andere Lehrburschen einmal gesagt, wenn man einer Frau die Faust so zeige, daß der Daumen zwischen dem Mittel- und dem Zeigefinger ein wenig hervorschaut, so könne sie nicht widerstehn. Es war ihm wirr zumut; sie wollten es alle schon erprobt haben, aber wenn er daran dachte, so ging der Boden unter den Füßen fort oder sein Kopf fing an, anders am Hals zu sitzen, als er es gewohnt war, kurz es ging etwas mit ihm vo* , das um Haaresbreite von der natürlichen Ordnung abrückte und nicht -243- ganz sicher war. »Meisterin,« sagte er »ich möchte Ihnen etwas Lie- bes tun . . .« Sie waren allein, da sah sie ihm in die Augen, mußte darin etwas gelesen haben und erwiderte: »Scher dich nur aus der Küche!« Darauf hielt er ihr die Faust mit dem hindurchgesteckten Daumen entgegen. Der Zauber wirkte aber nur halb; die Meisterin wurde blutrot und schlug ihn so schnell, daß er nicht davonkom- men konnte, mit dem Holzlöffel, den sie in der Hand hielt, über das Gesicht; er begriff es erst, als ihm das Blut über die Lippen zu rinnen begann. Aber an diesen Augenblick erinnerte er sich nun genau, denn das Blut kehrte mit einemmal um, floß aufwärts und stieg über die Augen hinaus; er stürzte sich auf das mächtige Frauenzimmer, das ihn so schändlich beleidigt hatte, der Meister kam herbei, und was von da an geschah, bis zu dem Augenblick, wo er mit wankenden Beinen auf der Straße stand und seine Sachen ihm nachgeworfen wurden, war, als ob man ein großes rotes Tuch in Fetzen risse. So hatte man sein Jus verhöhnt und geschlagen, und er begann wieder zu wandern. Findet man das Jus auf der Straße?! Alle Weiber waren schon das Jus von irgendwem, und alle Äpfel und Schlaf statten; und die Gendarmen und Bezirksrichter waren schlimmer als die Hunde. Aber was das eigentlich war, woran ihn die Leute immer zu pak- ken bekamen und weshalb sie ihn in die Gefängnisse und Irren- anstalten warfen, das konnte Moosbrugger niemals recht heraus- kriegen. Er stierte lange zu Boden und angestrengt in die Ecken seiner Zelle; ihm war zumute wie jemand, dem ein Schlüssel auf die Erde gefallen ist. Aber er konnte ihn nicht finden; der Boden und die Ecken wurden wieder taghell grau und nüchtern, nachdem sie soeben noch wie ein Traumboden gewesen waren, wo plötzlich ein Ding oder ein Mensch aufwächst, wenn ein Wort hinfällt. Moos- brugger nahm seine ganze Logik zusammen. Genau zu erinnern vermochte er sich nur an alle Orte, wo das begann. Er hätte sie auf- zuzählen und zu beschreiben vermögen. Einmal war es in Linz und ein andermal in Braila gewesen. Jahre lagen dazwischen. Und zu- letzt hier in der Stadt. Er sah jeden Stein vor sich. So deutlich, wie Steine es gewöhnlich gar nicht sind. Er erinnerte sich auch an die schlechte Laune, die das jedesmal begleitete. Als ob er Gift statt Blut in den Adern hätte, konnte man sagen, oder so ähnlich. Er arbeitete zum Beispiel im Freien, und Frauen gingen vorbei; er mochte sie nicht ansehen, weil sie ihn störten, aber immerzu gingen neue vorbei; da folgten ihnen dann schließlich seine Augen mit Abscheu, und das war wieder so, dieses langsame Hin- und Her- drehen der Augen, wie wenn sie innen in Pech oder erstarrendem Zement rühren würden. Dann merkte er, daß sein Denken anfing schwer zu werden. Er dachte ohnehin langsam, die Worte bereite- -244- ten ihm Mühe, er hatte nie genug Worte, und zuweilen, wenn er mit jemand sprach, kam es vor, daß der ihn plötzlich erstaunt an- sah und nicht begriff, wieviel ein einzelnes Wort sagte, wenn Moos- brugger es langsam hervorbrachte. Er beneidete alle Menschen, die schon in der Jugend gelernt hatten, leicht zu sprechen; ihm klebten die Worte zu Trotz gerade in den Zeiten, wo er sie am dringend- sten brauchte, wie Gummi am Gaumen fest, und es verging dann manchmal eine unermeßliche Weile, ehe er eine Silbe losriß und wieder vorwärtskam. Die Erklärung war nicht abzuweisen, daß das schon keine natürliche Ursache mehr habe. Wenn er aber bei Ge- richt sagte, es seien die Freimaurer oder die Jesuiten oder die Sozia- listen, die ihn auf diese Weise verfolgten, so verstand ihn kein Mensch. Die Juristen konnten zwar besser reden als er und hielten ihm alles mögliche entgegen, aber von den wirklichen Zusammen- hängen hatten sie keine Ahnung. Und wenn das einige Zeit gedauert hatte, so bekam Moosbrugger Angst. Versuche einer, sich mit gefesselten Händen auf die Straße zu stellen und abzuwarten, wie sich die Leute benehmen! Das Be- wußtsein, daß seine Zunge oder etwas, das noch weiter drinnen in ihm sich befand, wie mit Leim gefesselt sei, bereitete ihm eine kläg- liche Unsicherheit, die zu verbergen er sich tagelang Mühe geben mußte. Aber dann kam plötzlich eine scharfe, man könnte fast auch sagen lautlose Grenze. Mit einemmal war ein kalter Hauch da. Oder in der Luft tauchte ganz nah vor ihm eine große Kugel auf und flog in seine Brust. Und im gleichen Augenblick fühlte er etwas an sich, in seinen Augen, auf den Lippen oder in den Gesichts- muskeln; in die ganze Umgebung kam ein Schwinden, ein Schwär- zen, und während sich die Häuser auf die Bäume legten, huschten aus dem Gebüsch vielleicht ein paar rasch davonspringende Katzen hervor. Es dauerte nur eine Sekunde, und dann war dieser Zustand vorbei. Und damit begann eigentlich erst die Zeit, von der sie alle etwas erfahren wollten und immerzu redeten. Sie machten ihm die un- nützesten Einwände, und leider konnte er sich selbst an seine Er- lebnisse nur unscharf und dem Sinn nach erinnern. Denn diese Zeiten waren ganz Sinn! Sie dauerten manchmal Minuten, manch- mal hielten sie aber auch tagelang an, und manchmal gingen sie in andere, ähnliche über, die monatelang dauern konnten. Um mit diesen zu beginnen, weil sie die einfacheren sind, die auch ein Rich- ter nach Moosbruggers Meinung begreifen konnte, so hörte er dann Stimmen oder Musik oder ein Wehen und Summen, auch Sausen und Rasseln oder Schießen, Donnern, Lachen, Rufen, Sprechen und Flüstern. Das kam von überall her; es saß in den Wänden, in der Luft, in den Kleidern und in seinem Körper. Er hatte den Eindruck, -245- daß er es im Körper mit sich trage, solange es schwieg; und sobald es ausgekommen war, verbarg es sich in der Umgebung, aber auch nie sehr weit von ihm. Wenn er arbeitete» so sprachen die Stimmen meist in abgerissenen Worten und kurzen Sätzen auf ihn ein, sie beschimpften und kritisierten ihn, und wenn er etwas dachte, so sprachen sie es aus, ehe er selbst dazu kam, oder sagten boshaft das Gegenteil von dem, was er wollte. Moosbrugger konnte nur dar- über lachen, daß man ihn deshalb für krank erklären wollte; er selbst behandelte diese Stimmen und Gesichte nicht anders wie die Affen. Es unterhielt ihn, zu hören und zu sehen, was sie trieben; das war unvergleichlich schöner als die zähen, schweren Gedanken, die er selbst hatte; wenn sie ihn aber sehr ärgerten, so geriet er in Zorn, das war schließlich nur natürlich. Da er auf alle Worte, die man für ihn verwendete, stets sehr gut aufgepaßt hatte, wußte Moosbrugger, daß man das Halluzinieren nennt, und war einver- standen damit, daß er diese Eigenschaft Halluzinieren vor anderen voraus habe, die es nicht können; denn er sah auch vieles, was andere nicht sehen, schöne Landschaften und höllische Tiere, aber er fand die Wichtigkeit, die man dem beilegte, sehr übertrieben, und wenn ihm der Aufenthalt in den Irrenanstalten zu unange- nehm wurde, so behauptete er ohne weiteres, daß er nur schwindle. Die Klugköpfe fragten ihn, wie laut es sei; diese Frage hatte wenig Vernunft: natürlich war es manchmal so laut wie ein Donnerschlag, was er hörte, und manchmal war es das leiseste Flüstern. Auch die Schmerzen, die ihn zuweilen quälten, konnten unerträglich sein oder bloß so leicht wie eine Einbildung. Das war nicht das Wichtige. Oft hätte er nicht genau beschreiben können, was er sah, hörte und spürte; dennoch wußte er, was es war. Es war manchmal sehr undeutlich; die Gesischte kamen von außen, aber ein Schimmer von Beobachtung sagte ihm zugleich, daß sie trotz- dem von ihm selbst kämen. Das Wichtige war, daß es gar nichts Wichtiges bedeutet, ob etwas draußen ist oder innen; in seinem Zustand war das wie helles Wasser zu beiden Seiten einer durch- sichtigen Glaswand. Und in seinen großen Zeiten beachtete Moosbrugger gar nicht die Stimmen und Gesichte, sondern er dachte. Er nannte das so, weil ihm dieses Wort immer Eindruck gemacht hatte. Er dachte besser als andere, denn er dachte außen und innen. Es wurde gegen seinen Willen in ihm gedacht. Er sagte, Gedanken würden ihm gemacht. Und ohne daß er seine langsame männliche Bedächtigkeit verlor, erregten ihn auch die geringsten Nebensachen, wie es einer Frau geschieht, wenn ihr die Milch in den Brüsten steht. Sein Den- ken floß dann wie ein von Hunderten springender Bäche getränkter Bach durch eine fette Wiese. Moosbrugger hatte nun den Kopf -246- sinken lassen und sah auf das Holz zwischen seinen Fingern. »Da sagen hier die Leute zu einem Eichhörnchen Eichkatzl« fiel ihm ein; »aber es sollte bloß einmal einer versuchen, mit dem richtigen Ernst auf der Zunge und im Gesicht ,Die Eichenkatze' zu sagen! Alle würden aufschaun, wie wenn mitten im furzenden Plänklerfeuer eines Manöverangriffs ein scharfer Schuß fällt! In Hessen sagen sie dagegen Baumfuchs. Ein weitgewanderter Mensch weiß so et- was.« Und da taten die Psychiater wunder wie neugierig, wenn sie Moosbrugger das gemalte Bild eines Eichhörnchens zeigten, und er darauf antwortete: »Das ist halt ein Fuchs oder vielleicht ist es ein Hase; es kann auch eine Katz sein oder so.« Sie fragten ihn dann jedesmal recht schnell: »Wieviel ist vierzehn mehr vierzehn?« Und er antwortete ihnen bedächtig: »So ungefähr achtundzwanzig bis vierzig.« Dieses »Ungefähr« bereitete ihnen Schwierigkeiten, über die Moosbrugger schmunzelte. Denn es ist ganz einfach; er weiß auch, daß man bei achtundzwanzig anlangt, wenn man von der Vierzehn um vierzehn weitergeht, aber wer sagt denn, daß man dort stehen bleiben muß?! Moosbruggers Blick schweift noch um ein Stück weiter, wie der eines Mannes, der einen in den Himmel gezeichneten Hügelkamm erreicht hat und nun sieht, daß es ähn- liche Hügelkämme dahinter noch mehrere gibt. Und wenn ein Eich- katzl keine Katze ist und kein Fuchs und statt eines Horns Zähne hat wie der Hase, den der Fuchs frißt, so braucht man die Sache nicht so genau zu nehmen, aber sie ist in irgend einer Weise aus alledem zusammengenäht und läuft über die Bäume. Nach Moos- bruggers Erfahrung und Überzeugung konnte man kein Ding für sich herausgreifen, weil eins am anderen hing. Und es war in seinem Leben auch schon vorgekommen, daß er zu einem Mädchen sagte: »Ihr lieber Rosenmund!«, aber plötzlich ließ das Wort in den Nähten nach, und es entstand etwas sehr Peinliches: das Gesicht wurde grau, ähnlich wie Erde, über der Nebel liegt, und auf einem langen Stamm stand eine Rose her- vor; dann war die Versuchung, ein Messer zu nehmen und sie abzuschneiden oder ihr einen Schlag zu versetzen, damit sie sich wieder ins Gesicht zurückziehe, ungeheuer groß. Gewiß, Moos- brugger nahm nicht immer gleich das Messer; er tat das nur, wenn er nicht mehr anders fertig wurde. Gewöhnlich wen- dete er eben seine ganze Riesenkraft an, um die Welt zu- sammenzuhalten. Er konnte bei guter Laune einem Mann ins Gesicht schauen und bemerkte darin sein eigenes Gesicht, wie es zwischen Fischchen und hellen Steinen aus einem seichten Bach zurückblickt; in schlechter Laune brauchte er aber nur flüchtig das Gesicht eines Mannes zu prüfen und erkannte, daß es derselbe Mann war, mit dem er noch -247- überall Streit bekommen hatte, wie sehr sich der auch jedesmal anders verstellte. Was will man ihm einwenden?! Wir alle haben fast immer mit dem gleichen Mann Streit. Wenn man untersuchen würde, wer die Menschen sind, an denen wir so unsinnig hängen bleiben, so müßte sich zeigen, es ist der Mann mit dem Schlüssel- bart, zu dem wir das Schloß haben. Und in der Liebe? Wieviel Menschen sehen tagaus, tagein in das gleiche geliebte Gesicht, aber wissen, wenn sie die Augen schließen, nicht zu sagen, wie es aus- sieht. Oder auch ohne Liebe und Haß: welchen Veränderungen sind die Dinge unaufhörlich je nach Gewohnheit, Laune und Standpunkt ausgesetzt! Wie oft brennt Freude ab, und es kommt ein unzerstörbarer Kern von Trauer hervor?! Wie oft schlägt ein Mensch gleichmütig auf einen anderen ein, aber konnte ihn ebenso in Ruhe lassen. Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge. Moosbrugger stand immer mit den Beinen auf zwei Schollen und hielt sie zusammen, ver- nünftig bemüht, alles zu vermeiden, was ihn verwirren konnte; aber manchmal brach ihm ein Wort im Munde auf, und welche Revolution und welcher Traum der Dinge quoll dann aus so einem erkalteten, ausgeglühten Doppelwort wie Eich- kätzchen oder Rosenlippe! Wie er da auf seiner Bank in der Zelle saß, die zugleich sein Bett und sein Tisch wai, beklagte er seine Erziehung, die ihn nicht ge- lehrt hatte, seine Erfahrungen so auszudrücken, wie es sein müßte. Die kleine Person mit den Mausaugen, die ihm noch jetzt, wo sie schon lang unter der Erde lag, soviel Unannehmlichkeiten bereitete, ärgerte ihn. Alle waren auf ihrer Seite. Er stand schwerfällig auf. Er fühlte sich morsch wie verkohltes Holz. Er hatte wieder Hunger; die Anstaltskost war zu gering für den gewaltigen Mann, und er besaß kein Geld, um sie zu verbessern. In einem solchen Zustand konnte er sich unmöglich auf alles besinnen, was man von ihm wis- sen wollte. Es war eben so eine Veränderung gekommen, tagelang, wochenlang, wie der März kommt oder der April, und obenauf war dann die Geschichte geschehn. Er wußte auch nicht mehr von ihr, als im Polizeiprotokoll stand, und wußte nicht einmal, wie das dort hineingekommen war. Die Gründe, die Überlegungen, an die er sich erinnerte, die hatte er ohnedies schon in der Verhandlung ge- sagt; aber was wirklich geschehen war, das kam ihm so vor, als ob er plötzlich fließend etwas in einer fremden Sprache gesprochen hätte, das ihn sehr glücklich gemacht hatte, das er aber nicht mehr wiederholen konnte. »Soll das alles nur so bald wie möglich ein Ende nehmen!« dachte Moosbrugger. -248- 60 Ausflug ins logisch-sittliche Reich Was über Moosbrugger von Rechts wegen zu sagen war, das hätte man in einem Satz vorbringen können. Moosbrugger war einer jener Grenzfälle, die aus der Jurisprudenz und Gerichts- medizin auch den Laien als die Fälle der verminderten Zurech- nungsfähigkeit bekannt sind. Bezeichnend für diese Unglücklichen ist es, daß sie nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit haben. Die Natur hat eine merkwürdige Vorliebe dafür, solche Personen in Hülle und Fülle hervorzubringen; natura non fecit saltus, sie macht keinen Sprung, sie liebt die Übergänge und hält auch im großen die Welt in einem Ubergangszustand zwischen Schwachsinn und Gesundheit. Aber die Jurisprudenz nimmt nicht Notiz davon. Sie sagt: non datur tertium sive medium inter duo contradictoria, zu deutsch: der Mensch ist entweder imstande, rechtswidrig zu handeln, oder er ist es nicht, denn zwischen zwei Gegensätzen gibt es nichts Drittes und Mittleres. Durch diese Fähig- keit wird er strafbar, durch diese seine Eigenschaft der Strafbarkeit wird er Rechtsperson, und als Rechtsperson hat er teil an der über- persönlichen Wohltat des Rechts. Wer das nicht gleich versteht, der denke an die Kavallerie. Wenn ein Pferd sich bei jedem Versuch, es zu reiten, wie toll benimmt, so wird es mit besonderer Sorgfalt gewartet, bekommt die weichsten Bandagen, die besten Reiter, das ausgewählteste Futter und die geduldigste Behandlung. Wenn sich dagegen ein Reiter etwas zuschulden kommen läßt, so steckt man ihn in einen von Flöhen besetzten Käfig, entzieht ihm das Essen und gibt ihm Eisenschellen. Die Begründung dieses Unterschieds liegt darin, daß das Pferd bloß dem tierisch empirischen Reich angehört, wahrend der Dragoner an dem logisch-sittlichen teilhat. In diesem Sinne zeichnet es den Menschen vor dem Tiere, und man darf hin- zufügen, auch vor dem Geisteskranken aus, daß er nach seinen gei- stigen und sittlichen Eigenschaften imstande ist, rechtswidrig zu handeln und ein Verbrechen zu begehn; und da also erst die Straf- barkeit jene Eigenschaft ist, die ihn zum sittlichen Menschen erhebt, wird es verständlich, daß der Jurist eisern an ihr festhalten muß. Leider tritt noch hinzu, daß die Gerichtspsychiater, die berufen wären, sich dem entgegenzusetzen, gewöhnlich viel ängstlicher in ihrem Beruf sind als die Juristen; sie erklären nur solche Personen für wirklich krank, die sie nicht heilen können, was eine bescheidene Übertreibung ist, denn sie können die anderen auch nicht heilen. Sie unterscheiden zwischen unheilbaren Geisteskrankheiten, zwi- -249- sehen solchen, die mit Gottes Hilfe nach einiger Zeit von selbst bes- ser werden, und endlich solchen, die der Arzt zwar auch nicht heilen kann, wohl aber der Patient vermeiden könnte, vorausgesetzt na- türlich, daß durch höhere Fügung rechtzeitig die richtigen Einflüsse und Überlegungen auf ihn einwirken. Diese zweite und dritte Gruppe liefert jene nur minderwertigen Kranken, die der Engel der Medizin zwar als Kranke behandelt, wenn sie zu ihm in die Privatpraxis kommen, die er aber schüchtern dem Engel des Rechts überläßt, wenn er mit ihnen in der Gerichtspraxis zusammenstößt. Ein solcher Fall war Moosbrugger. Man hatte ihn während sei- nes von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbro- chenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epilep- tiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhand- lung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben. Natürlich befand sich damals in dem großen, menschenerfüllten Saal keine einzige Person, sie inbegriffen, die nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß Moosbrugger in irgend- einer Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Ge- setz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Ge- hirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurech- nungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen be- stimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren. Zwar schließt das nicht aus, daß es Personen gibt, deren Zustände und Anlagen es ihnen erschweren, »unsittlichen Antrieben« zu wi- derstehn und den »Ausschlag zum Guten« zu finden, wie die Ju- risten das nennen, und eine solche Person, in der Umstände, die einen anderen noch gar nicht berühren, schon den »Entschluß« zu einer Straftat hervorrufen, war Moosbrugger. Aber erstens waren seine Geistes- und Verstandeskräfte nach Ansicht des Gerichts so- weit unbeschädigt daß bei ihrer Anwendung die Tat ebensogut unausgeführt hätte bleiben können, und es bestand sonach kein Grund, ihn von dem sittlichen Gut der Verantwortung auszuschlie- ßen. Zweitens fordert es eine geordnete Rechtspflege, daß jede schuldige Handlung bestraft wird, wenn sie mit Wissen und Wil- len vollendet wurde. Und drittens nimmt die juristische Logik an, daß in allen Geisteskranken — mit Ausnahme jener ganz unglück- lichen, welche die Zunge herausstrecken, wenn man sie fragt, wie- -250- viel sieben mal sieben ist, oder »Ich« sagen, wenn sie den Namen Sr. Kaiser- und Königlichen Majestät angeben sollen — ein Mini- mum von Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit noch vorhanden sei, und es hätte bloß einer besonderen Anspannung der Intelligenz und Willenskraft bedurft, um den verbrecherischen Charakter der Tat zu erkennen und den verbrecherischen Antrieben zu widerstehn. Das ist aber wohl das mindeste, was man von so ge- fährlichen Personen verlangen darf. Gerichtshöfe gleichen Kellern, in denen die Weisheit der Vor- vordern in Flaschen liegt; man öffnet diese und möchte darüber weinen, wie ungenießbar der höchste, ausgegorenste Grad mensch- licher Genauigkeitsanstrengung wird, ehe er vollkommen ist. Den- noch scheint er unabgehärtete Personen zu berauschen. Es ist eine bekannte Erscheinung, daß der Engel der Medizin, wenn er län- gere Zeit den Ausführungen der Juristen zugehört hat, sehr oft seine eigene Sendung vergißt Er schlägt dann klirrend die Flügel zusammen und benimmt sich im Gerichtssaal wie ein Reserveengel der Jurisprudenz. 61 Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens Auf diese Weise war Moosbrugger zu seinem Todesurteil ge- kommen und verdankte es nur dem Einfluß des Grafen Leinsdorf und dessen freundlicher Gesinnung für Ulrich, daß Aussicht be- stand, sein Geisteszustand werde noch einmal geprüft werden. Ulrich hatte jedoch damals keineswegs die Absicht, für Moosbrug- gers Schicksal auch im weiteren Verlauf zu sorgen. Die entmutigende Mischung von Grausamkeit und Erleiden, die das Wesen solcher Menschen ist, war ihm ebenso unangenehm wie die Mischung von Genauigkeit und Fahrlässigkeit, die das Merkmal der Urteile bil- det, die man über sie zu fällen pflegt. Er wußte genau, was er von ihm zu denken hatte, wenn er den Fall nüchtern ansah, und welche Maßnahmen man mit solchen Menschen versuchen könnte, die we- der ins Gefängnis noch in die Freiheit gehören und für die auch die Irrenanstalten nicht ausreichen. Es war ihm aber ebenso gegenwär- tig, daß Tausende anderer Menschen das auch wußten, daß von ihnen jede solche Frage unablässig erörtert und nach den Seiten ge- wendet wird, an denen sie besonderen Anteil nehmen, und daß der Staat schließlich Moosbrugger umbringen wird, weil das in ei- nem solchen Zustand der Unfertigkeit einfach das Klarste, Billig- -251- ste und Sicherste ist. Es mag ein rohes Verhalten sein, sich damit abzufinden, aber auch die schnellen Verkehrsmittel fordern mehr Opfer als alle Tiger Indiens, und offenbar befähigt uns die rück- sichtslose, gewissenlose und fahrlässige Gesinnung, in der wir das ertragen, auf der anderen Seite zu den Erfolgen, die uns nicht ab- zusprechen sind. Ihren bedeutendsten Ausdruck gewinnt diese Geistesverfassung, die für das Nächste so scharfsichtig und für das Ganze so blind ist, in einem Ideal, das man das Ideal eines Lebenswerks nennen könnte, das aus nicht mehr als drei Abhandlungen besteht. Es gibt geistige Tätigkeiten, wo nicht die großen Bücher, sondern die klei- nen Abhandlungen den Stolz eines Mannes ausmachen. Wenn je- mand beispielsweise entdeckte, daß die Steine unter bisher noch nicht beobachteten Umständen zu sprechen vermögen, er würde nur wenige Seiten zur Darstellung und Erklärung einer so umwäl- zenden Erscheinung brauchen. Über die gute Gesinnung dagegen kann man immer wieder ein Buch schreiben, und das ist durchaus nicht bloß eine gelehrte Angelegenheit, denn es bedeutet eine Me- thode, bei der man mit den wichtigsten Lebensfragen niemals ins klare kommt. Man könnte die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte einteilen, die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt. Alle Erkennt- nisse, durch die unsere Gattung von der Fellkleidung zum Men- schenflug geführt worden ist, würden samt ihren Beweisen in fer- tigem Zustand nicht mehr als eine Handbibliothek füllen; wogegen ein Bücherschrank von der Größe der Erde beiweitem nicht genügen möchte, um alles übrige aufzunehmen, ganz abgesehen von der sehr umfangreichen Diskussion, die nicht mit der Feder, sondern mit Schwert und Ketten geführt worden ist. Der Gedanke liegt nahe, daß wir unser menschliches Geschäft äußerst unrationell betreiben, wenn wir es nicht nach der Art der Wissenschaften anfassen, die in ihrer Weise so beispielgebend vorangegangen sind. Das ist auch wirklich die Stimmung und Bereitschaft eines Zeit- alters — einer Anzahl von Jahren, kaum von Jahrzehnten — ge- wesen, von der Ulrich noch etwas miterlebt hatte. Man dachte da- mals daran — aber dieses »man« ist mit Willen eine ungenaue Angabe; man könnte nicht sagen, wer und wieviele so dachten, immerhin, es lag in der Luft — , daß man vielleicht exakt leben könnte. Man wird heute fragen, was das heiße? Die Antwort wäre wohl die, daß man sich ein Lebenswerk ebensogut wie aus drei Ab- handlungen auch aus drei Gedichten oder Handlungen bestehend denken kann, in denen die persönliche Leistungsfähigkeit auf das Äußerste gesteigert ist. Es hieße also ungefähr soviel wie schwei- gen, wo man nichts zu sagen hat; nur das Nötige tun, wo man nichts -252- Besonderes zu bestellen hat; und was das Wichtigste ist, gefühllos bleiben, wo man nicht das unbeschreibliche Gefühl hat, die Arme auszubreiten und von einer Welle der Schöpfung gehoben zu wer- den ! Man wird bemerken, daß damit der größere Teil unseres see- lischen Lebens aufhören müßte, aber das wäre ja vielleicht auch kein so schmerzlicher Schaden. Die These, daß der große Umsatz an Seife von großer Reinlichkeit zeugt, braucht nicht für die Moral zu gelten, wo der neuere Satz richtiger ist, daß ein ausgeprägter Wasch- zwang auf nicht ganz saubere innere Verhältnisse hindeutet. Es würde ein nützlicher Versuch sein, wenn man den Verbrauch an Moral, der (welcher Art sie auch sei) alles Tun begleitet, einmal auf das äußerste einschränken und sich damit begnügen wollte, mo- ralisch nur in den Ausnahmefällen zu sein, wo es dafür steht, aber in allen anderen über sein Tun nicht anders zu denken wie über die notwendige Normung von Bleistiften oder Schrauben. Es würde dann allerdings nicht viel Gutes geschehn, aber einiges Besseres; es würde kein Talent übrigbleiben, sondern nur das Genie; es wür- den aus dem Bild des Lebens die faden Abzugsbilder verschwin- den, die aus der blassen Ähnlichkeit entstehen, welche die Hand- lungen mit den Tugenden haben, und an ihre Stelle deren berau- schendes Einssein in der Heiligkeit treten. Mit einem Wort, es würde von jedem Zentner Moral ein Milligramm einer Essenz übrigbleiben, die noch in einem Millionstelgramm zauberhaft be- glückend ist. Aber man wird einwenden, daß dies ja eine Utopie sei! Gewiß, es ist eine. Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig ver- flochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und ge- währt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Forscher die Veränderung eines Elements in einer zusammengesetzten Erscheinung betrachtet und daraus seine Folgerungen zieht; Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen be- obachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen. Ist nun das beobach- tete Element die Exaktheit selbst, hebt man es heraus und läßt es sich entwickeln, betrachtet man es als Denkgewohnheit und Lebens- haltung und läßt es seine beispielgebende Kraft auf alles auswir- ken, was mit ihm in Berührung kommt, so wird man zu einem Men- schen geführt, in dem eine paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit stattfindet. Er besitzt jene unbestechliche ge- wollte Kaltblütigkeit, die das Temperament der Exaktheit dar- -253- stellt; über diese Eigenschaft hinaus ist aber alles andere unbe- stimmt. Die festen Verhältnisse des Inneren, welche durch eine Mo- ral gewährleistet werden, haben für einen Mann wenig Wert, des- sen Phantasie auf Veränderungen gerichtet ist; und vollends wenn die Forderung genauester und größter Erfüllung vom intellektu- ellen Gebiet auf das der Leidenschaften übertragen wird, zeigt sich, wie angedeutet worden, das verwunderliche Ergebnis, daß die Lei- denschaften verschwinden und an ihrer Stelle etwas Urfeuerähn- liches von Güte zum Vorschein kommt. — Das ist die Utopie der Exaktheit. Man wird nicht wissen, wie dieser Mensch seinen Tag zubringen soll, da er doch nicht beständig im Akt der Schöpfungen schweben kann und das Herdfeuer eingeschränkter Empfindungen einer imaginären Feuersbrunst geopfert haben wird? Aber dieser exakte Mensch ist heute vorhanden! Als Mensch im Menschen lebt er nicht nur im Forscher, sondern auch im Kaufmann, im Organi- sator, im Sportsmann, im Techniker; wenn auch vorläufig nur wäh- rend jener Haupttageszeiten, die sie nicht ihr Leben, sondern ihren Beruf nennen. Denn er, der alles so gründlich und vorurteilslos nimmt, verabscheut nichts so sehr wie die Idee, sich selbst gründ- lich zu nehmen, und es läßt sich leider kaum zweifeln, daß er die Utopie seiner selbst als einen unsittlichen Versuch, begangen an ernsthaft beschäftigten Personen, ansehen würde. Darum war Ulrich in der Frage, ob man der mächtigsten Gruppe innerer Leistungen die übrigen anpassen solle oder nicht, mit an- deren Worten, ob man zu etwas, das mit uns geschieht und gesche- hen ist, ein Ziel und einen Sinn finden kann, sein Leben lang im- mer ziemlich allein geblieben. 62 Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus Genauigkeit, als menschliche Haltung, verlangt auch ein genaues Tun und Sein. Sie verlangt Tun und Sein im Sinne eines maxima- len Anspruchs. Allein hier ist eine Unterscheidung zu machen. Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Ge- nauigkeit (die es in Wirklichkeit noch gar nicht gibt), sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, daß sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde. Die Genauigkeit zum Beispiel, mit der der son- derbare Geist Moosbruggers in ein System von zweitausendjähri- gen Rechtsbegriffen gebracht wurde, glich den pedantischen An- -254- strengungen eines Narren, der einen freifliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will, aber sie kümmerte sich ganz und gar nicht um die Tatsachen, sondern um den phantastischen Begriff des Rechtsguts. Die Genauigkeit dagegen, die die Psychiater in ihrem Verhalten zu der großen Frage^ ob man Moosbrugger zum Tode verurteilen dürfe oder nicht, an den Tag legten, war ganz und gar exakt, denn sie traute sich nicht mehr zu sagen, als daß sein Krank- heitsbild keinem bisher beobachteten Krankheitsbild genau ent- spreche, und überließ die weitere Entscheidung den Juristen. Es ist ein Bild des Lebens, das der Gerichtssaal bei dieser Gelegenheit bot, denn alle die lebhaften Menschen des Lebens, die es gänzlich unmöglich fänden, einen Kraftwagen zu benützen, der älter als fünf Jahre ist, oder eine Krankheit nach den Grundsätzen behan- deln zu lassen, die vor zehn Jahren die besten waren, die überdies ihre ganze Zeit freiwillig-unfreiwillig der Förderung solcher Er- findungen widmen und davon eingenommen sind, alles zu ratio- nalisieren, was in ihren Bereich kommt, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens, kurz alle Fragen der Humanität, soweit sie nicht geschäftliche Beteiligung daran haben, am liebsten ihren Frauen, und solange diese noch nicht ganz dazu genügen, einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebeiis in tausendjährigen Wendungen er- zählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, daß man es auch anders machen könnte. Es gibt also in Wirklich- keit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander beste- hen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig ver- sichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tat- sachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewi- gen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Er- folg, und die andere an Umfang und Würde. Es ist klar, daß ein Pessimist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen seien nichts wert und die der anderen nicht wahr. Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisen- säure werden kann?! Zwischen den beiden Polen dieses Weder-Noch pendelte die Ent- wicklung, als es rund länger als achtzehn und noch keine zwanzig Jahrhunderte her war, seit die Menschheit zum erstenmal erfuhr, -255- daß es am Ende aller Tage ein solches geistiges Gericht geben werde. Es entspricht der Erfahrung, daß dabei auf eine Richtung immer die entgegengesetzte folgt. Und obgleich es denkbar und wünschbar wäre, daß eine solche Umkehr sich wie ein Schrauben- gang vollzöge, der bei jedem Richtungs Wechsel höher steigt, ge- winnt aus unbekannten Gründen die Entwicklung dabei selten mehr, als sie durch Umweg und Zerstörung verliert. Dr. Paul Arnheim hatte also ganz recht, als er zu Ulrich sagte, die Weltgeschichte ge- statte niemals etwas Negatives; die Weltgeschichte ist optimistisch, sie entscheidet sich immer mit Begeisterung für das eine und erst nachher für sein Gegenteil! So folgte auch auf die ersten Phanta- sien der Exaktheit keineswegs der Versuch, sie zu verwirklichen, sondern man überließ sie dem flügellosen Gebrauch der Ingenieure und Gelehrten und wandte sich wieder der würdigeren und um- fangreicheren Geistesverfassung zu. Ulrich konnte sich noch gut erinnern, wie das Unsichere wieder zu Ansehen gekommen war. Immer mehr hatten sich Äußerungen gehäuft, wo Menschen, die ein etwas unsicheres Metier betrieben, Dichter, Kritiker, Frauen und die den Beruf einer neuen Genera- tion Ausübenden, Klage erhoben, daß das pure Wissen einem un- seligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreiße, ohne es je wieder zusammensetzen zu können, und sie verlangten einen neuen Menschheitsglauben, Rückkehr zu den inneren Urtümern, geistigen Aufschwung und allerlei von solcher Art. Er hatte an- fangs naiver Weise angenommen, das seien Leute, die sich aufge- ritten haben und hinkend vom Pferd steigen, schreiend, daß man sie mit Seele einschmiere; aber er mußte allmählich erkennen, daß der sich wiederholende Ruf, der ihm anfangs so komisch erschie- nen war, einen breiten Widerhall fand; das Wissen fing an, unzeit- gemäß zu werden, der unscharfe Typus Mensch, der die Gegen- wart beherrscht, hatte sich durchzusetzen begonnen. Ulrich hatte sich dagegen aufgelehnt, das ernst zu nehmen, und bildete nun seine geistigen Neigungen auf eigene Art weiter. Aus der frühesten Zeit des ersten Selbstbewußtseins der Jugend, die später wieder anzublicken oft so rührend und erschütternd ist, waren heute noch allerhand einst geliebte Vorstellungen in seiner Erinnerung vorhanden, und darunter das Wort »hypothetisch le- ben«. Es druckte noch immer den Mut und die unfreiwillige Un- kenntnis des Lebens aus, wo jeder Schritt ein Wagnis ohne Erfah- rung ist, und den Wunsch nach großen Zusammenhängen und den Hauch der Widerruflichkeit, den ein junger Mensch fühlt, wenn er zögernd ins Leben tritt. Ulrich dachte, daß davon eigentlich nichts zurückzunehmen sei. Ein spannendes Gefühl, zu irgendetwas aus- ersehen zu sein, ist das Schöne und einzig Gewisse in dem, dessen -256- Blick zum erstenmal die Welt mustert. Er kann, wenn er seine Emp- findungen überwacht, zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen; er sucht die mögliche Geliebte, aber weiß nicht, ob es die richtige ist; er ist imstande zu töten, ohne sicher zu sein, daß er es tun muß. Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln, verbietet ihm, an das Vollendete zu glauben; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grund- satz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhen- den Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist. Was sollte er da Bes- seres tun können, als sich von der Welt freizuhalten, in jenem gu- ten Sinn, den ein Forscher Tatsachen gegenüber bewahrt, die ihn verführen wollen, voreilig an sie zu glauben 9 ! Darum zögert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, eine feste Wesens- art, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll. Er sucht sich anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell, verboten, fühlt er sich wie einen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von ei- nem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt. Und meint er einmal, den rechten Einfall zu haben, so nimmt er wahr, daß ein Tropfen unsagbarer Glut in die Welt gefallen ist, deren Leuchten die Erde anders aussehen macht. In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen, dar- aus eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband. Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Sei- ten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, — denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein — glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. Das ist übrigens nur die einfache Beschreibung der Tatsache, daß uns ein Mord als ein Ver- brechen oder als eine heroische Tat erscheinen kann und die Stunde der Liebe als die Feder, die aus dem Flügel eines Engels oder einer Gans gefallen ist. Aber Ulrich verallgemeinerte sie. Dann fanden alle moralischen Ereignisse in einem Kraftfeld statt, dessen Kon- stellation sie mit Sinn belud, und sie enthielten das Gute und das 17 Musil, Mann — 257 - Böse wie ein Atom chemische Verbindungsmöglichkeiten enthält. Sie waren gewissermaßen das, was sie wurden, und so wie das eine Wort Hart, je nachdem, ob die Härte mit Liebe, Roheit, Eifer oder Strenge zusammenhängt, vier ganz verschiedene Wesenheiten be- zeichnet, erschienen ihm alle moralischen Geschehnisse in ihrer Be- deutung als die abhängige Funktion anderer. Es entstand auf diese Weise ein unendliches System von Zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zu- schreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbar Feste wurde dar- in zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde, und der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins trat dem Menschen als Niederschrift, als Wirklich- keit und Charakter entgegen. Im Grunde fühlte sich Ulrich nach dieser Anschauung jeder Tugend und jeder Schlechtigkeit fähig, und daß Tugenden wie Laster ineiner ausgeglichenen Gesellschafts- ordnung allgemein, wenn auch uneingestanden, als gleich lästig empfunden werden, bewies ihm gerade das, was in der Natur al- lenthalben geschieht, daß jedes Kräftespiel mit der Zeit einem Mit- telwert und Mittelzustand, einem Ausgleich und einer Erstarrung zustrebt. Die Moral im gewöhnlichen Sinn war für Ulrich nicht mehr als die Altersform eines Kräftesystems, das nicht ohne Verlust an ethischer Kraft mit ihr verwechselt werden darf. Es mag sein, daß sich auch in diesen Anschauungen eine gewisse Lebensunsicherheit ausdrückte; allein Unsicherheit ist mitunter nichts als das Ungenügen an den gewöhnlichen Sicherungen, und im übrigen darf wohl daran erinnert werden, daß selbst eine so er- fahrene Person, wie es die Menschheit ist, scheinbar nach ganz ähnlichen Grundsätzen handelt. Sie widerruft auf die Dauer alles, was sie getan hat, und setzt anderes an seine Stelle, auch ihr ver- wandeln sich im Lauf der Zeit Verbrechen in Tugenden und um- gekehrt, sie baut große geistige Zusammenhänge aller Geschehnisse auf und läßt sie nach einigen Menschenaltern wieder einstürzen; nur geschieht das nacheinander, statt in einem einheitlichen Lebens- gefühl,, und die Kette ihrer Versuche läßt keine Steigerung erken- nen, während ein bewußter menschlicher Essayismus ungefähr die Aufgabe vorfände, diesen fahrlässigen Bewußtseinszustand der Welt in einen Willen zu verwandeln. Und viele einzelne Entwick- lungslinien weisen dahin, daß dies bald geschehen könnte. Die Ge- hilfin in einem Krankenhaus, die, blütenweiß gekleidet, den Kot eines Patienten in einem weißen Porzellanschüsselchen mit helfen- den Säuren zu einem purpurfarbenen Aufstrich verreibt, dessen -258- richtige Farbe ihre Aufmerksamkeit belohnt, befindet sich schon jetzt, auch wenn sie es nicht weiß, in einer wandelbareren Welt als die junge Dame, die vor dem gleichen Gegenstand auf der Straße erschauert. Der Verbrecher, der in das moralische Kraftfeld seiner Tat geraten ist, bewegt sich nur noch wie ein Schwimmer, der mit einem reißenden Strom mitmuß, und jede Mutter, deren Kind ein- mal hineingerissen worden ist, weiß das; man hat es ihr bisher bloß nicht geglaubt, weil man keinen Platz für diesen Glauben hatte. Die Psychiatrie nennt die große Heiterkeit eine heitere Verstim- mung, als ob sie heitere Unlust wäre, und hat erkennen lassen, daß alle großen Steigerungen, die der Keuschheit wie der Sinnlich- keit, der Gewissenhaftigkeit wie des Leichtsinns, der Grausamkeit wie des Mitleidens ins Krankhafte münden; wie wenig würde da noch das gesunde Leben bedeuten, wenn es nur einen mittleren Zu- stand zwischen zwei Übertreibungen zum Ziel hätte! Wie dürftig wäre es schon, wenn sein Ideal wirklich nichts anderes als die Leug- nung der Übertreibung seiner Ideale wäre?! Solche Erkenntnisse führen also dazu, in der moralischen Norm nicht länger die Ruhe starrer Satzungen zu sehen, sondern ein bewegliches Gleichgewicht, das in jedem Augenblick Leistungen zu seiner Erneuerung fordert. Man beginnt, es immer mehr als beschränkt zu empfinden, unwill- kürlich erworbene Wiederholungsdispositionen einem Menschen als Charakter zuzuschreiben und dann seinen Charakter für die Wiederholungen verantwortlich zu machen. Man lernt das Wech- selspiel zwischen Innen und Außen erkennen, und gerade durch das Verständnis für das Unpersönliche am Menschen ist man dem Persönlichen auf neue Spuren gekommen, auf gewisse einfache Grundverhaltensweisen, einen Ichbautrieb, der wie der • Nest- bautrieb der Vögel aus vieler Art Stoff nach ein paar Verfahren sein Ich aufrichtet. Man ist bereits so nahe daran, durch bestimmte Einflüsse allerhand entartete Zustände verbauen zu können wie einen Wildbach, daß es beinahe nur noch auf eine soziale Fahrläs- sigkeit hinausläuft oder auf einen Rest von Ungeschicklichkeit, wenn man aus Verbrechern nicht rechtzeitig Erzengel macht. Und so ließe sich sehr vieles anführen, Zerstreutes, einander noch nicht nahe Gekommenes, was zusammenwirkt, daß man der groben Annähe- rungen müde wird, die unter einfacheren Bedingungen für ihre Anwendung entstanden sind, und allmählich die Nötigung erlebt, eine Moral, die seit zweitausend Jahren immer nur im kleinen dem wechselnden Geschmack angepaßt worden ist, in den Grundlagen der Form zu verändern und gtgtn eine andere einzutauschen, die sich der Beweglichkeit der Tatsachen genauer anschmiegt. Nach Ulrichs Überzeugung fehlte dazu eigentlich nur noch die Formel; jener Ausdruck, den das Ziel einer Bewegung, noch ehe es »259- erreicht ist, in irgendeinem glücklichen Augenblick finden muß, damit das letzte Stück des Wegs zurückgelegt werden kann, und es ist das immer ein gewagter, nach dem Stande der Dinge noch nicht zu rechtfertigender Ausdruck, eine Verbindung von exakt und nicht- exakt, von Genauigkeit und Leidenschaft. Aber es war gerade in den Jahren, die ihn hatten aneifern sollen, mit ihm etwas Merk- würdiges vor sich gegangen. Er war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein Sy- stem sperren. Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, daß es in den Zeiten der Tyrannis große philosophische Naturen gegeben hat, während es in den Zeiten der fortgeschrittenen Zivilisation und Demokratie nicht gelingt, eine überzeugende Philosophie hervor- zubringen, wenigstens soweit sich das nach dem Bedauern beurtei- len läßt, das man allgemein darüber äußern hört. Darum wird heute in kurzen Stücken erschreckend viel philosophiert, so daß es gerade nur noch die Kaufläden gibt, wo man ohne Weltanschauung etwas bekommt, während gegen große Stücke Philosophie ein ausgespro- chenes Mißtrauen herrscht. Man hält sie einfach für unmöglich, und auch Ulrich war keineswegs frei davon, ja er dachte nach seinen wissenschaftlichen Erfahrungen etwas spöttisch über sie. Das gab die Richtung für sein Verhalten, so daß er immer wieder von dem, was er sah, zum Nachdenken aufgefordert wurde und doch mit einer gewissen Scheu vor zuviel Denken behaftet war. Aber was sein Ver- halten schließlich entschied, war noch etwas anderes. Es gab etwas in Ulrichs Wesen, das in einer zerstreuten, lähmenden, entwaff- nenden Weise gegen das logische Ordnen, gegen den eindeutigen Willen, gegen die bestimmt gerichteten Antriebe des Ehrgeizes wirkte, und auch das hing mit dem seinerzeit von ihm gewählten Namen Essayismus zusammen, wenn es auch gerade die Bestand- teile enthielt, die er mit der Zeit und mit unbewußter Sorgfalt aus diesem Begriff ausgeschaltet hatte. Die Übersetzung des Wortes Essay als Versuch, wie sie gegeben worden ist, enthält nur ungenau die wesentlichste Anspielung auf das literarische Vorbild; denn ein Essay ist nicht der vor- oder nebenläufige Ausdruck einer Über- zeugung, die bei besserer Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, eben- sogut aber auch als Irrtum erkannt werden könnte (von solcher Art sind bloß die Aufsätze und Abhandlungen, die gelehrte Personen als »Abfälle ihrer Werkstätte« zum besten geben); sondern ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken an- nimmt. Nichts ist dem fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit der Einfälle, die man Subjektivität nennt, aber auch wahr und falsch, klug und unklug sind keine Begriffe, die sich auf -260- solche Gedanken anwenden lassen, die dennoch Gesetzen unter- stehn, die nicht weniger streng sind, als sie zart und unaussprechlich erscheinen. Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, aber es würde keinen Zweck haben, sie zu nennen; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Ge- dicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben. Nichts ist übrigens bezeichnender als die unfreiwillige Erfah- rung, die man mit gelehrten und vernünftigen Versuchen macht, solche große Essayisten auszulegen, die Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen umzuwandeln und der Bewegung der Beweg- ten einen »Inhalt« abzugewinnen; es bleibt von allem ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat. Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn, und doch darf man sie nicht eigentlich zart und lebensunbeständig nennen, da man sonst auch einen Elefanten zu zart nennen müßte, um in einem luftleeren, sei- nen Lebensbedürfnissen nicht entsprechenden Raum auszudauern. Es wäre sehr zu beklagen, wenn diese Beschreibungen den Eindruck eines Geheimnisses hervorriefen oder auch nur den einer Musik, in der die Harfenklänge und seufzerhaften Glissandi überwiegen. Das Gegenteil ist wahr, und die ihnen zugrunde liegende Frage stellte sich Ulrich durchaus nicht nur als Ahnung dar, sondern auch ganz nüchtern in der folgenden Form: Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt? Solche Beispiele, die »dazwischen« liegen, liefert aber jeder moralische Satz, etwa gleich der bekannte und einfache: Du sollst nicht töten. Man sieht auf den ersten Blick, daß er weder eine Wahrheit ist noch eine Subjektivität. Man weiß, daß wir uns in mancher Hinsicht streng an ihn halten, in anderer Hinsicht sind gewisse und sehr zahlreiche, jedoch genau begrenzte Ausnahmen zugelassen, aber in einer sehr großen Zahl von Fällen dritter Art, so in der Phantasie, in den Wünschen, in den Theater- stücken oder beim Genuß der Zeitungsnachrichten, schweifen wir ganz ungeregelt zwischen Abscheu und Verlockung. Man nennt etwas, das weder eine Wahrheit noch eine Subjektivität ist, zu- weilen eine Forderung. Man hat diese Forderung an den Dogmen der Religion und an denen des Gesetzes befestigt und ihr dadurch den Charakter einer abgeleiteten Wahrheit gegeben, aber die Ro- manschriftsteller erzählen uns von den Ausnahmen, angefangen beim Opfer Abrahams bis zur jüngsten schönen Frau, die ihren -261- Geliebten niedergeschossen hat, und lösen es wieder in Subjektivi- tät auf. Man kann sich also entweder an den Pflöcken festhalten oder zwischen ihnen von der breiten Welle hin und her tragen lassen; aber mit welchem Gefühl!? Das Gefühl des Menschen für diesen Satz ist ein Gemisch von vernageltem Gehorchen (einschließ- lich der »gesunden Natur«, die sich sträubt, an so etwas auch nur zu denken, aber, durch Alkohol oder Leidenschaft nur ein wenig von ihrem Platz verrückt, es sofort tut) und gedankenlosem Plät- schern in einer Woge voll Möglichkeiten. Soll dieser Satz wirklich nur so verstanden werden? Ulrich fühlte, daß ein Mann, der etwas mit ganzer Seele tun mochte, auf diese Weise weder weiß, ob er es tun, noch ob er es unterlassen soll. Und ihm ahnte doch, daß man es aus dem ganzen Wesen heraus tun oder lassen könnte. Ein Ein- fall oder ein Verbot sagten ihm gar nichts. Die Anknüpfung an ein Gesetz nach oben oder innen erregte die Kritik seines Verstandes, ja mehr als das, es lag auch eine Entwertung in diesem Bedürfnis, den seiner selbst gewissen Augenblick durch eine Abstammung zu nobilitieren. Bei alledem blieb seine Brust stumm, und nur sein Kopf sprach; aber er fühlte, daß in einer anderen Weise seine Ent- scheidung übereinfallen könnte mit seinem Glück. Er könnte glück- lich sein, weil er nicht tötet, oder glücklich sein, weil er tötet, aber er könnte niemals der gleichgültige Eintreiber einer an ihn gestell- ten Forderung sein. Das, was er in diesem Augenblick empfand, war kein Gebot, es war ein Gebiet, das er betreten hatte. Er begriff, daß alles darin schon entschieden sei und den Sinn besänftigt wie Muttermilch. Aber es war kein Denken mehr, was ihm das sagte, und auch kein Fühlen in der gewöhnlichen, wie in Stücke gebroche- nen Weise; es war ein »ganz Begreifen« und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft fern herüberträgt, und sie kam ihm weder wahr noch falsch, weder vernünftig noch wider- vernünftig vor, sondern ergriff ihn, als wäre ihm eine leise selige Übertreibung in die Brust gefallen. Und so wenig man aus den echten Teilen eines Essays eine Wahr- heit machen kann, vermag man aus einem solchen Zustand eine Überzeugung zu gewinnen; wenigstens nicht, ohne ihn aufzugeben, so wie ein Liebender die Liebe verlassen muß, um sie zu beschrei- ben. Die grenzenlose Rührung, die ihn zuweilen untätig bewegte, widersprach dem Tätigkeitstrieb Ulrichs, der auf Grenzen und Formen drang. Nun ist es ja wahrscheinlich richtig und natürlich, erst wissen zu wollen, ehe man das Gefühl sprechen läßt, und un- willkürlich stellte er sich vor, was er dereinst finden wollte, werde, wenn es auch nicht Wahrheit sei, dieser doch an Festigkeit nichts nachgeben; aber in seinem besonderen Fall ähnelte er dadurch einem Mann, der sich ein Rüstzeug zusammenstellt, indes ihm dar- -262- über die Absicht erstirbt. Wann immer man ihn bei der Abfassung- mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt hätte, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rech- ten Lebens. Aber wenn man eine Forderung lange Zeit erhebt, ohne daß mit ihr etwas geschieht, schläft das Gehirn genau so ein, wie der Arm einschläft, wenn er lange Zeit etwas hochhält, und unsere Gedanken können ebensowenig dauernd stehen bleiben wie Soldaten im Sommer auf einer Parade; wenn sie zu lange warten müssen, fallen sie einfach ohnmächtig um. Da Ulrich ungefähr in seinem sechsundzwanzigsten Jahr den Entwurf seiner Lebensauf- fassung abgeschlossen hatte, kam sie ihm in seinem zweiunddreißig- sten Jahr nicht mehr ganz aufrichtig vor. Er hatte seine Gedanken nicht weitergebildet, und abgesehen von einem ungewissen und spannenden Gefühl, wie man es bei geschlossenen Augen hat, wenn man etwas erwartet, zeigte sich in ihm auch nicht viel von persön- licher Bewegung, seit die Tage der zitternden ersten Erkenntnisse vorbei waren. Wahrscheinlich war es trotzdem eine unterirdische Bewegung von solcher Art, was ihn mit der Zeit in der wissen- schaftlichen Arbeit verlangsamte und daran hinderte, in sie seinen ganzen Willen zu setzen. Er geriet durch sie in einen eigentümlichen Zwiespalt. Man darf nicht vergessen, daß die exakte Geistesverfas- sung im Grunde gottgläubiger ist als die schöngeistige; denn sie unterwürfe sich »Ihm«, sobald er geruht, sich ihr unter den Bedin- gungen zu zeigen, die sie für die Anerkennung seiner Tatsächlich- keit vorschreibt, wogegen unsere schönen Geister, wenn Er sich äußerte, nur fänden, daß sein Talent nicht ursprünglich und sein Weltbild nicht verständlich genug seien, um ihn auf eine Stufe mit wirklich gottbegnadeten Begabungen zu stellen. So leicht wie irgendwer von dieser Gattung konnte sich Ulrich also nicht un- bestimmten Ahnungen hingeben, aber andererseits konnte er sich ebensowenig verhehlen, daß er in lauter Exaktheit jahrelang bloß gegen sich selbst gelebt habe, und er wünschte, daß etwas Unvor- hergesehenes mit ihm geschehen möge, denn als er das tat, was er etwas spöttisch seinen »Urlaub vom Leben« nannte, besaß er in der einen wie in der anderen Richtung nichts, was ihm Frieden gab. Vielleicht könnte man zu seiner Entschuldigung anführen, daß das Leben in gewissen Jahren unglaublich schnell entflieht. Aber der Tag, wo man beginnen muß, seinen letzten Willen zu leben, ehe man dessen Rest hinterläßt, liegt weit voran und läßt sich nicht verschieben. Das war ihm drohend klar geworden, seit fast ein hal- bes Jahr vergangen war, ohne daß sich etwas änderte. Während er sich in der kleinen und närrischen Tätigkeit, die er übernommen -263- hatte, hin und her bewegen ließ, sprach, gerne zuviel sprach, mit der verzweifelten Beharrlichkeit eines Fischers lebte, der seine Netze in einen leeren Fluß senkt, indes er nichts tat, was der Person entsprach, die er immerhin bedeutete, und es mit Absicht nicht tat, wartete er. Er wartete hinter seiner Person, sofern dieses Wort den von Welt und Lebenslauf geformten Teil eines Menschen bezeich- net, und seine ruhige, dahinter abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher. Er befand sich in dem schlimmsten Notstand sei- nes Lebens und verachtete sich für seine Unterlassungen. Sind große Prüfungen das Vorrecht großer Naturen? Er hätte gerne daran geglaubt, aber es ist nicht richtig, denn auch die simpelsten nervösen Naturen haben ihre Krisen. So blieb ihm eigentlich nur in der gro- ßen Erschütterung jener Rest von Unerschütterlichkeit übrig, den alle Helden und Verbrecher besitzen, es ist nicht Mut, es ist nicht Wille, es ist keine Zuversicht, sondern einfach ein zähes Festhalten an sich, das sich so schwer austreiben läßt wie das Leben aus einer Katze, selbst wenn sie von den Hunden schon ganz zerfleischt ist. Will man sich vorstellen, wie solch ein Mensch lebt, wenn er allein ist, so kann höchstens erzählt werden, daß in der Nacht die erhellten Fensterscheiben ins Zimmer schauen, und die Gedanken, nachdem sie gebraucht sind, herumsitzen wie die Klienten im Vor- zimmer eines Anwalts, mit dem sie nicht zufrieden sind. Oder viel- leicht, daß Ulrich einmal in solcher Nacht die Fenster öffnete und in die schlangenkahlen Baumstämme blickte, deren Windungen zwischen dtn Schneedecken der Wipfel und des Bodens seltsam schwarz und glatt dastanden, und plötzlich Lust bekam, im Schlaf- anzug, wie er war, in den Garten hinunterzugehn; er wollte die Kälte in den Haaren fühlen. Als er unten war, schaltete er das Licht aus, um nicht vor der erleuchteten Türe zu stehn, und nur aus sei- nem Arbeitszimmer ragte ein Lichtdach in den Schatten hinein. Ein Weg führte zum Gittertor, das auf die Straße mündete, ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich. Ulrich ging langsam auf diesen zu. Und dann erinnerte ihn die zwischen den Baumkronen empor- ragende Dunkelheit plötzlich phantastisch an die riesige Gestalt Moosbruggers, und die nackten Bäume kamen ihm merkwürdig körperlich vor; häßlich und naß wie Würmer und trotzdem so, daß man sie umarmen und mit Tränen im Gesicht an ihnen niedersinken mochte. Aber er tat es nicht. Die Sentimentalität der Regung stieß ihn im gleichen Augenblick zurück, wo sie ihn berührte. Durch den Milchschaum des Nebels kamen vor dem Gitter des Gartens in die- sem Augenblick verspätete Fußgänger vorbei, und er hätte ihnen wohl wie ein Narr erscheinen können, wie sich sein Bild, in rotem Schlafanzug zwischen schwarzen Stämmen, nun von diesen loslöste; aber er trat fest auf den Weg und ging verhältnismäßig zufrieden -264- in sein Haus zurück, denn wenn etwas für ihn aufbewahrt war, so mußte es etwas ganz anderes sein. 63 Bonadea hat eine Vision Als Ulrich an dem Morgen, der auf diese Nacht folgte, spät und sehr zerschlagen aufstand, wurde ihm der Besuch Bonadeas ge- meldet; es war zum erstenmal seit ihrem Zerwürfnis, daß sie sich wieder sehen sollten. Bonadea hatte in der Zeit der Trennung viel geweint. Bonadea hatte sich während dieser Zeit oft mißbraucht gefühlt. Sie hatte oft gewirbelt wie eine umflorte Trommel. Sie hatte viele Abenteuer gehabt und viele Enttäuschungen. Und obgleich die Erinnerung an Ulrich bei jedem Abenteuer in einen tiefen Brunnen versank, stieg sie nach jeder Enttäuschung daraus wieder auf; ohnmächtig und vorwurfsvoll wie der verlassene Schmerz in einem Kindergesicht. Bonadea hatte ihrem Freund schon hundertmal im stillen ihre Eifersucht abgebeten, ihren »bösen Stolz gestraft«, wie sie es nannte, und endlich entschloß sie sich, ihm einen Friedensschluß anzutragen. Sie war liebenswürdig, melancholisch und schön, als sie vor ihm saß, und fühlte sich im Magen elend. Er stand »wie ein Jüngling« vor ihr. Seine Haut marmorn poliert von großen Vorgängen und Diplomatie, die sie ihm zutraute. Sie hatte noch nie bemerkt, wie kräftig und entschlossen sein Gesicht aussehe. Sie hätte gerne mit ganzer Person kapituliert, aber sie traute sich nicht, so weit zu gehen, und er machte keine Miene, sie dazu einzuladen. Diese Kälte war unsagbar traurig für sie, aber groß wie eine Statue. Bonadea nahm unvermutet seine herabhängende Hand und küßte sie. Ulrich strich ihr nachdenklich über das Haar. Ihre Beine wurden auf die weiblichste Weise von der Welt schwach, und sie wollte in die Knie sinken. Da drückte sie Ulrich sanft in den Stuhl, brachte Whisky mit Soda und zündete eine Zigarette an. »Eine Dame trinkt nicht am Vormittag Whisky!« protestierte Bonadea; einen Augenblick lang fand sie wieder die Kraft zum Gekränktsein, und ihr Herz stieg bis in den Kopf, denn es schien ihr, daß die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Ulrich ein so derbes und, wie sie dachte, zügelloses Getränk anbot, eine lieblose An- spielung enthalte. Aber Ulrich sagte freundlich: »Es wird dir gut tun; alle Frauen, die große Politik gemacht haben, haben auch Whisky getrunken.« Denn Bonadea hatte, um sich bei Ulrich wieder einzuführen, gesagt, - 265 - daß sie die große patriotische Aktion bewundere und gerne dabei mithelfen möchte. Das war ihr Plan. Sie glaubte immer mehreres gleichzeitig, und halbe Wahrheiten erleichterten ihr das Lügen. Der Whisky war dünngoldig und wärmte wie Maisonne. Bonadea hatte das Gefühl, siebzig Jahre alt zu sein und vor einem Haus auf einer Gartenbank zu sitzen. Sie wurde alt. Ihre Kinder wuchsen heran. Der Älteste war jetzt schon zwölf Jahre. Es war ohne Zweifel schändlich, einem Mann, den man nicht einmal genau kannte, in eine Wohnung zu folgen, bloß weil er Augen hatte, mit denen er einen ansah wie ein Mann hinter einem Fen- ster. Man unterscheidet ganz gut, dachte sie, Einzelheiten an die- sem Menschen, die einem mißfallen und eine Warnung sein könn- ten; man könnte überhaupt — wenn einen nur etwas in solchen Augenblicken anhalten würde! — schamübergossen und vielleicht sogar zornflammend abbrechen; aber weil es nicht geschieht, wächst dieser Mann immer leidenschaftlicher in seine Rolle hinein. Und man selbst fühlt sich dabei ganz deutlich wie eine von künstlichem Licht angestrahlte Kulisse; es sind Bühnenaugen, ein Bühnen- schnurrbart, sich öffnende Kostümknöpfe, was man vor sich hat, und die Augenblicke vom Betreten des Zimmers bis zur entsetz- lichen ersten wieder nüchternen Bewegung spielen sich in einem Bewußtsein ab, das aus dem Kopf hinausgetreten ist und die Zim- merwände mit einer Tapete des Wahns überzieht. Bonadea ge- brauchte nicht ganz die gleichen Worte, dachte es überhaupt nur teilweise in Worten, aber während sie es sich zu vergegenwärtigen trachtete, fühlte sie sich sofort wieder dieser Veränderung des Be- wußtseins ausgeliefert. »Wer das beschreiben könnte, wäre ein gro- ßer Künstler; nein, er wäre ein Pornograph!« dachte sie, während sie Ulrich ansah. Denn die guten Vorsätze und den besten Willen zur Anständigkeit verlor sie auch während solcher Zustände keinen Augenblick; sie standen dann draußen und warteten und hatten zu dieser von den Begierden veränderten Welt bloß kein Wort zu sagen. Wenn Bonadeas Vernunft wiederkehrte, war das ihre größte Qual. Die Bewußtseinsveränderung durch den Geschlechtsrausch, über die andere Menschen als etwas Natürliches hinwegsehen, nahm bei ihr durch die Tiefe und Plötzlichkeit des Rausches wie auch der Reue eine Stärke an, die sie beängstigte, sobald sie wieder in den Friedenskreis der Familie zurückgekehrt war. Sie kam sich dann wie eine Wahnsinnige vor. Sie traute sich kaum, ihre Kinder an- zusehen, aus Angst, sie mit ihrem verdorbenen Blick zu schädigen. Und sie zuckte zusammen, wenn ihr Mann sie etwas freundlicher anschaute, und fürchtete sich vor der Zwanglosigkeit des Allein- seins. Darum war in den Wochen der Trennung der Plan in ihr -266- gereift, keinen anderen Geliebten mehr zu haben als Ulrich; er sollte ihr Halt geben und sie vor fremden Ausschreitungen bewah- ren. »Wie habe ich mir nur erlauben können, ihn zu tadeln,« dachte sie jetzt, wo sie zum erstenmal wieder vor ihm saß, »er ist so viel vollkommener als ich«, ut»d sie schrieb ihm das Verdienst zu, daß sie in der Zeit seiner Umarmungen ein gebesserter Mensch gewesen sei, und dachte wohl auch daran, daß er sie bei der nächsten Wohl- tätigkeitsveranstaltung in seinen neuen Gesellschaftskreis einfüh- ren müsse. Bonadea legte lautlos einen Fahnenschwur ab und be- kam Tränen der Rührung in die Augen, während sie alles das bedachte. Aber Ulrich trank mit der Langsamkeit eines Mannes, der einen schweren Entschluß bekräftigen muß, seinen Whisky aus. — Es sei im Augenblick noch nicht möglich, sie bei Diotima einzuführen, er- klärte er ihr. Bonadea wollte selbstverständlich genau Bescheid haben, warum es nicht möglich sei; und dann wollte sie genau wissen, wann es möglich sein werde. Ulrich mußte ihr auseinandersetzen, daß sie weder in der Kunst, noch in der Wissenschaft, noch im Wohlfahrtswesen hervorgetreten sei, und daß es darum sehr lange dauern werde, ehe er Diotima die Notwendigkeit ihrer Mitwirkung begreiflich machen könne. Nun war aber Bonadea in der Zwischenzeit von eigentümlichen Gefühlen für Diotima erfüllt worden. Sie hatte genug von deren Tugenden gehört, um nicht eifersüchtig zu sein; vielmehr beneidete und bewunderte sie diese Frau, die ihren Geliebten an sich fesselte, ohne ihm unsittliche Zugeständnisse zu machen. Sie schrieb die statuenhafte Gelassenheit, die sie an Ulrich zu bemerken glaubte, diesem Einfluß zu. Sich selbst nannte sie »leidenschaftlich«, worun- ter sie ebensowohl ihre Ehrlosigkeit wie eine immerhin ehrenvolle Entschuldigung für diese verstand; aber sie bewunderte kühle Frauen mit dem gleichen Empfinden, wie unglückliche Besitzer ewig feuchter Hände ihre Hand in eine besonders trockene und schöne Hand legen. »Sie ist es!« dachte sie. »Sie hat Ulrich so verändert!« Ein harter Bohrer in ihrem Herzen, ein süßer Bohrer in ihren Knien: diese beiden sich gleichzeitig und gegeneinander drehenden Bohrer machten Bonadea beinahe ohnmächtig, als sie bei Ulrich Widerstand fand. Sie spielte ihren letzten Trumpf aus: Moos- brugger! Es war ihr durch schmerzliches Nachdenken klargeworden, daß Ulrich eine eigentümliche Vorliebe für diese fürchterliche Erschei- nung habe. Sie selbst widerte die »rohe Sinnlichkeit«, die sich ihrer Überzeugung nach in Moosbruggers Taten ausdrückte, einfach mit Abscheu an; sie empfand in dieser Frage, natürlich ohne davon zu -267- wissen, genau so wie die Prostituierten, die mit ganz ungemischtem Gefühl und ohne alle bürgerliche Romantik in einem Lustmörder einfach eine Gefährdung ihres Berufs erblicken- Aber sie brauchte, einschließlich ihrer unvermeidlichen Verfehlungen, eine ordentliche und wahre Welt, und Moosbrugger sollte ihr zu deren Wiederher- stellung dienen. Da Ulrich eine Schwäche für ihn, und sie einen Gatten hatte, der Richter war und dienliche Auskunft zu geben vermochte, war in ihrer Verlassenheit ganz von selbst der Gedanke gereift, ihre Schwäche mit Ulrichs Schwäche durch die Vermittlung ihres Gatten zu vereinen, und diese sehnsüchtige Vorstellung hatte die tröstende Kraft einer vom Rechtsgefühl gesegneten Sinnlichkeit. Aber als sie sich ihrem guten Gatten damit näherte, war dieser über ihre juridische Entbranntheit erstaunt, obwohl er wußte, daß sie sich leicht für alles menschlich Gute und Hohe begeistere; und da er nicht nur Richter, sondern auch Jäger war, antwortete er gut- mütig abweisend, daß es einzig das Richtige sei, das Raubzeug allerorten ohne viel Sentimentalität auszurotten, und ließ sich auf weitere Auskünfte nicht ein. Bei einem zweiten Versuch, den sie einige Zeit später unternahm, erfuhr Bonadea von ihm nur die zusätzliche Meinung, daß er das Gebären für Frauensache, das Töten aber für eine Männerangelegenheit halte, und da sie sich in dieser gefährlichen Frage nicht durch zu große Beflissenheit ver- dächtigen durfte, war ihr damit der Weg des Rechts vorläufig ver- schlossen So war sie auf den Weg der Gnade gelangt, der einzig übrig blieb, wenn sie zu Ulrichs Freude etwas für Moosbrugger ausrichten sollte, und dieser Weg führte, man kann nicht einmal sagen überraschenderweise, eher anziehenderweise, über Diotima. Sie sah sich im Geiste als Diotimas Freundin und erfüllte sich den Wunsch, die bewunderte Rivalin um der unaufschieblichen Sache willen kennenlernen zu müssen, selbst wenn sie zu stolz sein sollte, es aus persönlichem Bedürfnis zu tun. Sie hatte sich vor- genommen, sie für Moosbrugger zu gewinnen, was Ulrich, wie sie gleich erraten hatte, offenbar nicht gelang, und ihre Phantasie malte es ihr in schönen Bildern aus. Die marmorne große Diotima legte ihren Arm um die warme, sündengebeugte Schulter Bonadeas, und Bonadea erwartete für sich ungefähr die Rolle, dieses himm- lisch unberührte Herz mit einem Tropfen Hinfälligkeit zu salben. Dies war der Plan, den sie ihrem verlorenen Freund auseinander- setzte. Aber Ulrich war an diesem Tag für den Gedanken, Moosbrugger zu retten, in keiner Weise zu gewinnen. Er kannte die edlen Ge- fühle Bonadeas und wußte, wie leicht bei ihr aus dem Aufflammen einer einzelnen schönen Regung die Panik einer den ganzen Körper ergreifenden Feuersbrunst wurde. Er erklärte ihr, daß er nicht im -268- geringsten die Absicht habe, sich in das Verfahren einzumengen, das man Moosbrugger mache. Bonadea sah ihn mit gekränkten schönen Augen an, in denen das Wasser über dem Eis schwamm wie an der Grenze zwischen Früh- jahr und Winter. Nun hatte Ulrich niemals ganz eine gewisse Dankbarkeit für ihre kindisch schöne erste Begegnung in jener Nacht verloren, wo er ohnmächtig auf dem Pflaster lag, Bonadea zu seinen Häupten hockte und die unsichere, abenteuerliche Unbestimmtheit der Welt, der Jugend und der Gefühle aus den Augen dieser jungen Frau in sein erwachendes Bewußtsein träufelte. Er suchte also die krän- kende Abweisung zu lindern und in ein längeres Gespräch auf- zulösen. »Nimm an,« schlug er vor »du gehst nachts durch einen weiten Park, und es machen sich zwei Strolche an dich heran: wür- dest du daran denken, daß es bedauernswerte Menschen sind, an deren Roheit die Gesellschaft schuld hat?« »Aber ich gehe nie nachts durch einen Park« erwiderte Bonadea sofort. »Aber wenn ein Schutzmann daherkäme, würdest du die zwei doch verhaften lassen?« »Ich würde ihn ersuchen, mich zu schützen!« »Das heißt doch, daß er sie verhaftet?!« »Das weiß ich nicht, was er dann mit ihnen tut. Übrigens ist Moosbrugger kein Strolch.« »Also dann nimm an, er arbeite als Tischler in deiner Wohnung. Du bist mit ihm allein im Haus, und er fängt an, so hin und her rutschende Augen zu machen.« Bonadea verwahrte sich. »Das ist doch abscheulich, was du von mir verlangst!« »Sicher« sagte Ulrich. »Aber ich will dir ja zeigen, daß solche leicht aus dem Gleichgewicht geratende Menschen äußerst unan- genehm sind. Unparteilichkeit darf man sich ihnen gegenüber ei- gentlich nur erlauben, wenn die Schläge ein anderer kriegt. Dann allerdings fordern sie unsere äußerste Zartheit heraus und sind die Opfer einer Gesellschaftsordnung oder des Schicksals. Du mußt zu- geben, daß niemand für seine Fehler kann, wenn man sie mit seinen eigenen Augen betrachtet; sie sind für ihn im schlimmsten Fall Irrtümer oder schlechte Eigenschaften an einem Ganzen, das ihret- halben nicht weniger gut wird, und natürlich hat er vollkommen recht!« Bonadea hatte etwas an ihrem Strumpf zu richten und fühlte sich gezwungen, Ulrich mit etwas zurückgeneigtem Kopf dabei anzu- sehen, so daß sich am Knie, unbeaufsichtigt von ihrem Auge, ein gegensatzreiches Leben von spitzen Säumen, glattem Strumpf, ge- -269- spannten Fingern und sanft entspanntem Perlenschmelz der Haut entwickelte. Ulrich zündete sich rasch eine Zigarette an und fuhr fort: »Der Mensch ist nicht gut, sondern er ist immer gut; das ist ein gewaltiger Unterschied, verstehst du? Man lächelt über diese Sophistik der Eigenliebe, aber man sollte aus ihr die Folgerung ableiten, daß der Mensch überhaupt nichts Böses tun kann; er kann nur bös wirken. Mit dieser Erkenntnis wären wir am rechten Ausgangspunkt einer sozialen Moral.« Bonadea streifte mit einem Seufzer ihren Rock wieder an die rechte Stelle zurück, richtete sich auf und suchte sich mit einem Schluck von dem matten Goldfeuer zu beruhigen. »Und nun will ich dir erklären,« setzte Ulrich lächelnd hinzu »warum man für Moosbrugger wohl allerhand fühlen, aber trotz- dem nichts tun kann. Im Grunde gleichen alle diese Fälle einem herausstehenden Fadenende, und wenn man daran zieht, beginnt sich das ganze Gesellschaftsgewebe aufzutrennen. Ich werde dir das zunächst an rein verstandesmäßigen Fragen zeigen.« Bonadea verlor auf ungeklärte Weise einen Schuh. Ulrich bückte sich danach, und der Fuß kam mit den warmen Zehen dem Schuh in seiner Hand entgegen wie ein kleines Kind. »Laß nur, laß, ich mache es selbst!« sagte Bonadea, während sie ihm den Fuß hinhielt. »Da sind zuerst die psychiatrisch- juridischen Fragen« erklärte Ulrich unerbittlich weiter, während ihm aus dem Bein der Hauch der verminderten Zurechnungsfähigkeit in die Nase stieg. »Diese Fragen, von denen wir wissen, daß die Ärzte beinahe jetzt schon so weit sind, daß sie die meisten solcher Verbrechen verhindern könnten, wenn wir nur die dazu nötigen Geldmittel aufwenden wollten. Das ist also nur noch eine soziale Frage.« »Ach, weißt du, die laß!« bat Bonadea, als er nun schon zum zweitenmal sozial sagte. »Wenn davon gesprochen wird, geh ich zu Hause aus dem Zimmer; das langweilt mich zu Tod.« »Nun gut,« lenkte Ulrich ein »ich habe sagen wollen, wie die Technik aus Kadavern, Unrat, Bruch und Giften längst schon nütz- liche Dinge bereitet, könnte dies fast auch schon der psychologischen Technik gelingen. Aber die Welt läßt sich mit der Lösung dieser Fragen unmäßig viel Zeit. Der Staat gibt Geld für jede Dummheit her, für die Lösung der wichtigsten moralischen Fragen hat er aber nicht einen Kreuzer übrig. Das liegt in seiner Natur, denn der Staat ist das dümmste und boshafteste Menschenwesen, das es gibt.« Er sagte es mit Überzeugung; aber Bonadea suchte ihn zum Kern der Sache zurückbringen. »Liebster,« sagte sie schmachtend »es ist doch gerade das Beste für Moosbrugger, daß er unverantwortlich ist!?« -270- »Es wäre wahrscheinlich wichtiger, etliche Verantwortliche um- zubringen, als einen Unverantwortlichen vor dem Umgebracht- werden zu schützen!« wehrte Ulrich ab. Er ging jetzt nahe vor ihr auf und ab. Bonadea fand ihn revolu- tionär und zündend; es gelang ihr, seine Hand einzufangen, und sie legte sie sich auf den Busen. »Gut,« sagte er »ich werde dir jetzt die gefühlsmäßigen Fragen erklären.« Bonadea entfaltete seine Finger und breitete seine Hand auf ihrer Brust aus. Der begleitende Blick würde ein steinernes Herz gerührt haben; Ulrich glaubte in den nächsten Augenblicken zwei Herzen in der Brust zu fühlen, wie in einem Uhrmacherladen die Uhrschläge durcheinanderwimmeln. Mit dem Aufgebot aller Wil- lenskraft brachte er die Brust in Ordnung und sagte sanft: »Nein, Bonadea!« Bonadea war nun den Tränen nahe, und Ulrich redete ihr zu. »Ist es denn nicht widerspruchsvoll, daß du dich wegen dieser einen Sache aufregst, weil ich dir zufällig davon erzählt habe, während du von den Millionen ebenso großer Ungerechtigkeiten, die täglich geschehn, nichts merkst?« »Aber das hat doch damit gar nichts zu tun« verwahrte sich Bonadea. »Das eine weiß ich nun eben! Und ich wäre ein schlechter Mensch, wenn ich ruhig bliebe!« Ulrich meinte, daß man ruhig zu bleiben habe; geradezu stür- misch ruhig, — fügte er hinzu. Er hatte sich losgemacht und in eini- ger Entfernung vor Bonadea niedergesetzt. »Alles geschieht heute »inzwischen' und ,einstweilen\« bemerkte er »das muß so sein. Denn wir werden von der Gewissenhaftigkeit unseres Verstandes zu einer entsetzlichen Gewissenlosigkeit unseres Gemüts gezwungen.« Nun hatte er auch sich noch einmal Whisky eingeschenkt und die Beine auf den Diwan gezogen. Er fing an, müde zu werden. » Teder Mensch denkt ursprünglich über das ganze Leben nach,« erklärte er »aber je genauer er nachdenkt, desto mehr engt sich das ein. Wenn er reif ist, hast du einen Menschen vor dir, der sich auf einem bestimmten Quadratmillimeter so gut auskennt wie in der ganzen Welt höch- stens zwei Dutzend anderer Menschen, der genau sieht, wie alle Menschen, die sich nicht so genau auskennen, Unsinn über seine Angelegenheit reden, und sich doch nicht rühren darf, denn wenn er seinen Platz nur um einen Mikromillimeter verläßt, redet er selbst Unsinn.« Seine Müdigkeit war jetzt dünngoiden wie das Getränk, das am Tisch stand. »Auch ich rede also schon eine halbe Stunde lang Unsinn« dachte er; aber dieser herabgeminderte Zu- stand war angenehm. Er fürchtete bloß das eine, daß Bonadea auf den Einfall kommen könnte, sich zu ihm zu setzen. Dagegen gab es -271- nur ein Mittel: reden. Er hatte den Kopf aufgestützt und lag aus- gestreckt da wie die Grabfiguren in der Mediceerkapelle. Mit einemmal fiel ihm das ein, und wirklich, während er diese Stellung einnahm, floß Großartigkeit durch seinen Körper, ein Schweben in ihrer Ruhe, und er kam sich gewaltiger vor, als er war; zum ersten- mal glaubte er, aus der Ferne, diese Kunstwerke zu verstehen, die er bis dahin nur wie fremde Dinge angesehen hatte. Und statt zu reden, schwieg er. Auch Bonadea fühlte etwas. Es war ein »Augen- blick«, wie man das nennt, was man nicht bezeichnen kann. Etwas schauspielerisch Gehobenes vereinigte die beiden, die plötzlich stumm wurden. »Was ist von mir übrig geblieben?« dachte Ulrich bitter. »Viel- leicht ein Mensch, der tapfer und unverkäuflich ist und sich ein- bildet, daß er um der Freiheit des Inneren willen nur wenige äußere Gesetze achtet. Aber diese Freiheit des Inneren besteht darin, daß man sich alles denken kann, daß man in jeder menschlichen Lage weiß, warum man sich nicht an sie zu binden braucht, und niemals weiß, wovon man sich binden lassen möchte!« In diesem wenig glücklichen Augenblick, wo sich die sonderbare kleine Gefuhls- welle, die ihn für eine Sekunde gefaßt hatte, wieder auflöste, wäre er bereit gewesen, zuzugeben, daß er nichts besitze als eine Fähig- keit, an jeder Sache zwei Seiten zu entdecken, jene moralische Am- bivalenz, die fast alle seine Zeitgenossen auszeichnete und die An- lage seiner Generation bildete oder auch deren Schicksal. Seine Beziehungen zur Welt waren blaß, schattenhaft und verneinend geworden. Welches Recht hatte er, Bonadea schlecht zu behandeln? Es war immer das gleiche ärgerliche Gespräch, das sich zwischen ihnen wiederholte. Es entstand aus der inneren Akustik der Leere, in der ein Schuß doppelt so laut widerhallt und nicht aufhört zu rollen; es beschwerte ihn, daß er zu ihr gar nicht mehr anders spre- chen konnte als in dieser Art, für deren besondere Qual, die sie beiden bereitete, ihm der halbsinnig hübsche Name Barock der Leere einfiel. Und er richtete sich auf, um ihr etwas Liebenswür- diges zu sagen. »Mir ist jetzt etwas aufgefallen« wandte er sich an Bonadea, die noch immer in würdiger Weise dasaß. »Es ist eine komische Sache. Ein merkwürdiger Unterschied- Der zurechnungs- fähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie!« Bonadea erwiderte etwas sehr Bedeutendes. »Ach du!« erwiderte sie. Das war die einzige Unterbrechung, und das Schweigen schloß sich wieder. Wenn Ulrich in ihrer Gegenwart von allgemeinen Dingen sprach, so mochte sie es nicht. Sie fühlte sich mit Recht bei allen ihren Fehl- tritten doch immer inmitten einer Menge ihr ähnlicher Menschen -272- und hatte ein richtiges Empfinden für das Ungesellige, Übertrie- bene und Einsame seiner Art, sie mit Gedanken, statt mit Gefühlen zu bewirten Immerhin hatten sich in ihr dabei Verbrechen, Liebe und Traurigkeit jetzt zu einem Ideenkreis vereint, der höchst ge- fährlich war. Ulrich kam ihrnun beiweitem nichtmehr so einschüch- ternd und vollkommen vor wie beim Beginn des Wiedersehns; aber zur Entschädigung hatte er etwas Knabenhaftes gewonnen, das ihren Idealismus aufregte wie ein Kind, das sich an etwas nicht vorbei- traut, um seiner Mutter ans Herz zu eilen. Sie empfand schon die längste Zeit eine aufgelockerte, nicht in Rand noch in Band gefaßte Zärtlichkeit für ihn. Aber seit Ulrich ihre erste Andeutung davon abgewiesen hatte, legte sie sich gewaltsam Zurückhaltung auf. Sie hatte die Erinnerung, wie sie bei ihrem letzten Besuch hier ent- kleidet und hilflos auf seinem Diwan gelegen war, noch nicht ver- wunden und hatte sich vorgenommen, wenn es sein müßte, lieber mit Hut und Schleier bis zum Ende auf ihrem Stuhl sitzen zu blei- ben, damit er verstehen lerne, daß er jemand vor sich habe, der sich nötigenfalls ebenso zu beherrschen wisse wie die Rivalin Dio- tima. Bonadea vermißte immer zu der großen Erregung, in die sie durch die Nähe eines Liebhabers geriet, die große Idee; freilich ist das etwas, das man leider vom ganzen Leben sagen könnte, das viel Erregung und wenig Sinn hat, aber Bonadea wußte, das nicht, und sie suchte irgendeine Idee zu äußern. An denen Ulrichs fehlte ihr die Würde, die sie nötig hatte, und es ist wahrscheinlich, daß sie eine schönere und gefühlvollere suchte. Aber ideales Zögern und gemeine Anziehung, Anziehung und eine schreckliche Angst, vor- zeitig angezogen zu werden, mischten sich dabei mit dem Antrieb des Schweigens, in dem die versagten Handlungen zuckten, und der Erinnerung an die große Ruhe, die sie für eine Sekunde mit ihrem Geliebten verbunden hatte. Schließlich war das so, wie wenn ein Regen in der Luft hängt und es kann nicht regnen: eine Benom- menheit, die sich über die ganze Haut ausbreitete und Bonadea mit der Vorstellung schreckte, sie könnte die Beherrschung verlieren, ohne es zu merken. Und plötzlich zuckte eine körperliche Illusion daraus hervor, ein Floh. Bonadea wußte nicht, ob er Wirklichkeit oder Einbildung war. Sie fühlte einen Schauer im Gehirn, einen unglaubwürdigen Eindruck, als ob sich dort eine Vorstellung aus der schattenhaften Gebundenheit der übrigen losgemacht hätte, aber doch nur eine Einbildung wäre; und zugleich einen unbezweifeibaren, wirklich- keitsgetreuen Schauer auf der Haut. Sie hielt den Atem an. Wenn etwas, tripp trapp, die Treppe heraufkommt, und man weiß, die Treppe ist leer, und doch hört man ganz deutlich tripp trapp, ist es so. Bonadea begriff wie von einem Blitz erhellt, daß das eine un- 18 Musil, Mann _ 273 - freiwillige Fortsetzung des verlorenen Schuhes sei. Es bedeutete ein verzweifeltes Auskunftsmittel für eine Dame. Dennoch fühlte sie in dem Augenblick, wo sie den Spuk bannen wollte, einen heftigen Stich. Sie kreischte leise auf, bekam hochrote Wangen und forderte Ulrich auf, ihr suchen zu helfen. Ein Floh bevorzugt die gleichen Gegenden wie ein Liebhaber; der Strumpf wurde bis zum Schuh untersucht, die Bluse mußte an der Brust geöffnet werden. Bonadea erklärte, daß er von der Straßenbahn käme oder von Ulrich gekom- men sei Aber er war nicht zu finden und hatte keine Spuren hin- terlassen. »Ich weiß nicht, was das war!« sagte Bonadea. Ulrich lächelte unerwartet freundlich. Da fing Bonadea wie ein kleines Mädchen, das sich schlecht auf- geführt hat, zu weinen an. 64 General Stumm von Bordweh?' besucht Diotima General Stumm von Bordwehr hatte Diotima seine Aufwartung gemacht. Das war jener Offizier, den das Kriegsministerium in die große gründende Sitzung entsandt hatte, wo er eine Rede hielt, die auf alle Eindruck machte, ohne aber hindern zu können, daß bei der Aufstellung der Ausschusse für das große Friedens- werk, die nach dem Muster der Ministerien geschah, das Ministe- rium des Krieges aus naheliegenden Gründen übergangen wurde. — Er war ein nicht sehr stattlicher General mit einem kleinen Bauch und einer kleinen Lippenbürste an der Stelle des Schnurrbarts. Sein Gesicht war rund und hatte etwas von Familienkreis bei Abwesen- heit jedes Vermögens übe»* das in der Hei rats Vorschrift für Trup- penoffiziere hinaus. Er sagte zu Diotima, dem Soldaten sei im Be- ratungszimmer eine bescheidene Rolle angemessen. Es verstehe sich überdies aus politischen Rücksichten von selbst, daß das Kriegs- ministerium bei der Bildung der Ausschüsse nicht berücksichtigt werden konnte. Dennoch wage er zu behaupten, die geplante Aktion solle nach außen wirken, was aber nach außen wirke, sei die Macht eines Volks. Er wiederholte, daß der berühmte Philosoph Treitschke gesagt habe, Staat sei die Macht, sich im Völkerkampf zu erhalten Die Kraft, die man im Frieden entfalte, halte den Krieg fern oder kürze seine Grausamkeit zumindest ab. Er sprach noch eine Viertel- stunde lang, bediente sich einiger klassischer Zitate, an die er sich, wie er hinzufügte, noch aus der Gymnasialzeit mit Vorliebe er- innerte, und behauptete, daß diese Jahre des humanistischen Stu- -274- diums die schönsten seines Lebens gewesen seien; suchte Diotima fühlen zu lassen, daß er sie bewundere und von der Art, wie sie die große Sitzung geleitet habe, entzückt gewesen sei; wollte nur noch einmal wiederholen, daß recht verstanden ein Ausbau der Wehr- macht, die hinter der anderer Großstaaten weit zurückstehe, die ausdrucksvollste Bekundung friedlicher Gesinnung bedeuten könn- te, und erklärte im übrigen, vertrauensvoll zu erwarten, daß eine breite, volkstümliche Teilnahme an den Fragen des Heeres von selbst kommen werde. Dieser liebenswürdige General versetzte Diotima in tödlichen Schreck. Es gab damals in Kakanien Familien, wo Offiziere ver- kehrten, weil ihre Töchter Offiziere heirateten, und Familien, deren Töchter Offiziere nicht heirateten, entweder weil kein Geld für die Heiratskaution vorhanden war oder aus Grundsatz, so daß dort auch keine Offiziere verkehrten; Diotimas Familie hatte aus beiden Gründen zu der zweiten Sorte gehört, und die Folge war, daß die gewissenhaft schöne Frau eine Vorstellung vom Militär mit ins Leben nahm, ungefähr so wie die Vorstellung eines mit bunten Lappen behängten Todes. Sie erwiderte, es gebe so viel Großes und Gutes auf der Welt, daß die Wahl nicht leicht falle. Es sei ein großer Vorzug, inmitten eines materialistischen Treibens der Welt ein großes Zeichen geben zu dürfen, aber auch eine schwere Pflicht. Und schließlich solle die Kundgebung aus der Mitte des Volks selbst aufsteigen, weshalb sie ihre eigenen Wünsche ein wenig zurück- stellen müsse. Sie setzte ihre Worte sorgfältig, wie mit schwarz- gelben Bindfäden geheftet, und verbrannte sanfte Räucherwerk- worte der hohen Bürokratie auf ihren Lippen. Aber als der General sich verabschiedet hatte, brach das Innere der hohen Frau ohnmächtig zusammen. Wenn sie eines so niederen Gefühls wie Hasses fähig gewesen wäre, würde sie diesen rund- lichen kleinen Mann mit den schwänzelnden Augen und den Gold- knöpfen am Bauch gehaßt haben, aber da ihr das unmöglich blieb, empfand sie eine dumpfe Beleidigung und konnte sich nicht sagen, warum. Sie öffnete trotz der Winterkälte die Fenster und rauschte mehrmals im Zimmer auf und ab. Als sie die Fenster wieder schloß, hatte sie Tränen in den Augen. Sie war sehr erstaunt. Das geschah nun schon zum zweitenmal, daß sie grundlos weinte. Sie erinnerte sich an die Nacht, wo sie an der Seite ihres Gatten Tranen vergossen hatte, ohne eine Erklärung dafür zu besitzen. Diesmal war das lediglich Nervöse des Vorgangs, dem kein Inhalt entsprach, noch deutlicher; dieser dicke Offizier trieb ihr die Tränen aus den Augen wie eine Zwiebel, ohne daß ein vernünftiges Gefühl mitsprach. Mit Recht wurde sie davon beunruhigt; eine ahnungsvolle Angst sagte ihr, daß irgendein unsichtbarer Wolf um ihre Hürden schleiche und -275- daß es hoch an der Zeit sei, ihn durch die Macht der Idee zu bannen. Auf diese Weise kam es, daß sie sich nach dem Besuch des Generals vornahm, mit größter Beschleunigung die in Aussicht genommene Versammlung großer Geister zustandezubringen, die ihr behilflich sein sollte, der patriotischen Aktion einen Inhalt zu sichern. 65 Aus den Gesprächen Arnheims und Diotimas Es erleichterte Diotimas Herz, daß Arnheim gerade von einer Reise zurückgekehrt war und ihr zur Verfügung stand »Ich habe erst vor einigen Tagen mit Ihrem Vetter ein Gespräch über Generäle gehabt« erwiderte er sofort und machte diese Mit- teilung mit der Miene eines Mannes, der einen bedenklichen Zu- sammenhang andeutet, ohne angeben zu wollen, worum es sich handle. Diotima empfing den Eindruck, daß ihr widerspruchsvoller, von der großen Idee der Aktion wenig begeisterter Vetter auch noch die unklaren Gefahren begünstige, die vom General ausgingen, und Arnheim fuhr fort: »Ich möchte es in Gegenwart Ihres Vetters nicht dem Spott aus- setzen,« mit diesen Worten leitete er eine neue Wendung ein »aber es liegt mir daran, Sie etwas fühlen zu lassen, worauf Sie als Ferne- stehende kaum von selbst kommen könnten: den Zusammenhang zwischen Geschäft und Dichtung. Ich meine natürlich das Geschäft im großen, das Weltgeschäft, wie ich es durch die Stelle, auf der ich geboren, zu betreiben bestimmt worden bin; es ist verwandt mit der Dichtung, es besitzt irrationale, ja geradezu mystische Seiten; ich möchte sogar sagen, besonders das Geschäft besitzt sie. Sehen Sie wohl, das Geld ist eine außerordentlich unduldsame Macht.« »In allem, was Menschen mit dem Einsatz ihrer ganzen Person betreiben, liegt wahrscheinlich eine gewisse Unduldsamkeit« ant- wortete Diotima, die noch dem unvollendeten ersten Teil des Ge- sprächs nachhing, mit einigem Zögern. »Besonders im Geld!« sagte Arnheim rasch. »Törichte Menschen bilden sich ein, Geld zu besitzen sei Genuß! Es ist in Wahrheit eine unheimliche Verantwortung. Ich will nicht von den zahllosen Exi- stenzen sprechen, die von mir abhängen, so daß ich für sie fast das Schicksal vertrete; lassen Sie mich bloß davon sprechen, daß mein Großvater mit einem Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mit- telstadt begonnen hat.« Bei diesen Worten fühlte Diotima wirklich einen plötzlichen Schauer, der ihr wie wirtschaftlicher Imperialismus vorkam; es war -276- das aber eine Verwechslung, denn sie entbehrte nicht ganz der Vor- urteile ihres Gesellschaftskreises, und da sie bei Müllabfuhrgeschäft in der Sprechweise ihrer Heimat an den Mistbauer gedacht hatte, machte sie das mutige Bekenntnis ihres Freundes erröten. »In diesem Veredlungsverkehr für Abfalle« fuhr der Bekenner fort »hat mein Großvater den Grund zum Einfluß der Arnheims gelegt. Aber noch mein Vater erscheint als Selfmademan, wenn man bedenkt, daß er in vierzig Jahren diese Firma zum Welthaus ausgeweitet hat. Er hat nicht mehr als zwei Klassen einer Handels- schule durchgemacht, aber durchschaut mit einem Blick die verwik- keltsten Weltverhältnisse und weiß alles, was er zu wissen braucht, früher als es andere Leute wissen. Ich habe Nationalökonomie und alle erdenklichen Wissenschaften studiert, aber ihm sind sie ganz unbekannt, und man kann in keiner Weise erklären, wie er das macht, aber es mißlingt ihm nie das geringste. Das ist das Geheim- nis des kraftvollen, einfachen, großen und gesunden Lebens!« Arnheims Stimme, wie er von seinem Vater sprach, hatte einen ungewöhnlichen, ehrfürchtigen Ton angenommen, als hätte ihre dozierende Ruhe irgendwo einen kleinen Sprung. Es fiel Diotima umsomehr auf, als ihr Ulrich erzählt hatte, daß man den alten Arnheim einfach als einen kleinen, breitschultrigen Kerl schildere, mit einem knochigen Gesicht und einer Knopfnase, der immer einen weit offenen Schwalbenschwanz trage und mit seinem Aktienbesitz so zäh und umsichtig verfahre wie ein Schachspieler mit seinen Bauern. Und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr Arnheim nach einer kleinen Pause fort: »Wenn ein Geschäft eine Ausbreitung erreicht wie die ganz wenigen, von denen ich hier spreche, so gibt es kaum eine Angelegenheit des Lebens, mit der es nicht verfloch- ten wäre. Es ist ein Kosmos im kleinen. Sie würden staunen, wenn Sie wüßten, welche scheinbar ganz unkommerziellen Fragen, künst- lerische, moralische, politische, ich zuweilen in den Unterredungen mit dem Seniorchef zur Sprache bringen muß. Aber die Firma schießt nicht mehr so in die Höhe wie in den Anfangszeiten, die ich die heroischen nennen möchte. Es gibt auch für Geschäfte trotz allen Wohlergehens eine geheimnisvolle Grenze des Wachstums wie für alles Organische. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum über Elefantengröße heute kein Tier mehr hinauswächst? Sie finden das gleiche Geheimnis in der Geschichte der Kunst und in den sonder- baren Beziehungen des Lebens von Völkern, Kulturen und Zeiten.« Diotima bereute jetzt, daß sie vor dem Veredelungsverkehr für Abfälle zurückgeschaudert war, und fühlte sich verwirrt. »Von solchen Geheimnissen ist das Leben voll. Es gibt etwas, wogegen aller Verstand ohnmächtig ist. Mein Vater ist damit im Bunde. Aber ein Mensch wie Ihr Vetter,« sagte Arnheim »ein Ak- -277- tivist, der immer den Kopf voll davon hat, wie die Dinge anders und besser zu machen wären, hat kein Empfinden dafür.« Diotima drückte, als Ulrichs Name noch einmal vorkam, durch ein Lächeln aus, daß em Mann wie ihr Vetter keineswegs Anspruch habe, auf sie Einfluß auszuüben. Die gleichmäßige, etwas gelbliche Haut Arnheims, die im Gesicht so glatt wie eine Birne war, hatte sich über die Wangen hinaus gerötet. Er hatte einem wunderlichen Bedürfnis nachgegeben, das Diotima seit längerer Zeit in ihm er- regte, sich ihr bis ins letzte Unbekannte ungeschützt anzuvertrauen. Nun schloß er sidi wieder ein, nahm ein Buch vom Tisch, las seinen Titel, ohne ihn zu entziffern, legte es ungeduldig zurück und sagte mit seiner gewöhnlichen Stimme, die auf Diotima in diesem Augen- blick so erschütternd wirkte wie die Bewegung eines Menschen, der seine Kleider an sich nimmt, woran sie erkannte, daß er nackt ge- wesen war: »Ich bin weit abgekommen. Was ich Ihnen über den General zu sagen habe, ist, daß Sie nichts Besseres tun können, als so bald wie möglich Ihren Plan zu verwirklichen und durch den Einfluß humanen Geistes und seiner anerkannten Vertreter unsere Aktion zu heben. Aber Sie brauchen auch den General nicht grund- sätzlich abzulehnen. Er ist vielleicht persönlich guten Willens, und Sie kennen ja meinen Grundsatz, daß man der Gelegenheit, Geist in eine Sphäre bloßer Macht zu tragen, niemals aus dem Wege gehen soll.« Diotima ergriff seine Hand und faßte diese Unterredung in den Abschied zusammen. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit!« Arnheim ließ die milde Hand einen Augenblick lang unent- schlossen in der seinen ruhn und starrte nachdenklich darauf, als hätte er etwas zu sagen vergessen. 66 Zwischen Ulrich und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung Ihr Vetter machte sich damals nicht selten das Vergnügen, Dio- tima die dienstlichen Erfahrungen zu beschreiben, die er an der Seite Sr. Erlaucht sammelte, und legte besonders Wert darauf, ihr immer wieder die Mappen mit den Vorschlägen zu zeigen, die bei Giaf Leinsdorf einliefen. »Mächtige Kusine,« berichtete er, mit einem dicken Aktenstoß m der Hand, »ich kann mir allein nicht mehr helfen; die ganze Welt scheint von uns Verbesserungen zu erwarten, und die eine Hälfte von ihnen beginnt mit dtn Worten ,Los von . . /, während die an- -27«- dere Hälfte mit den Worten »Vorwärts zu . . .' beginnt! Ich habe hier Aufforderungen, die von Los von Rom bis Vorwärts zur Ge- müsekultur reichen. Wofür wollen Sie sich entscheiden?« Es war nicht leicht, in die Wünsche, welche die Mitwelt an Graf Leinsdorf richtete, Ordnung zu bringen, aber zwei Gruppen hoben sich aus den Zuschriften durch ihren Umfang hervor. Die eine machte für den Mißstand der Zeit eine bestimmte Einzelheit ver- antwortlich und verlangte ihre Beseitigung, und solche Einzelhei- ten waren nichts Geringeres als die Juden oder die römische Kirche, der Sozialismus oder der Kapitalismus, die mechanistische Denk- weise oder die Vernachlässigung der technischen Entwicklung, die Rassenmischung oder die Rassenentmischung, der Großgrundbesitz oder die Großstädte, die Intellektualisierung oder der ungenügende Volksunterricht. Die andere Gruppe dagegen bezeichnete ein vor- ausliegendes Ziel, das zu erreichen vollkommen genügen würde, und sie unterschieden sich, diese erstrebenswerten Ziele der zwei- ten, von den zerstörungswerten Einzelheiten der ersten Gruppe gewöhnlich durch nichts als durch das Gefühlsvorzeichen des Aus- drucks, offenbar, weil es in der Welt eben kritische und bejahende Naturen gibt. So ließen denn die Zuschriften der zweiten Gruppe etwa mit freudiger Verneinung verlauten, daß man mit dem lächer- lichen Kultus der Künste endlich brechen möge, weil das Leben ein größerer Dichter sei als alle Skribenten, und forderten Sammlun- gen von Gerichtssaalberichten und Reisebeschreibungen zu allge- meinem Gebrauch; wogegen im gleichen Fall die Zuschriften der ersten Gruppe mit freudiger Bejahung behaupteten, daß das Gip- felgefühl der Bergfahrer über alle Erhebungen der Kunst, Philo- sophie und Religion hinausreiche, weshalb man statt dieser lieber Alpen vereine fördern solle. In solcher doppel wegigen Weise wurde Verlangsamung des Zeittempos ebenso gefordert wie ein Preis- ausschreiben für das beste Feuilleton, weil das Leben unerträglich oder köstlich kurz sei, und man wünschte die Befreiung der Mensch- heit durch und von Gartensiedlungen, Entsklavung der Frau, Tanz, Sport oder Wohnkultur ebenso wie durch unzählig anderes von unzählig anderem. Ulrich klappte die Mappe zu und begann ein Privatgespräch. »Mächtige Kusine,« sagte er »es ist eine verwunderliche Erschei- nung, daß die eine Hälfte das Heil in der Zukunft sucht und die andere in der Vergangenheit. Ich weiß nicht, was man daraus schlie- ßen soll. Se Erlaucht würde sagen, daß die Gegenwart heillos ist.« »Beabsichtigt Erlaucht etwas Kirchliches?« fragte Diotima. »Er hat sich augenblicklich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß es in der Geschichte der Menschheit kein freiwilliges Zurück gibt. Aber das Erschwerende ist, daß wir ja auch kein brauchbares Vor- -279- wärts haben. Gestatten Sie mir, es als eine merkwürdige Lage zu bezeichnen, wenn es weder vorwuits noch zuiück geht und der gegenwaitige Augenblick auch als unerträglich empfunden wird.« Diotima verschanzte sich, wenn Ulrich so sprach, in ihiem hohen Körper wie in einem Turm, der im Reisehandbuch drei Steine hat. »Glauben Sie, gnädige Frau, daß iigendein Mensch, der heute füi oder gegen eine Sache kämpft,« iiagte Uli ich »wenn er morgen durch ein Wunder zum unumschränkten Beherrscher der Weit ge- macht würde, noch am gleichen Tag das täte, was er sein Leben lang gefordert hat? Ich bin überzeugt, er wurde sich einige Tage Auf- schub gönnen.« Da Uli ich danach eine kleine Pause machte, wandte sich ihm Diotima überraschend zu, ohne zu antworten, und fragte streng: »Aus welchem Grund haben Sie dem General Aussichten auf un- sere Aktion gemacht?« »Welchem Geneial?« »Dem General von Stumm!« »Das ist der runde, kleine General aus der großen ersten Sitzung? Ich? Ich habe ihn seither nicht einmal gesehen, geschweige denn ihm etwas in Aussicht gestellt!« Ulrichs Erstaunen war überzeugend und heischte eine Erklä- rung. Aber da auch ein Mann wie Amheim nicht die Unwahrheit sprechen konnte, mußte ein Mißverständnis vorliegen, und Diotima erläuterte, worauf sich ihre Annahme stutze. »Ich soll also mit Amheim über Geneial von Stumm gesprochen haben? Auch das niemals!^ versicherte Ulrich. »Ich habe mit Am- heim — geben Sie mir, bitte, einen Augenblick Zeit« — er dachte nach, und mit einemmal lachte er. »Das wäre ja sehr schmeichelhaft, wennArnh^im solches Gewicht auf jedes meiner Worte legen sollte! Ich habe mich in der letzten Zeit mehrmals mit ihm unterhalten, wenn Sie unaere Gegensätze so nennen wollen, und einmal habe ich dabei in der Tat auch von einem General gesprochen, aber von keinem bestimmten und nur nebenbei als Beispiel. Ich habe be- hauptet, daß ein General, der aus einem strategischen Grund Ba- taillone in den sicheren Untergang schickt, ein Möider ist, wenn man ihn in Zusammenhang damit bringt, daß das tausende Söhne von Müttern sind; daß er aber sofort etwas anderes wiid, wenn man ihn mit andeien Gedanken in Zusammenhang bringt, zum Beispiel mit der Notwendigkeit von Opfern oder der Gleichgültig- keit des kurzen Lebens. Ich habe auch eine Menge anderer Beispiele benützt. Aber hier müssen Sie mir eine Abschweifung gestatten. Aus sehr naheliegenden Gründen behandelt jede Generation das Leben, das sie vorfindet, als fest gegeben, bis auf das wenige, an dessen Veränderung sie interessiert ist Das ist nützlich, aber falsch. Die -230- Welt könnte ja in jedem Augenblick auch nach allen Richtungen verändert werden oder doch nach jeder beliebigen; es liegt ihr so- zusagen in den Gliedern. Es wäre darum eine eigenartige Weise zu leben, wenn man einmal versuchen würde, sich nicht so zu beneh- men wie ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Welt, in der, möchte ich sagen, nur ein paar Knöpfe zu verschieben sind, was man Entwicklung nennt; sondern von vornherein so wie ein zum Ver- ändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaf- fenen Welt eingeschlossen wird, also ungefähr so wie ein Wasser- tröpfchen in einer Wolke. Verachten Sie mich, weil ich wieder un- deutlich bin?« »Ich verachte Sie nicht, aber ich kann Sie nicht verstehn« befahl Diotima; »erzählen Sie mir doch das ganze Gespräch!« »Nun, Arnheim hat es hervorgerufen; er hat mich angehalten und förmlich zum Gespräch gestellt« begann Ulrich. »,Wir Kauf- leute', hat er mit einem sehr elementischen Lächeln zu mir gesagt, das zu der ruhigen Haltung, die er sonst beobachtet, etwas in Widerspruch stand, aber doch sehr hoheitsvoll war, ,wir Kaufleute rechnen nicht, wie Sie vielleicht glauben könnten. Sondern wir — ich meine natürlich die führenden Leute; die kleinen mögen immer- hin unausgesetzt rechnen — lernen unsere wirklich erfolgreichen Einfalle als etwas betrachten, das jeder Berechnung spottet, ähnlich wie es der persönliche Erfolg des Politikers und schließlich auch der des Künstlers tut.' Dann hat er mich gebeten, was er jetzt sagen werde, mit der Nachsicht zu beurteilen, die etwas Irrationales be- anspruchen dürfe. Er mache sich seit dem ersten Tag, wo er mich gesehen habe, gewisse Gedanken über mich, hat er mir anvertraut, und Sie, gnädigste Kusine, sollen ihm allerdings auch manches von mir erzählt haben, aber er hätte es gar nicht erst zu hören brau- chen, versicherte er, und er hat mir erklärt, daß ich merkwürdiger- weise einen ganz abstrakten, begrifflichen Beruf erwählt habe, denn so sehr ich auch dafür begabt sein könne, ginge ich doch irre, indem ich Wissenschaftler sei, und meine wesentliche Begabung liege, wenn mich das auch wundern möge: im Gebiet des Handelns und der persönlichen Wirkung!« »So?« sagte Diotima. »Ich bin ganz Ihrer Meinung« beeilte sich Ulrich zu erwidern. »Ich bin für nichts unbegabter wie für mich selbst.« »Sie spötteln immer, statt sich dem Leben zu widmen« meinte Diotima, die sich über ihn noch wegen der Mappen ärgerte. »Arnheim behauptet das Gegenteil. Ich habe das Bedürfnis, aus meinem Denken zu gründliche Schlüsse auf das Leben zu ziehn, — behauptet er.« »Sie spötteln und sind negativistisch; Sie sind immer auf dem -281» Sprung ins Unmögliche und weichen jeder wirklichen Entscheidung aus!« bestimmte Diotima. »Es ist einfach meine Überzeugung,« ei widerte Ulrich »daß Den- ken eine Einrichtung für sich ist, und das wirkliche Leben eine andere. Denn der Stufenunterschied zwischen den beiden ist gegen- wärtig zu groß. Unser Gehirn ist einige tausend Jahre alt, aber wenn es alles nur halb zu Ende gedacht und zur anderen Hälfte vergessen hätte, so wäre sein getreues Abbild die Wirklichkeit. Man kann ihr nur die geistige Teilnahme verweigern.« »Heißt das nicht, sich die Aufgabe allzu leicht machen?« fragte Diotima ohne beleidigende Absicht, nur so, wie ein Berg auf einen kleinen Bach zu seinen Füßen blickt. »Arnheim liebt auch die Theo- rien, aber ich glaube, daß er sich wenig durchgehen läßt, ohne es auf alle Zusammenhänge zu prüfen: Meinen Sie denn nicht, daß es der Sinn alles Denkens ist, gedrängte Anwendungsfähigkeit zu sein . . .?« »Nein« sagte Ulrich. »Ich möchte hören, was Ihnen Arnheim darauf geantwortet hat?« »Er hat mir gesagt, daß der Geist heute ein machtloser Zuschauer der wirklichen Entwicklung ist, weil er den großen Aufgaben, die das Leben stellt, aus dem Weg geht. Er hat mich aufgefordert, zu betrachten, wovon die Künste handeln, welche Kleinlichkeiten die Kirchen erfüllen, wie eng selbst das Blickfeld der Gelehrsamkeit ist! Und ich sollte daran denken, daß währenddessen die Erde buch- stäblich aufgeteilt werde. Dann erklärte er mir, daß er gerade da- von zu mir habe reden wollen!« »Und was haben Sie erwidert?« fragte Diotima gespannt, denn sie glaubte zu erraten, daß Arnheim ihrem Vetter wegen dessen teilnahmslosen Verhaltens zu den Fragen der Parallelaktion habe Vorwurfe machen wollen. »Ich habe ihm erwidert, daß mich das Verwirklichen jederzeit weniger anzieht als das Nichtverwirklichte, und ich meine damit nicht etwa nur das der Zukunft, sondern ebenso sehr das Vergan- gene und Verpaßte. Es kommt mir vor, daß es unsere Geschichte ist, jedesmal wenn wir von einer Idee einiges weniges verwirklicht haben, in der Freude darüber den größeren Rest von ihr unvollen- det stehen zu lassen. Großartige Einrichtungen sind gewöhnlich ver- patzte Ideenentwürfe; übrigens auch großartige Personen: das habe ich ihm gesagt. Es war gewissermaßen ein Unterschied in der Rich- tung der Betrachtung.« »Das war streitsüchtig von Ihnen!« sagte Diotima gekränkt. »Er hat mir dafür mitgeteilt, wie ich ihm vorkomme, wenn ich die Tatkraft verleugne um irgendeiner ausständigen gedanklichen Generalregelung willen. Wollen Sie es hören? Wie ein Mann, der - 282 - sich neben ein für ihn bereitetes Bett auf die Erde legt. Es sei Ener- gievergeudung, also selbst etwas physikalisch Unmoralisches, hat er persönlich für mich hinzugefügt. Er hat mir zugesetzt, doch zu verstehen, daß geistige Ziele von großem Ausmaß nur mit Benüt- zung der heute bestehenden wirtschaftlichen, politischen und nicht zuletzt geistigen Machtverhältnisse zu erreichen seien. Er für seine Person halte es für ethischer, sich ihrer zu bedienen, als sie zu ver- nachlässigen. Er hat mir sehr zugesetzt. Er hat mich einen sehr ak- tiven Menschen in Abwehrstellung, in verkrampfter Abwehrstel- lung genannt. Ich glaube, er hat irgendeinen nicht ganz geheuer- lichen Grund, warum er meine Achtung gewinnen will!« »Er will Ihnen nützen!« rief Diotima strafend aus. »0 nein« meinte Ulrich. »Ich bin vielleicht nur ein kleiner Kie- sel, und er ist wie eine prächtige bauchige Glaskugel. Aber ich habe den Eindruck, daß er Angst vor mir hat.« Diotima antwortete nichts darauf. Das, was Ulrich sprach, mochte anmaßend sein, aber es war ihr eingefallen, daß das Gespräch, das er wiedergegeben hatte, keineswegs ganz so war, wie es nach dem Eindruck, den Arnheim in ihr hervorgerufen hatte, hätte sein müs- sen. Das beunruhigte sie sogar. Obgleich sie Arnheim eines intri- ganten Zuges ganz unfähig hielt, gewann Ulrich doch an Vertrauen, und sie richtete die Frage an ihn, was also er in der Angelegenheit des Generals Stumm raten würde. »Fernhalten!« gab Ulrich zur Antwort, und Diotima konnte sich nicht den Vorwurf ersparen, daß ihr das gut gefiel. 67 Diotima und Ulrich Das Verhältnis Diotimas zu Ulrich hatte sich in dieser Zeit durch das zur Gewohnheit gewordene Beisammensein sehr gebessert. Sie mußten oft gemeinsam ausfahren, um Besuche zu machen, und er kam mehrmals wöchentlich und nicht selten unange- kündigt und zu ungebräuchlichen Zeiten zu ihr. Es war ihnen beiden unter diesen Umständen bequem, aus ihrem verwandtschaft- lichen Verhältnis Nutzen zu ziehen und die strengen gesellschaft- lichen Vorschriften häuslich zu mildern. Diotima empfing ihn nicht immer im Salon und vom Haarknoten bis zum Rocksaum in Vollen- dung gepanzert, sondern zuweilen in leichter häuslicher Auflösung, wenn das auch bloß eine sehr vorsichtige Auflösung bedeutete. Es war eine Art Zusammengehörigkeit zwischen ihnen entstanden, die hauptsächlich in der Form des Verkehrs lag; aber Formen haben -283- eine Wirkung nach innen, und die Gefühle, aus denen sie gebildet sind, können durch sie auch geweckt werden. Ulrich fühlte zuweilen mit aller Eindringlichkeit, daß Diotima sehr schön sei. Sie kam ihm dann wie ein junges, hohes, volles Rind von guter Rasse vor, sicher wandelnd und mit tiefem Blick die trok- kenen Gräser betrachtend, die es ausrupfte. Er sah sie also auch dann nicht ohne jene Bosheit und Ironie an, die sich durch Ver- gleiche aus dem Tierreich an Diotimas Geistesadel rächte und aus einem tiefen Zürnen kam; es galt weniger diesem törichten Muster- kind als der Schule, in der seine Leistungen Erfolg hatten. »Wie angenehm könnte sie sein,« dachte er »wenn sie ungebildet, nach- lässig und so gutmütig wäre, wie es ein großgestalteter warmer weiblicher Körper immer ist, wenn er sich keine besonderen Ideen einbildet!« Die berühmte Gattin des vielberaunten Sektionschefs Tuzzi verflüchtigte sich sodann aus ihrem Körper, und es blieb nur dieser selbst übrig wie ein Traum, der samt Polstern, Bett und Träumendem zu einer weißen Wolke wird, die mit ihrer Zärtlich- keit ganz allein auf der Welt ist. Kehrte Ulrich aber von einem solchen Ausflug der Einbildungs- kraft zurück, so sah er einen strebsamen bürgerlichen Geist vor sich, der Verkehr mit adeligen Gedanken suchte. Körperliche Verwandt- schaft bei starkem Wesensgegensatz beunruhigt übrigens, und es genügt dazu auch schon die Vorstellung der Verwandtschaft, das Selbstbewußtsein; Geschwister können sich manchmal in einer Weise nicht ausstehen, die weit über alles hinausreicht, was daran gerecht- fertigt sein könnte, und bloß davon kommt, daß sie einander schon durch ihr Dasein in Zweifel ziehen und eine leise verzerrende Spie- gelwirkung auf einander haben. Es genügte manchmal, daß Diotima ungefähr ebenso groß war wie Ulrich, um den Gedanken zu wecken, daß sie mit ihm verwandt sei, und ihn Abneigung gegen ihren Kör- per fühlen zu machen. Er hatte ihr da, wenn auch mit einigen Ver- änderungen, eine Aufgabe übertragen, die sonst sein Jugendfreund Walter innehatte; eigentlich die, seinen Stolz zu demütigen und zu reizen, ähnlich wie uns alte unangenehme Bilder, in denen wir uns wiedersehen, vor uns demütigen und zugleich in unserem Stolz her- ausfordern* Es ging daraus hervor, daß auch in dem Mißtrauen, das Ulrich Diotima schenkte, etwas Bindendes und Zusammenschlie- ßendes, kurz ein Hauch echter Neigung vorhanden sein mußte, so wie die einstige herzliche Zugehörigkeit zu Walter sich noch in der Form des Mißtrauens fortfristete. Das befremdete Ulrich, da er doch Diotima nicht mochte, lange Zeit sehr, ohne daß er dahinter kommen konnte. Sie machten manch- mal gemeinsame kleine Ausflüge; mit Tuzzis Unterstützung wurde das gute Wetter benützt, um Arnheim trotz der ungünstigen Jah- -284- reszeit »die Schönheiten der Umgebung Wiens« zu zeigen — Di- otima gebrauchte niemals einen anderen Ausdruck dafür als dieses Klischee — , und Ulrich hatte sich in der Rolle einer älteren Ver- wandten, die den Ehrenschutz besorgt, jedesmal mitgenommen ge- sehen, da Sektionschef Tuzzi nicht abkömmlich war, und später hatte es sich herausgestellt, daß Ulrich mit Diotima auch allein fuhr, wenn Arnheim verreist war. Dieser hatte für solche Ausflüge, wie dann auch für die unmittelbaren Zwecke der Aktion, Wagen zur Verfügung gestellt, so viel man brauchte, denn das Fuhrwerk Se. Erlaucht war in seiner Wappengeschmücktheit zu stadtbekannt und auffällig; es waren übrigens auch nicht Arnheims eigene Wagen, da reiche Leute immer andere finden, die sich ein Vergnügen dar- aus machen, ihnen gefällig zu sein. Solche Ausfahrten dienten nicht nur dem Vergnügen, sundern hatten auch den Zweck, um die Teilnahme einflußreicher oder wohl- habender Personen an dem vaterländischen Unternehmen zu wer- ben, und fanden noch öfter in der städtischen Bannmeile statt als über Land. Die beiden Verwandten sahen gemeinsam viel Schö- nes; Maria-Theresien-Möbel, Barockpaläste, Menschen, die sich noch auf den Händen ihrer Dienerschaft durch die Welt tragen ließen, neuzeitliche Häuser mit großen Zimmerfluchten, Bankpa- läste und die Mischung spanischer Strenge mit den Lebensgewohn- heiten des Mittelstands in den Wohnungen hoher Staatsdiener. Im ganzen waren es, was den Adel anging, die Reste einer großen Le- benshaltung ohne fließendes Wasser, und in den Häusern und Kon- ferenzzimmern des bürgerlichen Reichtums wiederholte sich diese als hygienisch verbesserte, geschmackvollere, aber blassere Kopie. Eine Herrenkaste bleibt immer ein wenig barbarisch: Schlacken und Reste, die das Weiterglimmen der Zeit nicht verbrannt hatte, wa- ren in den adeligen Schlössern liegen geblieben, wo sie lagen, knapp neben Prunkstiegen trat der Fuß auf Dielen aus weichem Holz, und abscheuliche neue Möbel standen unbekümmert zwischen wun- dervollen alten Stücken. Die Klasse der Emporgekommenen dage- gen, verliebt in die imposanten und großen Momente ihrer Vor- gänger, hatte unwillkürlich eine wählerische und verfeinernde Aus- lese getroffen. War ein Schloß in bürgerlichem Besitz, so zeigte es sich nicht nur wie ein Familienstück von Kronleuchter, durch das man elektrische Drähte gezogen hat, mit moderner Bequemlichkeit versehen, sondern auch in der Einrichtung war weniger Schönes ausgeschieden und Wertvolles dazu gesammelt worden, entweder nach eigener Wahl oder nach dem unwidersprechlichen Rat von Sachverständigen. Am eindringlichsten zeigte sich diese Verfeine- rung übrigens nicht einmal in Schlössern, sondern in den Stadt- wohnungen, die zeitgemäß mit dem unpersönlichen Prunk eines -285- Ozeandampfers eingerichtet waren, aber in diesem Lande verfei- nerten gesellschaftlichen Ehrgeizes durch einen unwiedergeblichen Hauch, ein kaum merkliches Auseinandergestelltsein der Möbel oder die beherrschende Stellung eines Bildes an einer Wand, das zart deutliche Echo einer großen Verklungenheit bewahrten. Diotima war entzückt von so viel »Kultur«; sie hatte immer ge- wußt, daß ihre Heimat solche Schätze berge, aber das Ausmaß überraschte selbst sie. Sie wurden bei Landbesuchen gemeinsam eingeladen, und es fiel Ulrich auf, daß er Obst nicht selten unge- schält aus der Hand essen sah oder ähnliches, während in Groß- bürgerhäusern das Zeremoniell von Messer und Gabel strenge ge- wahrt wurde; die gleiche Beobachtung ließ sich auch an der Unter- haltung anstellen, die von vollendeter Distinktion fast nur in Bür- gerhäusern war, wogegen in Adelskreisen die bekannte zwanglose, an Kutscher erinnernde Redeweise überwog. Diotima verteidigte das mit Schwärmerei gegen ihren Vetter. Bürgerliche Edelsitze, gab sie zu, seien mit mehr Hygiene und größerer Intelligenz ein- gerichtet. In den adeligen Landschlössern friere man im Winter; schmale, ausgetretene Treppen seien keine Seltenheit, und muf- fige, niedrige Schlafräume fänden sich neben prunkvollen Emp- fangszimmern. Es gebe auch keinen Speisenaufzug und kein Die- nerbad. Aber gerade das sei nun einmal in gewissem Sinn das He- roischere, das Ererbte und großartig Nachlässige! schloß sie ent- zückt. Ulrich benützte solche Ausfahrten, um dem Gefühl nachzufor- schen, das ihn Diotima verband. Aber da alles dabei voll von Ab- schweifungen war, muß man ihnen ein wenig folgen, ehe man an das Entscheidende herankommt: Damals trugen die Frauen Kleider, die vom Hals bis zu den Knö- cheln geschlossen waren, und den Männern, obgleich sie noch heute ähnliche Kleider tragen wie damals, waren sie zu jener Zeit ange- messener, denn sie stellten noch in lebendigem Zusammenhang die tadellose Geschlossenheit und strenge Zurückhaltung nach außen dar, die als Zeichen des Mannes von Welt galt. Die wasserhelle Aufrichtigkeit, sich nackt zur Schau zu stellen, würde selbst einem Menschen, der wenig Vorurteile hatte und in der Würdigung des entkleideten Leibes von keinerlei Scham behindert wurde, damals als ein Rückfall ins Tierische erschienen sein, nicht wegen der Nackt- heit, sondern wegen des Verzichtes auf das zivilisierte Liebesmittel der Bekleidung. Ja eigentlich hätte man zu jener Zeit wohl gesagt, unter das Tierische; denn ein dreijähriges Pferd von guter Zucht und ein spielender Windhund sind viel ausdrucksvoller in ihrer Nacktheit, als es ein menschlicher Leib erreichen kann. Dagegen können sie keine Kleider tragen; sie haben nur eine Haut, die Men- -286- sehen aber hatten damals noch viele Häute. Mit dem großen Kleid, seinen Rüschen, Puffen, Glocken, Glockenfällen, Spitzen und Raf- fungen hatten sie sich eine Oberfläche geschaffen, die fünfmal so groß war wie die ursprüngliche und einen faltenreichen, schwer zu- gänglichen, mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiße Tier verbarg, das sich suchen ließ und fürchterlich begehrenswert machte. Es war das vorgezeich- nete Verfahren, das die Natur selbst anwendet, wenn sie ihre Ge- schöpfe Bälge sträuben oder Wolken von Dunkelheit ausspritzen heißt, um in Liebe und Schreck die nüchternen Vorgänge, auf die es dabei ankommt, bis zur unirdischen Torheit zu steigern. Diotima fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben von diesem Spiel, wenn auch in dezentester Weise, tiefer berührt. Koketterie war ihr nicht fremd, denn sie gehörte zu den gesellschaftlichen Auf- gaben, die eine Dame beherrschen muß; auch war es ihr nie ent- gangen, wenn die Blicke junger Männer dabei etwas anderes als Ehrfurcht für sie ausdrückten, ja sie hatte das sogar gern, weil es sie die Macht sanfter weiblicher Zurechtweisung fühlen ließ, wenn sie den wie die Hörner eines Stiers auf sie gerichteten Blick eines Man- nes zwang, sich idealen Ablenkungen zuzuwenden, die ihr Mund äußerte. Aber Ulrich, gedeckt durch die verwandtschaftliche Nähe und die Selbstlosigkeit seiner Mithilfe an der Parallelaktion, be- schützt auch durch das zu seinen Gunsten errichtete Kodizill, er- laubte sich Freiheiten, die das verästelte Geflecht ihres Idealismus senkrecht durchdrangen. So war es einmal bei einer Ausfahrt über Land vorgekommen, daß der Wagen an entzückenden Tälern \orbeirollte, zwischen denen von dunklen Fichtenwäldern be- deckte Berghänge nahe an die Straße herantraten, und Diotima mit den Versen »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben . . . ?« darauf hindeutete; sie zitierte diese Verse selbstverständlich als Gedicht, ohne den dazugehörigen Gesang auch nur anzudeuten, denn das wäre ihr verbraucht und nichts- sagend erschienen. Aber Ulrich erwiderte: »Die Niederöster- reichische Bodenbank. Das wissen Sie nicht, Kusine, daß alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ein bei ihr angestellter Forstmeister. Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie; ein reihen- weise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.« Von dieser Art waren sehr oft seine Antworten. Wenn sie von Schönheit sprach, sprach er von einem Fettgewebe, das die Haut stützt. Wenn sie von Liebe sprach, sprach er von der Jahreskurve, die das automatische Steigen und Sinken der Geburtenziffer anzeigt. Wenn sie von den großen Gestalten der Kunst sprach, fing er mit der Kette der Ent- -287- lehnungen an, die diese Gestalten untereinander verbindet. Es kam eigentlich immer so, daß Diotima zu sprechen begann, als ob Gott den Menschen am siebenten Tage als Perle in die Weltmuschel hin- eingesetzt hätte, worauf er daran erinnerte, daß der Mensch ein Häuflein von Pünktchen auf der äußersten Rinde eines Zwergglo- bus sei. Es war nicht ganz einfach zu durchschauen, was Ulrich da- mit wollte; offenbar galt es jener Sphäre des Großen, der sie sich verbunden fühlte, und Diotima empfand es vor allem als kränkende Besserwisserei. Sie konnte nicht vertragen, daß ihr Vetter, der nun einmal für sie ein Schreckenskind war, etwas besser wissen wolle als sie, und seine materialistischen Einwände, von denen sie nichts verstand, weil er sie aus der niederen Zivilisation des Rechnens und der Genauigkeit holte, ärgerten sie gröblich. — »Es gibt gottlob noch Menschen,« erwiderte sie ihm einmal scharf »die trotz großer Erfahrungen an das Einfache zu glauben vermögen!« »Zum Bei- spiel Ihr Gatte« antwortete Ulrich. »Ich wollte Ihnen schon lange sagen, daß ich ihn beiweitem Arnheim vorziehe!« Sie hatten damals die Gewohnheit angenommen, ihre Gedanken oft in der Form auszutauschen, daß sie über Arnheim sprachen. Denn wie allen Verliebten, bereitete es Diotima Vergnügen, von dem Gegenstand ihrer Liebe zu reden, ohne sich, wie sie wenigstens glaubte, dabei zu verraten; und weil Ulrich das so unausstehlich fand, wie es für jeden Mann ist, der keine hintergründige Absicht mit seinem eigenen Zurücktreten verbindet, kam es bei solchen Ge- legenheiten oft vor, daß er Ausfälle gcgtn Arnheim machte. Ihn mit diesem verbindend, war ein Verhältnis eigener Art entstanden. Sie begegneten einander, wenn Arnheim nicht verreist war, fast täglich. Ulrich wußte, daß Sektionschef Tuzzi den Fremden bearg- wöhnte, so wie er selbst dessen Wirkung auf Diotima vom ersten Tag an hatte beobachten können. Zwischen diesen beiden schien es etwas Unrechtes freilich noch nicht zu geben, sofern ein Dritter das beurteilen kann, der in dieser Mutmaßung sehr dadurch bestärkt wurde, daß es unausstehlich viel Rechtes zwischen dem Liebespaar gab, das offenbar den höchsten Vorbildern platonischer Seelenge- meinschaft nacheiferte. Dabei bekundete Arnheim eine auffallende Neigung, den Vetter seiner Freundin (oder vielleicht doch Gelieb- ten? — fragte sich Ulrich; für das Wahrscheinlichste hielt er etwas wie Geliebte mehr als Freundin, geteilt durch zwei) in das vertrau- liche Verhältnis einzubeziehn. Er richtete oft sein Wort an Ulrich in der Weise eines älteren Freundes, die durch den Altersunter- schied erlaubt war, aber durch den Unterschied der Stellung einen unangenehmen Zug von Herablassung gewann. Ulrich erwiderte das auch fast immer abweisend und in ziemlich herausfordernder Art, so als wüßte er nicht im geringsten den Verkehr mit einem -288- Mann zu schätzen, der sich, statt mit ihm, mit Königen und Kanz- lern über seine Ideen unterhalten konnte. Er widersprach ihm un- höflich oft und ungeziemend ironisch und ärgerte sich selbst über diesen Mangel an Haltung, den er besser durch das Vergnügen schweigender Beobachtung ersetzt hätte. Aber es geschah zu seinem eigenen Erstaunen, daß er sich durch Arnheim so heftig gereizt fühlte. Er sah den von der Gunst der Verhältnisse gemästeten, vor- bildlichen Einzelfall einer geistigen Entwicklung in ihm, die er haßte. Denn dieser berühmte Schriftsteller war klug genug, um die fragwürdige Lage zu begreifen, in die sich der Mensch gebracht hat, seit er sein Bild nicht mehr im Spiegel der Bäche sucht, sondern in den scharfen Bruchflächen seiner Intelligenz; aber dieser schreibende Eisenkönig gab die Schuld daran dem Auftreten der Intelligenz und nicht ihrer Unvollkommenheit. Es lag ein Schwindel in dieser Vereinigung von Kohlenpreis und Seele, die zugleich eine zweck- dienliche Trennung dessen war, was Arnheim mit hellem Wis- sen tat, von dem, was er in dämmeriger Ahnung redete und schrieb. Dazu kam, um noch mehr Unbehagen in Ulrich zu er- regen, etwas, das ihm neu war, die Verbindung von Geist mit Reichtum; denn wenn Arnheim annähernd wie ein Spezialist über irgendeine Einzelfrage sprach, um dann plötzlich mit einer lässigen Gebärde die Einzelheiten im Licht eines »großen Gedan- kens« verschwinden zu lassen, so mochte das wohl einem nicht unberechtigten Bedürfnis entspringen, aber zugleich erinnerte die- ses freie Verfügen nach zwei Richtungen an den reichen Mann, der sich alles leistet, was gut und teuer ist. Er war geistreich in einer immer ein wenig an das Verfahren des wirklichen Reichtums ge- mahnenden Bedeutung. Und vielleicht war es auch das noch nicht, was Ulrich am meisten reizte, dem berühmten Mann Schwierig- keiten zu bereiten, sondern das war vielleicht die Neigung, die des- sen Geist zu einer würdigen Hof- und Haushaltung bekundete, die von selbst zur Verbindung mit den besten Marken des Herkömm- lichen wie des Ungewöhnlichen führt; denn im Spiegel ihrer ge- nießerischen Kennerschaft sah Ulrich die affektierte Fratze, die das Gesicht der Zeit ist, wenn man daraus die wenigen wirklich star- ken Züge der Leidenschaft und des Denkens entfernt, und fand dar- über kaum Gelegenheit, auf den Mann besser einzugehen, dem man wahrscheinlich auch allerlei Verdienste nachsagen konnte. Es war natürlich ein völlig sinnloser Kampf* den er da führte, in einer Umgebung, die Arnheim von vornherein rechtgab, und für eine Sache, die gar keine Wichtigkeit besaß; bestenfalls hätte man sagen können, daß diese Sinnlosigkeit den Sinn restloser Selbstverschwen- dung hatte. Es war aber auch ein ganz aussichtsloser Kampf, denn wenn es Ulrich wirklich einmal gelang, seinen Gegner zu verwun- 19 Musil, Mann - 289 - den, so mußte er erkennen, daß er die falsche Seite getroffen hatte; gleich einem geflügelten Wesen erhob sich dann, wenn der Geist- mensch Arnheim besiegt am Boden zu liegen schien, der Wirklich- keitsmensch Arnheim mit einem nachsichtigen Lächeln und eilte von solcher Gespräche müßigem Wesen zu Taten nach Bagdad oder Madrid. Diese Unverwundbarkeit ermöglichte es ihm, der Ungezogenheit des jüngeren Mannes jene freundschaftliche Kameradschaft ent- gegenzusetzen, über deren Ursprung dieser mit sich nicht ins reine kam. Allerdings war Ulrich selbst daran gelegen, seinen Gegner nicht zu sehr herabzusetzen, denn er hatte sich vorgenommen, nicht so leicht wieder eines der halben und unwürdigen Abenteuer zu be- ginnen, an denen seine Vergangenheit viel zu reich war, und die Fortschritte, die er zwischen Arnheim und Diotima bemerkte, schenkten diesem Vorsatz eine große Sicherheit. Er richtete die Spitzen seiner Angriffe darum gewöhnlich so ein wie die eines Flo- retts, die biegsam nachgeben und von einer den Stoß freundschaft- lich abschwächenden kleinen Hülle umgeben sind. Diesen Vergleich hatte übrigens Diotima gefunden. Es erging ihr verwunderlich mit ihrem Vetter. Sein offenes Gesicht mit der klaren Stirn, seine ruhig atmende Brust, die freie Beweglichkeit in allen seinen Glie- dern verrieten ihr, daß bösartige, hämische, umgebogen-wollüstige Bedürfnisse in diesem Körper nicht zu Hause sein konnten; sie war ja auch nicht ganz ohne Stolz auf solche gute Erscheinung eines Mit- glieds ihrer Familie und hatte gleich bei Beginn ihrer Bekannt- schaft den Entschluß gefaßt, ihn unter ihre Leitung zu nehmen. Hätte er nun schwarze Haare, eine schiefe Schulter, unreine Haut und eine niedere Stirn gehabt, so würde sie gesagt haben, daß seine Anschauungen dazu stimmten; wie er aber in Wirklichkeit aussah, fiel ihr nur eine gewisse Nichtübereinstimmung mit seinen Ansich- ten auf und machte sich als unerklärliche Beunruhigung fühlbar. Die Tastfäden ihrer berühmten Intuition fahndeten vergeblich nach der Ursache, aber dieses Fahnden bereitete ihr am anderen Faden- ende Vergnügen. In gewissem Sinn, natürlich nicht in einem ganz ernsten, unterhielt sie sich sogar mit Ulrich zuweilen lieber als mit Arnheim. Ihr Überlegenheitsbedürfnis fand an ihm mehr Befrie- digung, sie hatte sich sicherer in der Hand, und was sie für seine Frivolität, Verstiegenheit oder nicht erlangte Reife hielt, gab ihr eine gewisse Genugtuung, die den täglich gefährlicher werdenden Idealismus ausglich, den sie in ihren Gefühlen für Arnheim unbe- rechenbar anwachsen sah. Seele ist eine furchtbar schwere Ange- legenheit und demzufolge Materialismus eine heitere. Die Regelung ihrer Beziehungen zu Arnheim strengte sie manchmal ebensosehr an wie ihr Salon, und die Geringschätzung für Ulrich erleichterte -290- ihr das Leben. Sie begriff sich nicht, stellte aber diese Einwirkung- fest, und das ermöglichte es ihr, wenn sie ihrem Vetter wegen einer seiner Bemerkungen zürnte, ihm einen Blick von der Seite zu sen- den, der nur ein winziges Lächeln im Augenwinkel war, indes das Auge idealistisch ungerührt, ja sogar ein bißchen verächtlich ge- radeaus blickte. Jedenfalls, was immer auch die Gründe gewesen sein mögen, verhielten sich Diotima und Arnheim so zu Ulrich wie zwei Kämp- fende, die sich an einem Dritten anhalten, den sie in wechselnder Angst zwischen sich schieben, und solche Lage war für ihn nicht ungefährlich, denn durch Diotima wurde dabei die Frage lebendig: Müssen Menschen mit ihrem Körper übereinstimmen oder nicht? 68 Eine Abschweifung: Müssen Menschen mit ihrem Körper übereinstimmen? Unabhängig von dem, wovon die Gesichter sprachen, schaukelte die Bewegung des Wagens auf ihren langen Fahrten die bei- den Verwandten, so daß sich die Kleider berührten, ein wenig übereinanderschoben und wieder voneinander entfernten; man konnte es nur an den Schultern erkennen, weil das andere von einer gemeinsamen Decke verhüllt war, aber die Körper empfanden die- ses von den Kleidern gedämpfte Berühren so zart verschwommen, wie man die Dinge in einer Mondnacht sieht. Ulrich war für dieses Kunstspiel der Liebe nicht unempfänglich, ohne es sonderlich ernst zu nehmen. Das überfeinerte Übertragen des Begehrens vom Leib auf die Kleidung, von der Umarmung auf die Widerstände oder mit einem Wort vom Ziel auf den Weg kam seiner Natur entge- gen; sie wurde durch ihre Sinnlichkeit zur Frau hingetrieben, aber durch ihre höheren Kräfte von dem fremden, nicht zu ihr passen- den Menschen zurückgehalten, den sie plötzlich unerbittlich deut- lich vor sich sah, so daß sie sich immer in lebhaften Widersprüchen zwischen Neigung und Abneigung befand. Aber das heißt, daß die hohe Schönheit des Leibes, die menschliche, der Augenblick, wo die Melodie des Geistes aus dem Instrument der Natur aufsteigt, oder jener andere Augenblick, wo der Körper wie ein Kelch ist, den ein mystischer Trank erfüllt, ihm zeit seines Lebens fremd geblieben war, wenn man von den Träumen absieht, die der Frau Major ge- golten und solche Neigungen für die längste Zeit in ihm abgeschafft hatten. Alle seine Beziehungen zu Frauen waren seither unrecht gewe- -291- sen, und bei einigem guten Willen auf beiden Seiten geht das lei- der sehr einfach. Da gibt es ein Schema von Gefühlen, Handlungen und Verwicklungen, das Mann und Frau, sobald sie nur den ersten Gedanken daran wenden, bereit finden, sich ihrer zu bemächtigen, und es ist ein im inneren Sinn verkehrter Ablauf, bei dem die letz- ten Geschehnisse voran sich drängen, kein Strömen von der Quelle mehr; das reine Gefallen zweier Menschen aneinander, dieses schlichteste und tiefste der Liebesgefühle, das der natürliche Ursprung aller anderen ist, kommt bei dieser psychischen Verkehrung über- haupt nicnt mehr vor. So erinnerte sich auch Ulrich nicht selten bei seinen Fahrten mit Diotima an ihren Abschied bei seinem ersten Besuch. Er hatte damals ihre milde Hand in der seinen gehalten, eine künstlich und edel vervollkommnete Hand ohne Schwere, und sie hatten einander dabei in die Augen gesehn; sie hatten sicher beide Abneigung gefühlt, aber daran gedacht, daß sie einander doch bis zum Verhauchen durchdringen könnten. Etwas von dieser Vi- sion war zwischen ihnen stehen geblieben. So wenden oben zwei Köpfe einander eine entsetzliche Kälte zu, während unten die Kör- per widerstandslos und glühend ineinanderfließen. Es liegt etwas bösartig Mythisches darin, wie in einem zweiköpfigen Gott oder dem Pferdefuß des Teufels, und hatte Ulrich in seiner Jugend, als er es öfter erlebte, viel irre geführt, aber mit den Jahren hatte sich erwiesen, daß es nichts sei als ein sehr bürgerliches Reizmittel der Liebe, ganz im gleichen Sinn wie der Ersatz der Nacktheit durch das Entkleidete. An nichts entzündet sich die bürgerliche Liebe so sehr wie an der schmeichelhaften Erfahrung, daß man die Kraft besitzt, einen Menschen in ein Entzücken zu jagen, worin er sich so toll benimmt, daß man geradezu zum Mörder werden müßte, wenn man auf zweite Weise die Ursache solcher Veränderungen werden wollte. — Und wahrhaftig, daß es solche Veränderungen zivilisierter Menschen gibt, daß solche Wirkung von uns ausgeht!: liegt nicht diese Frage und Verwunderung in den kühnen und ver- glasten Augen all derer, die an der einsamen Insel der Wollust anlegen, wo sie Mörder, Schicksal und Gott sind und auf äußerst bequeme Weise den höchsten ihnen erreichbaren Grad von Irra- tionalität und Abenteuerlichkeit erleben? Die Abneigung, die er mit der Zeit gegen diese Art Liebe erwarb, erstreckte sich schließlich auch auf seinen eigenen Körper, der das Zustandekommen solcher verkehrten Verbindungen immer begün- stigt hatte, indem er den Frauen eine gangbare Männlichkeit vor- spiegelte, für die Ulrich zu viel Geist und innere Widersprüche besaß. Er war mitunter geradezu auf seine Erscheinung wie auf ei- nen mit billigen und nicht ganz lauteren Mitteln arbeitenden Riva- len eifersüchtig, worin Widerspruch zutage trat, der auch in an- -292- deren vorhanden ist, die ihn nicht fühlen* Denn er war es selbst, der diesen Körper mit athletischen Übungen pflegte und ihm die Gestalt, den Ausdruck, die Handlungsbereitschaft gab, deren Wir- kung nach innen nicht zu gering ist, als daß man sie mit dem Ein- fluß eines ewig lächelnden oder eines ewig ernsten Gesichtes auf die Gemütsstimmung vergleichen könnte; und merkwürdigerweise hat die Mehrzahl der Menschen entweder einen verwahrlosten, von Zufällen geformten und entstellten Körper, der zu ihrem Geist und Wesen in fast keinen Beziehungen zu stehen scheint, oder einen von der Maske des Sports bedeckten, die ihm das Aussehen der Stunden gibt, wo er sich auf Urlaub von sich selbst befindet. Denn das sind die Stunden, wo der Mensch einen nachlässig aus den Jour- nalen der schönen und großen Welt aufgenommenen Wachtraum des Aussehenwollens weiterspinnt. Alle diese gebräunten und mus- kulösen Tennisspieler, Reiter und Wagenlenker, die nach höchsten Rekorden aussehen, obgleich sie gewöhnlich ihre Sache bloß gut beherrschen, diese Damen in großer Kleidung oder Entkleidung sind Tagesträumer und unterscheiden sich von den gewöhnlichen Wachträumern nur dadurch, daß ihr Traum nicht im Gehirn bleibt, sondern gemeinsam in freier Luft, als ein Gebilde der Massenseele körperlich, dramatisch, man möchte in Erinnerung an mehr als zwei- felhafte okkulte Phänomene sagen, ideoplastisch gestaltet wird. Aber sie haben mit den gewöhnlichen Spinnern von Phantasien ganz und gar eine gewisse Seichtheit ihres Traums gemeinsam, so- wohl was seine Nähe am Erwachen angeht wie seinen Inhalt. Das Problem der Gesamtphysiognomie scheint sich heute noch zu ver- stecken; obgleich man aus Schrift, Stimme, Schlaf Stellung und Gott weiß was Schlüsse auf das Wesen von Menschen zu ziehen gelernt hat, die manchmal sogar überraschend richtig sind, hat man für den Körper als Ganzes nur Modevorbilder, nach denen er sich gestal- tet, oder höchstens eine Art moralischer Naturheilphilosophie. Aber ist das der Körper unseres Geistes, unserer Ideen, Ahnun- gen und Pläne oder — die hübschen inbegriffen — der unserer Torheiten? Daß Ulrich diese Torheiten geliebt hatte und zum Teil noch besaß, hinderte ihn nicht, sich in dem von ihnen geschaffenen Körper nicht zu Hause zu fühlen. 69 Diotima und Ulrich. Fortsetzung Und vornehmlich war es Diotima, die dieses Gefühl, daß die Oberfläche und die Tiefe seiner Lebensgestalt nicht eins seien, -293- auf eine neue Weise in ihm bestärkte. Auf den Fahrten mit ihr, die zuweilen wie Fahrten durch den Mondschein waren, wo sich die Schönheit dieser jungen Frau von ihrer ganzen Person löste und wie ein Traumgespinst für Augenblicke seine Augen bedeckte, kam es deutlich zum Ausbruch. Er wußte wohl, daß Diotima alles, was er sagte, mit dem verglich, was allgemein — wenn auch auf einer gewissen Höhe der Allgemeinheit — gesagt wird, und es war ihm angenehm, daß sie es »unreif« fand, so daß er beständig wie vor einem verkehrt auf ihn gerichteten Fernglas dasaß. Er wurde immer kleiner und glaubte, wenn er mit ihr sprach, oder war wenigstens nicht weit davon es zu glauben, in seinen eigenen Worten, wenn er den Anwalt des Bösen und Nüchternen machte, die Gespräche sei- ner letzten Schulzeit zu hören, wo er mit seinen Kameraden just deshalb von allen Übeltätern und Unholden der Weltgeschichte geschwärmt hatte, weil sie von den Lehrern mit idealistischem Ab- scheu so bezeichnet wurden. Und wenn ihn Diotima mit Unwillen ansah, wurde er noch einmal kleiner und langte von der Moral des Heroismus und Expansionsdrangs bei der trotzig verlogenen, roh und unsicher ausschweifenden der Flegeljahre an, — natürlich nur sehr bildlich gesprochen, wie man in einer Gebärde, einem Wort eine entfernte Ähnlichkeit mit Gebärden oder Worten entdecken kann, die man längst abgelegt hat, ja sogar mit Gebärden, die man nur geträumt oder unwillig an anderen gesehen hat; aber immer- hin, in seiner Lust, bei Diotima Anstoß zu erregen, klang das mit. Der Geist dieser Frau, die ohne ihren Geist so schön gewesen wäre, erregte ein unmenschliches Gefühl, vielleicht eine Furcht vor Geist in ihm, eine Abneigung gegen alle großen Dinge, ein Gefühl, das ganz schwach, kaum unterscheidbar war, — und vielleicht war schon Gefühl ein viel zu anspruchsvoller Ausdruck für solchen hin- geblasenen Hauch ! Aber wenn man es in Worte vergrößerte, hätten die etwa so lauten müssen, daß er zuweilen nicht bloß den Idealis- mus dieser Frau, sondern den ganzen Idealismus der Welt, in sei- ner Verzweigtheit und Ausbreitung, körperlich vor sich sah, eine Handbreit über dem griechischen Scheitel schwebend; gerade daß es nicht des Teufels Hörner waren! Dann wurde er noch einmal kleiner und kehrte, weiter bildlich gesprochen, in die leidenschaft- liche erste Moral der Kindheit zurück, in deren Auge Verlockung und Schreck ist wie im Blick einer Gazelle. Die zärtlichen Empfin- dungen dieser Zeit können in einem einzigen Augenblick der Hin- gabe die ganze, da noch kleine Welt entflammen, denn sie haben weder einen Zweck noch eine Möglichkeit, irgend etwas zu bewir- ken, und sind ganz und gar grenzenloses Feuer; es paßte schlecht zu Ulrich, aber nach diesen Gefühlen der Kindheit, die er sich kaum noch vorstellen konnte, weil sie mit den Bedingungen, unter denen -294- ein Erwachsener lebt, so wenig mehr gemein haben, sehnte er sich schließlich in Gesellschaft Diotimas. Und einmal fehlte nicht viel daran, daß er es ihr eingestanden hätte. Sie hatten auf einer Fahrt den Wagen verlassen und gingen zu Fuß in ein kleines Tal hinein, das wie eine Flußmündung aus Wiesen mit bewaldeten Steilufern war und ein krummes Dreieck bildete, in dessen Mitte ein geschlängelter, von leichtem Frost er- starrter Bach lag. Die Hänge waren teilweis abgeholzt, mit einzel- nen stehen gelassenen Bäumen, die auf den Kahlschlägen und Hügelkämmen wie eingepflanzte Federwimpel aussahen. Diese Landschaft hatte sie zum Gehen verlockt; es war einer jener rüh- renden schneefreien Tage, die mitten im Winter wie ein verblaßtes, aus der Mode gekommenes Sommerkleid anzusehen sind. Diotima fragte plötzlich ihren Vetter: »Warum nennt Sie Arnheim eigent- lich einen Aktivisten? Er sagt, Sie hätten immer den Kopf voll davon, wie die Dinge anders und b< sser zu machen wären.« Sie hatte sich mit einemmal erinnert, daJ\ ihr Gespräch mit Arnheim über Ulrich und den General geendec hatte, ohne einen Abschluß zu finden. »Ich verstehe das nicht,« fuhr sie fort »denn mir kommt vor, daß Sie selten etwas ernst meinen. Aber ich muß Sie fragen, da wir eine verantwortungsvolle Aufgabe gemeinsam haben! Er- innern Sie sich noch an unser letztes Gespräch? Sie haben da etwas gesagt, Sie haben behauptet, niemand würde, wenn er alle Macht hätte, das verwirklichen, was er will. Ich möchte jetzt wissen, wie Sie das gemeint haben. War denn das nicht ein entsetzlicher Gedanke?« Ulrich schwieg zunächst. Und während dieser Stille, nachdem sie ihre Rede so keck wie möglich vorgebracht hatte, wurde ihr klar, wie lebhaft sie die unerlaubte Frage beschäftigte, ob Arnheim und sie das verwirklichen würden, was sie jeder im geheimen wollten. Sie glaubte plötzlich, daß sie sich vor Ulrich verraten habe. Sie wurde rot, suchte es zu verhindern, wurde noch röter und trachtete, mit möglichst unbeteiligtem Ausdruck über das Tal von ihm fort- zublicken. Ulrich hatte den Vorgang beobachtet. »Ich fürchte sehr, daß der einzige Grund, warum mich Arnheim, wie Sie sagen, einen Akti- visten nennt, der ist, daß er meinen Einfluß im Hause Tuzzi über- schätzt« erwiderte er. »Sie wissen selbst, wie wenig Sie auf meine Worte geben. Aber in dem Augenblick jetzt, wo Sie mich gefragt haben, ist mir klar geworden, welchen Einfluß ich auf Sie haben sollte. Darf ich es Ihnen sagen, ohne daß Sie mich sofort wieder tadeln?« Diotima nickte stumm, zum Zeichen des Einverständnisses, und suchte sich hinter dem Anschein der Zerstreutheit wieder zu sammeln. »Ich habe also behauptet,« begann Ulrich »niemand würde, auch -295- wenn er konnte, verwirklichen, was er will. Erinnern Sie sich an unßere Mappen voll Vorschläge? Und nun frage ich Sie- Würde irgendeiner nicht in Verlegenheit geraten, wenn plötzlich das ge- schehen sollte, was er sein Leben lang leidenschaftlich gefordert hat? Wenn zum Beispiel plötzlich über die Katholiken das Gottes- reich hereinbräche oder über die Sozialisten der Zukunftsstaat? Aber vielleicht beweist das nichts; man gewöhnt sich an das For- dern und ist nicht gleich darauf gefaßt, ans Verwirklichen zu kom- men; vielleicht werden das viele nur naturlich finden. Ich frage also weiter" Ohne Zweifel hält ein Musiker die Musik für das Wich- tigste, und ein Maler das Malen; wahrscheinlich sogar ein Beton- fachmann das Bauen von Betonhäusern. Glauben Sie, daß der eine sich darum den lieben Gott als einen Spezialfachmann für Eisen- beton vorstellen wird und die anderen eine gemalte oder auf dem Flügelhorn geblasene Welt der wirklichen vorziehen? Sie werden diese Frage für unsinnig halten, aber der ganze Ernst liegt darin, daß man doch dieses Unsinnige verlangen müßte! Und jetzt glauben Sie, bitte, nicht,« wandte er sich ihr vollkom- men ernst zu »daß ich damit nichts anderes sagen will, als daß jeden das schwer zu Verwirklichende reizt und daß er das verschmäht, was er wirklich haben kann. Ich will sagen- daß in der Wirklichkeit ein unsinniges Verlangen nach Unwirklichkeit steckt!« Er hatte Diotima weit in das kleine Tal hineingeführt, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen; der Boden war, vielleicht durch Schnee, der von den Hängen absickerte, je höher hinauf, desto nässer ge- worden, und sie mußten von einem der kleinen Graspolster auf den nächsten hüpfen, was die Rede gliederte und es Ulrich ermöglichte, sie immer wieder sprunghaft fortzusetzen. Es gab darum auch so viele naheliegende Einwände gegen das, was er sagte, daß Diotima sich für keinen entscheiden konnte. Sie hatte sich die Füße naß ge- macht und blieb verführt und ängstlich, mit etwas gehobenen Röcken auf einer Erdscholle stchn. Ulrich wandte sich zurück und lachte: »Sie haben etwas ungemein Gefährliches begonnen, große Kusine. Die Menschen sind unend- lich froh, wenn man sie so läßt, daß sie ihre Ideen nicht verwirk- lichen können!« »Und was würden denn Sie tun,« fragte Diotima ärgerlich »wenn Sie einen Tag lang das Weltregiment hätten??« »Es würde mir wohl nichts übrigbleiben, als die Wirklichkeit ab- zuschaffen!« »Ich würde wirklich wissen wollen, wie Sie das anfingen!« »Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nicht einmal genau, was ich damit meine. Wir überschätzen maßlos das Gegenwärtige, das Ge- fühl der Gegenwart, das, was da ist; ich meine, so wie Sie jetzt mit -296- mir in diesem Tale da sind, als ob man uns in einen Korb gesteckt hätte, und der Deckel des Augenblicks ist daraufgefallen. Wir über- schätzen das. Wir werden es uns merken. Wir werden vielleicht noch nach einem Jahr erzählen können, wie wir da gestanden ha- ben. Aber das, was uns wahrhaft bewegt, mich wenigstens, steht — vorsichtig gesprochen; ich will keine Erklärung und keinen Namen dafür suchen! — immer in einem gewissen Gegensatz zu dieser Weise des Erlebens. Es ist verdrängt von Gegenwart; das kann in dieser Weise nicht gegenwärtig werden!« Was Ulrich da sagte, klang in der Talenge laut und verworren. Diotima fühlte sich mit einemmal unheimlich und trachtete zum Wagen zurück. Aber Ulrich hielt sie auf und zeigte ihr die Land- schaft. »Das war vor etlichen tausend Jahren ein Gletscher. Auch die Welt ist nicht mit ganzer Seele das, was sie augenblicklich zu sein vorgibt« erklärte er. »Dieses rundliche Wesen hat einen hyste- rischen Charakter. Heute spielt es die nährende bürgerliche Mut- ter. Damals war die Welt frigid und eisig wie ein bösartiges Mäd- chen. Und noch einige tausend Jahre früher hat sie sich mit heißen Farren wäldern, glühenden Sümpfen und dämonischen Tieren üppig aufgeführt. Man kann nicht sagen, daß sie eine Entwicklung zur Vollkommenheit durchgemacht hat, noch was ihr wahrer Zustand ist. Und das gleiche gilt von ihrer Tochter, der Menschheit. Stellen Sie sich bloß die Kleider vor, in denen im Lauf der Zeit Menschen hier gestanden haben, wo wir jetzt stehen. In Begriffen eines Nar- renhauses ausgedrückt, gleicht das alles lang andauernden Zwangs- vorstellungen mit plötzlich einsetzender Ideenflucht, nach deren Ablauf eine neue Lebensvorstellung da ist. Sie sehen also wohl, die Wirklichkeit schafft sich selbst ab!« »Ich möchte Ihnen noch etwas sagen« fing Ulrich nach einer Weile von vorne an. »Das Gefühl, einen festen Boden unter den Füßen und eine feste Haut um mich zu haben, das den meisten Menschen so natürlich erscheint, ist bei mir nicht sehr stark entwickelt. Den- ken Sie doch einmal daran, wie Sie ein Kind waren; ganz weiche Glut. Und dann ein Backfisch, dem die Sehnsucht auf den Lippen brannte. In mir wenigstens lehnt sich etwas dagegen auf, daß das sogenannte reife Mannesalter der Gipfel solcher Entwicklung sein soll. In gewissem Sinn ja und in gewissem Sinn nicht. Wenn ich die libellenartige Myrmeleonina, die Ameisenjungfer wäre, würde mir furchtbar davor grauen, daß ich ein Jahr vorher der breite, graue, rückwärtslaufende Myrmeleon, der Ameisenlöwe war, der am Rand der Wälder eingegraben unter der Spitze eines Sandtrich- ters lebt und mit seiner unsichtbaren Zange Ameisen um die Taille faßt, nachdem er sie vorher durch eine geheimnisvolle Beschießung mit Sandkörnern erschöpft hat. Und zuweilen graut mir wirklich -297- ganz ähnlich vor meiner Jugend, auch wenn ich damals eine Libelle gewesen und jetzt ein Untier sein sollte.« Er wußte selbst nicht recht, was er wollte. Er hatte mit Myrmeleon und Myrmeleonina ein wenig die gebildete Allwissenheit Arnheims nachgeäfft. Er hatte es aber auf den Lippen, zu sagen: »Schenken Sie mir eine Umarmung, rein aus Liebenswürdigkeit. Wir sind verwandt; nicht ganz getrennt, keineswegs ganz eins; jedenfalls der äußerste Ge- gensatz zu einer würdigen und strengen Beziehung.« Aber Ulrich irrte. Diotima gehörte zu den Menschen, die mit sich zufrieden sind und darum ihre Altersstufen wie eine Treppe an- sehen, die von unten nach oben fuhrt. Was Ulrich sagte, war ihr also gänzlich unverständlich, zumal da sie ja das nicht wußte, was zu sagen er unterlassen hatte; aber sie waren mittlerweile beim Wagen angelangt, so daß sie sich ruhig fühlte und nun seine Rede wieder als das ihr bekannte, zwischen Unterhaltung und Ärgernis schwankende Gerede hinnahm, dem sie nicht mehr als einen Augen- winkel schenkte. Er hatte in Wahrheit in diesem Augenblick .eranz und gar keinen Einfluß auf sie, außer dem der Ernüchterung. Eine zarte Wolke von Befangenheit, aufgestiegen aus irgendeinem Win- kel ihres Herzens, hatte sich in trockene Leere aufgelöst. Vielleicht zum erstenmal erblickte sie klar und hart die Tatsache, daß ihre Beziehungen zu Arnheim sie über kurz oder lang vor eine Entschei- dung stellen mußten, die ihr ganzes Leben verändern konnte. Man hätte nicht sagen können, daß sie das jetzt glücklich machte; aber es hatte die Schwere eines wirklich dastehenden Gebirges. Eine Schwäche war voibei. Jenes »Nicht tun, was man möchte« hatte für einen Augenblick einen ganz unsinnigen Glanz gehabt, den sie nicht mehr begriff. »Arnheim ist ganz und gar das Gegenteil von mir; er überschätzt das Glück, das Zeit und Raum haben, wenn sie mit ihm zum gegen- wärtigen Augenblick zusammentreffen, beständig!« seufzte Ulrich lächelnd, in dem ordentlichen Bedürfnis, was er geäußert hatte, zu einem Ende zu führen; aber von der Kindheit sprach auch er nicht mehr, und so kam es nicht dazu, daß ihn Diotima als gefühlvoll kennen lernte. 70 Ciarisse besucht Ulrich, um ihm eine Geschichte zu erzählen Die Neueinrichtung alter Schlösser bildete die besondere Fähig- keit des bekannten Malers van Heimond, dessen genialstes Werk -298- seine Tochter Ciarisse war, und eines Tages trat diese unerwartet bei Ulrich ein. »Papa schickt mich,« teilte sie mit »ich soll nachsehn, ob du deine großartigen aristokratischen Beziehungen nicht auch ein wenig für ihn ausnützen könntest!« Sie sah sich neugierig im Zimmer um, warf sich in einen Stuhl und ihren Hut auf einen anderen. Dann reichte sie Ulrich die Hand. »Dein Papa überschätzt mich« wollte er sagen, aber sie schnitt ihm das Wort ab. »Ach, Unsinn! Du weißt doch, der Alte braucht immer Geld. Das Geschäft geht nicht mehr so wie früher!« Sie lachte. »Sehr elegant hast du's. Hübsch!« Sie musterte abermals die Umgebung und sah dann Ulrich an; ihre ganze Haltung hatte etwas von der liebens- würdigen Unsicherheit eines Hündchens, das sein böses Gewissen im Fell juckt. »Na!« sagte sie. »Also wenn du kannst, wirst du's tun! Wenn nicht, dann nicht! Ich hab es ihm natürlich versprochen. Aber ich bin aus einem anderen Grund gekommen; er hat mich mit seinem Anliegen auf eine Idee gebracht. Bei uns liegt nämlich etwas in der Familie. Ich möchte einmal hören, was du dazu sagst.« Mund und Augen zögerten und zuckten einen Augenblick, dann setzte sie mit einem Ruck über das Anfangshindernis. »Kannst du dir etwas vorstellen, wenn ich Schönheitsarzt sage? Ein Maler ist ein Schön- heitsarzt.« Ulrich begriff; er kannte das Haus ihrer Eltern. »Also dunkel, vornehm, prächtig, üppig, gepolstert, bewimpelt und bewedelt!« fuhr sie fort. »Papa ist Maler, der Maler ist eine Art Schönheitsarzt, und mit uns zu verkehren, hat in der Gesell- schaft immer für ebenso schick gegolten wie eine Badereise anzu- treten. Du verstehst. Und eine Haupteinnahme Papas bildet seit je die Einrichtung von Palästen und Landschlössern. Du kennst die Pachhofens?« Das war eine Patrizierfamilie, aber Uli ich kannte sie nicht; bloß ein Fräulein Pachhofen hatte er vor Jahren in Clarissens Gesell- schaft einmal angetroffen. »Das war meine Freundin« erklärte Ciarisse. »Sie war damals siebzehn und ich fünfzehn; Papa sollte das Schloß einrichten und umbaun.« »? Nun ja, riatürlich, das Pachhofensche. Wir waren alle eingeladen. Auch Walter war zum erstenmal mit uns. Und Meingast.« »Meingast?« Ulrich wußte nicht, wer Meingast sei. »Aber ja, du kennst ihn doch auch; Meingast, der dann in die Schweiz gegangen ist. Damals war er noch nicht Philosoph, sondern Hahn in allen Familien, die Töchter hatten.« -299- »Ich habe ihn nie persönlich gekannt;« stellte Ulrich fest »aber jetzt weiß ich wohl, wer er ist.« »Also gut,« — Clarisse rechnete angestrengt im Kopf »warte: Walter war damals dreiundzwanzig Jahre alt und Meingast etwas älter. Ich glaube, Walter hat im geheimen mächtig Papa bewun- dert. Er war zum erstenmal auf einem Schloß eingeladen. Papa hatte oft so etwas wie einen inneren Königsmantel. Ich glaube, Walter war anfangs mehr in Papa verliebt als in mich. Und Lucy — « »Um Gottes willen, langsam, Clarisse!« bat Ulrich. »Ich glaube, ich habe den Zusammenhang verloren.« »Lucy« sagte Clarisse »ist doch Fräulein Pachhofen, die Tochter der Pachhofens, bei denen wir alle eingeladen waren. Verstehst du es jetzt? Also nun verstehst du; wenn Papa Lucy in Samt oder Brokat wickelte und mit einer langen Schleppe auf eins ihrer Pferde setzte, so bildete sie sich ein, er sei ein Tizian oder ein Tintoretto. Sie waren ganz ineinander verschossen.« »Also Papa in Lucy, und Walter in Papa?« »So warte doch nur! Damals gab es den Impressionismus. Papa malte altmodisch-musikalisch, wie er es noch heute tut, braune Soße mit Pfauenschwänzen, Aber Walter war für freie Luft, klar- linige englische Gebrauchsformen, das Neue und Ehrliche. Papa mochte ihn insgeheim so wenig ausstehen wie eine protestantische Predigt; er mochte übrigens auch Meingast nicht ausstehen, aber er hatte zwei Töchter zu verheiraten, hatte immer mehr Geld ausge- geben als eingenommen und war duldsam gegen die Seele der zwei jungen Männer. Walter dagegen liebte heimlich Papa, das habe ich schon gesagt; aber er mußte ihn öffentlich verachten, wegen der neuen Kunstrichtung, und Lucy hat überhaupt nie etwas von Kunst verstanden, aber sie hatte Angst, sich vor Walter zu blamieren, und befürchtete, daß Papa, wenn Walter recht behalte, bloß als ein komischer alter Mann erscheinen würde. Bist du jetzt im Bild?« Ulrich wollte zu diesem Zweck noch wissen, wo Mama gewesen sei. »Mama war natürlich auch da. Sie stritten wie immer alle Tage, nicht mehr und nicht weniger. Du verstehst, daß unter diesen Um- ständen Walter eine begünstigte Position hatte. Er wurde eine Art Schnittpunkt von uns allen, Papa fürchtete sich vor ihm, Mama hetzte ihn auf, und ich fing an, mich in ihn zu verlieben. Lucy aber tat ihm schön. So hatte Walter eine gewisse Macht über Papa, und er begann, sie mit vorsichtiger Wollust auszukosten. Ich meine, da- mals ist ihm seine eigene Bedeutung aufgegangen; ohne Papa und mich wäre er nichts geworden. Verstehst du diese Zusammen- hänge?« -300- Ulrich glaubte diese Frage bejahen zu können. »Aber ich wollte etwas anderes erzählen!« versicherte Ciarisse. Sie überlegte und sagte nach einer Weile: »Warte! Denk zunächst nur an mich und Lucy: Das war ein aufregend verworrenes Ver- hältnis! Ich habe natürlich Angst um Vater gehabt, der in seiner Verliebtheit Miene machte, die ganze Familie zu ruinieren. Und dabei wollte ich doch natürlich auch wissen, wie so etwas eigentlich vor sich geht. Sie waren beide ganz toll. In Lucy mischte sich selbst- verständlich die Freundschaft für mich mit dem Gefühl, daß sie den Mann zum Geliebten hatte, zu dem ich noch gehorsam Papa sagen mußte. Sie bildete sich nicht wenig darauf ein, aber schämte sich auch heftig vor mir. Ich glaube, das alte Schloß hatte seit seiner Erbauung noch keine solchen Komplikationen beherbergt! Den gan- zen Tag über trieb sich Lucy, wo sie nur konnte, mit Papa herum, und nachts kam sie zu mir in den Turm beichten. Ich schlief näm- lich im Turm, und wir brannten fast die ganze Nacht Licht.« »Wie weit hat sich denn Lucy mit deinem Vater eingelassen?« »Das war das einzige, was ich nie erfahren konnte. Aber denk dir solche Sommernächte! Die Eulen haben gewimmert, die Nacht hat gestöhnt, und wenn es uns zu unheimlich wurde, haben wir uns beide in mein Bett gelegt, um dort weiter zu erzählen. Wir konnten uns die Sache nicht anders vorstellen, als daß ein Mann, den eine so unselige Leidenschaft erfaßt hat, sich erschießen müsse. Eigent- lich warteten wir alle Tage darauf — « »Ich habe doch den Eindruck,« unterbrach Ulrich »daß zwischen ihnen nicht viel vorgefallen war.« »Ich glaube auch: nicht alles. Aber doch manches. Du wirst gleich sehen. Lucy hat nämlich plötzlich das Schloß verlassen müssen, weil ihr Vater unerwartet ankam und sie zu einer Spanienreise ab- holte. Da hättest du nun Papa sehen sollen, wie er allein blieb! Ich glaube, es fehlte manchmal nicht viel dazu, daß er Mama erwürgt hätte. Mit einer zusammenlegbaren Staffelei, die er hinter den Sat- tel schnallte, ist er von morgens bis abends umhergeritten, ohne einen Strich zu malen, und wenn er zu Hause blieb, rührte er auch keinen Pinsel an. Du mußt wissen, daß er sonst wie eine Maschine malt, aber damals traf ich ihn oft, wie er in einem der großen, leeren Säle hinter einem Buch saß und hatte es nicht geöffnet. So hat er manchmal stundenlang gebrütet, dann ist er aufgestanden, und in einem anderen Zimmer oder im Garten war es das gleiche; mitunter den ganzen Tag lang. Schließlich war er ein alter Mann, und die Jugend hatte ihn im Stich gelassen; nicht, das läßt sich be- greifen?! Und ich denke mir, das Bild, wie er Lucy und mich oft gesehen hat, als zwei Freundinnen, die einander den Arm um den Leib legen und vertraut miteinander plaudern, muß in ihm damals -301- aufgegangen sein, — wie ein wilder Samen. Vielleicht hat er auch davon gewußt, daß Lucy immer zu mir in den Turm gekommen ist. Kurz, einmal, so gegen elf Uhr nachts, alle Lichter waren im Schloß schon ausgelöscht, war er da! Du, das war etwas!« Ciarisse wurde jetzt lebhaft von der Bedeutung ihrer eigenen Geschichte hingerissen. »Du hörst dieses Tasten und Scharren auf der Treppe und weißt nicht, was das ist; hörst dann das ungeschickte Drücken an der Klinke und das abenteuerliche Aufgehen der Tür . . .« »Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?« »Das ist das Sonderbare. Ich habe vom ersten Ton an gewußt, wer es ist. Er muß reglos in der Tür stehen geblieben sein, denn man hörte eine ganze Weile nichts. Er war wahrscheinlich auch erschrocken. Dann zog er vorsichtig die Tür zu und hat mich leise angerufen. Ich bin wie durch alle Sphären gesaust. Ich habe ihm kei- neswegs antworten wollen, aber das ist das Sonderbare: ganz aus mir heraus, als wäre ich ein tiefer Raum, ist ein Laut gekommen, der wie ein Winseln war. Kennst du das?« »Nein. Erzähl weiter!« »Nun einf ach,und im nächstenAugenblick hat er sichmit unendlicher Verzweiflung an mir festgehalten; er istbeinahe auf mein Bett gefal- len, und sein Kopf ist neben dem meinen in den Polstern gelegen.« »Tränen?« »Zuckende Trockenheit! Ein alter, verlassener Körper! Ich habe das augenblicklich verstanden Oh, ich sage dir, wenn man später sagen könnte, was man in solchen Augenblicken gedacht hat, das wäre etwas ganz Großes! Ich glaube, daß ihn wegen des Versäum- ten tolle Wut gegen alle Sittsamkeit gepackt hatte. Ich merke also mit einemmal, daß er wieder aufwacht, und weiß sofort, obgleich es stockfinster war, daß er jetzt ganz zusammengekrampft ist von rücksichtslosem Hunger nach mir. Ich weiß, jetzt gibt es keine Scho- nung und Rücksicht; seit meinem Stöhnen war es noch immer ganz still; mein Körper war glühend trocken, und seiner war wie ein Pa- pier, das man an den Rand des Feuers legt. Ordentlich leicht ist er geworden; ich habe gefühlt, wie sein Arm sich an meinem Körper hinabschlängelt und von meiner Schulter loslöst. Und da wollte ich dich etwas fragen. Deshalb bin ich gekommen — « Ciarisse unterbrach sich. »Was? Du hast doch nichts gefragt!« half ihr Ulrich nach kurzer Pause. -»Nein. Ich muß vorher noch etwas anderes sagen: Ich habe mich bei dem Gedanken, daß er meine Reglosigkeit für ein Zeichen des Einverständnisses halten müsse, verabscheut; aber ich bin ganz rat- los liegengeblieben, eine steinerne Angst hat auf mir gelastet. Wie denkst du darüber?« - 302 - »Ich kann da gar nichts sagen.« »Mit einer Hand hat er mich immerzu im Gesicht gestreichelt, die andere ist gewandert. Zitternd, mit gespielter Harmlosigkeit, weißt du, über meine Brust wie ein Kuß hinweg, dann, als wartete sie und lauschte auf Antwort. Und zuletzt wollte sie — nun du ver- stehst wohl, und sein Gesicht suchte zugleich das meine. Aber da habe ich mich doch mit letzter Kraft ihm entwunden und zur Seite gedreht; und wieder ist dabei dieser Laut, den ich sonst nicht an mir kenne, so zwischen Bitte und Stöhnen liegt er, aus meiner Brust gekommen. Ich habe nämlich ein Muttermal, ein schwarzes Me- daillon — « »Und wie hat sich dein Vater verhalten?« unterbrach sie Ulrich kühl. Aber Ciarisse ließ sich nicht unterbrechen. »Hier!« Sie lächelte gespannt und zeigte durch das Kleid eine Stelle einwärts der Hüfte. »Bis hieher ist er gekommen, hier ist das Medaillon. Dieses Me- daillon besitzt eine wunderbare Kraft oder es hat damit eine son- derbare Bewandtnis!« Das Blut strömte ihr plötzlich ins Gesicht. Ulrichs Schweigen er- nüchterte sie und löste den Gedanken, der sie gefangen gehalten. Sie lächelte verlegen und schloß mit raschen Worten: »Mein Vater? Er hat sich augenblicklich aufgerichtet. Ich habe nicht sehen können, was in seinem Gesicht vorging; ich denke, es wird wohl Verlegen- heit gewesen sein. Vielleicht Dankbarkeit. Ich hatte ihn doch im letzten Augenblick erlöst. Du mußt denken: ein alter Mann, und ein junges Mädchen hat die Kraft dazu! Ich muß ihm merkwürdig vorgekommen sein, denn er hat mir ganz zart die Hand gedrückt und mit der anderen zweimal über den Kopf gestreichelt, dann ist er fortgegangen, ohne etwas zu sagen. Also du wirst für ihn tun, was du kannst?! Schließlich mußte ich dir das aber auch erklären.« Knapp und korrekt, in einem Schneiderkleid, das sie nur trug, wenn sie in die Stadt kam, stand sie da, um fortzugehen, und streckte die Hand zum Gruß aus. 71 Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungs Jubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen Von ihrem Brief an Graf Leinsdorf und von ihrer Aufforderung, daß Ulrich Moosbrugger retten solle, hatte Glarisse kein Wort gesagt; sie schien das alles vergessen zu haben. Aber auch Ulrich -303- kam nicht so bald dazu, sich wieder daran zu erinnern. Denn end- lich war Diotirna mit allen Vorbereitungen so weit, daß innerhalb der »Enquete zur Fassung eines leitenden Beschlusses und Feststel- lung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät« der be- sondere ^Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät« einberu- fen werden konnte, dessen Leitung Diotirna sich persönlich vorbe- halten hatte. Se. Erlaucht hatte selbst die Einladung verfaßt, Tuzzi hatte sie korrigiert, und Arnheim hatte seine Verbesserungen von Diotirna zu sehen bekommen, ehe sie genehmigt wurden. Trotz- dem kam alles darin vor, was den Geist Sr, Erlaucht beschäftigte. »Was uns zu dieser Zusammenkunft fuhrt,« — stand in dem Schrei- ben — »ist die Übereinstimmung in der Frage, daß eine macht- volle, aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung nicht dem Zufall überlassen bleiben dürfe, sondern eine weit vorausblickende und von einer Stelle, die einen weiten Überblick hat, also von oben kommende Einflußnahme erfordere.« Es folgten dann das »hochsel- tcnc Fest der Siebzigjährigen segensreichen Thronbesteigung«, die »dankbar gescharten« Völker, der Friedenskaiser, die mangelnde politische Reife, das weltösterreichische Jahr, und schließlich kam die Mahnung an »Besitz und Bildung«, das alles zu einer glanz- vollen Kundgebung des »wahren« österreichei tums zu gestalten, aber recht vorsichtig zu erwägen. Aus Diotimas Listen waren die Gruppen Kunst, Literatur und Wissenschaft herausgehoben und durch umfassende Bemühungen sorgfältig ergänzt worden, während andererseits von den Perso- nen, die dem Ereignis beiwohnen durften, ohne daß man Tätig- keit von ihnen erwartete, nach strengster Siebung nur eine ganz kleine Anzahl übrig geblieben war; dennoch hob sich die Zahl der Eingeladenen so hoch» daß von einem regelrechten Tafeln am grü- nen Tisch nicht die Rede sein konnte und die lockere Form von Emp- fangabenden mit kaltem Büfett gewählt werden mußte. Man saß und stand, wie man es möglich machen konnte, und Diotimas Räume glichen einem geistigen Heerlager, das mit belegten Broten, Tor- ten, Weinen, Likören und Tee in solchen Maßen verpflegt wurde, wie sie nur durch besondere budgetäre Zugeständnisse möglich wurden, die Herr Tuzzi seiner Gattin gemacht hatte; widerspruchs- los, wie hinzugefügt werden muß, woraus sich schließen läßt, daß er darauf aus war, sich neuer, geistiger diplomatischen Methoden zu bedienen. Die gesellschaftliche Bewältigung dieses Auflaufs stellte große Anforderungen an Diotirna, und sie würde vielleicht an manchem Anstoß genommen haben, hätte ihr Kopf nicht einer prächtigen -304- Fruchtschale geglichen, aus deren Überfülle die Worte beständig über den Rand fielen; Worte, mit denen die Hausfrau jeden Er- schienenen begrüßte und durch genaue Kenntnis seines letzten Werks entzückte. Die Vorbereitungen dazu waren außerordentlich gewesen und konnten nur mit Hilfe Arnheims bewältigt werden, der ihr seinen Privatsekretär zur Verfügung gestellt hatte, um das Material zu ordnen und auszugsweise die wichtigsten Angaben zu sammeln. Die wundervolle Schlacke dieses Feuereifers bildete eine große Bibliothek, die aus den Mitteln angeschafft worden, die Graf Leinsdorf für den Anfang der Parallelaktion ausgeworfen hatte, und gemeinsam mit den eigenen Büchern Diotimas wurde sie als einziger Schmuck im letzten der ausgeräumten Zimmer aufgestellt, dessen blumige Tapete, soweit sie überhaupt noch zu sehen war, das Boudoir verriet, ein Zusammenhang, der zu schmeichelhaftem Nachdenken über die Bewohnerin anregte. Diese Bibliothek erwies sich aber auch noch in anderer Weise als vorteilhafte Anlage; denn jeder der Geladenen steuerte, nachdem er Diotimas huldvolle Be- grüßung in Empfang genommen, unschlüssig durch die Zimmer und wurde dabei unfehlbar von der am Ende befindlichen Bücher- wand angezogen, sobald er ihrer ansichtig wurde; es hob und senkte sich immer eine Schar von Rücken musternd vor ihr, wie die Bienen vor einer Blumenhecke, und wenn die Ursache auch nur jene edle Neugier war, die jeder Schaffende für Büchersammlungen hegt, so drang doch süße Befriedigung ins Mark, wenn der Schauende endlich seine eigenen Werke entdeckte, und das patriotische Unter- nehmen hatte seinen Nutzen davon. In der geistigen Leitung der Versammlung ließ Diotima zunächst schöne Willkür walten, wenn sie auch Wert darauf legte, nament- lich den Dichtern gleich zu versichern, daß alles Leben im Grunde auf einer inneren Dichtung ruhe, sogar das Geschäftsleben, wenn man es »großzugig ansehe«. Es wunderte keinen, nur stellte sich heraus, daß die meisten der durch solche Ansprachen Ausgezeich- neten in der Übeizeugung erschienen waren, man habe sie einge- laden, damit sie selbst kurz, das heißt in etwa fünf bis funfund- vierzig Minuten, der Parallelaktion einen Rat geben sollten, den befolgend, sie nicht mehr fehlgehen könne, mochten auch spätere Redner die Zeit mit zwecklosen und falschen Vorschlägen vergeu- den. Diotima geriet anfangs geradezu in eine weinerliche Gemüts- stimmung dadurch und konnte ihre unbefangene Haltung nur müh- sam bewahren, denn es kam ihr vor, daß jeder etwas anderes sage, ohne daß sie imstande sei, es auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Sie hatte noch keine Erfahrung in solchen Konzentrations- graden des schönen Geistes, und da ein so universales Zusammen- treffen großer Männer auch nicht so leicht ein zweitesmal vorkommt, 20 Musil, Mann _ 3Q5 _ ließ es sich nur Schritt um Schritt, ordentlich mühsam und metho- disch begreifen. Es gibt übrigens in der Welt viele Dinge, die ein- zeln für den Menschen etwas ganz anderes bedeuten als beisam- men; zum Beispiel Wasser ist in zu großen Mengen ein genau um den Unterschied zwischen Trinken und Ertrinken geringeres Ver- gnügen als in kleinen, und um Gifte, Vergnügungen, Muße, Kla- vierspiel, Ideale ist es ähnlich bestellt, ja wahrscheinlich um alles, so daß es ganz und gar von dem Grad seiner Dichtigkeit und an- deren Umständen abhängt, was etwas ist. Hinzugefügt werden muß also bloß, daß auch das Genie keine Ausnahme davon macht, da- mit man in den folgenden Eindrücken nicht etwa eine Herabsetzung der großen Persönlichkeiten erblidtt, die sich in selbstloser Weise Diotima zur Verfügung gestellt hatten. Denn konnte man gleich bei diesem ersten Zusammentreffen den Eindruck gewinnen, daß sich jeder große Geist in einer äußerst unsicheren Lage fühle, sobald er den Schutz seines Gipfelhorstes verläßt und sich auf gemeinem Boden verständigen soll. Die au- ßerordentliche Rede, die gleichsam wie ein Himmelsvorgang über Diotima hinwegging, solange sie sich mit einem der Gewaltigen im Gespräch allein befand, machte, wenn, ein Dritter oder Vierter hinzutrat und nun mehrere Reden in Widerspruch zueinander ge- rieten, einem peinlichen Unvermögen, zur Ordnung zu gelangen, Platz, und wer sich nicht vor solchen Vergleichen scheut, konnte das Bild eines Schwans empfangen, der sich nach stolzem Flug auf der Erde weiter bewegt. Jedoch nach längerer Bekanntschaft läßt sich auch das sehr gut verstehen. Das Leben großer Geister beruht heute auf einem »Man weiß nicht wozu«* Sie genießen große Ver- ehrung, die sich an ihrem fünfzigsten bis hundertsten Geburtstag äußert oder beim Fest des zehnjährigen Bestehens einer landwirt- schaftlichen Hochschule, die sich mit Ehrendoktoren schmückt, aber auch sonst bei verschiedenen Gelegenheiten, wo man von deutschem Geistesgut reden muß. Wir haben in unserer Geschichte große Män- ner gehabt und betrachten das als eine zu uns gehörende Einrich- tung, geradeso wie die Gefängnisse oder das Militär; man muß, wenn sie da ist, auch jemand hineinstecken. Also nimmt man, mit einem gewissen Automatismus, der solchen sozialen Bedürfnissen eignet, immer den dazu, der gerade an der Reihe ist, und erweist ihm die Ehren, die zur Verleihung reif sind. Aber diese Verehrung ist nicht ganz reell; auf ihrem Grunde gähnt die allgemein be- kannte Überzeugung, daß eigentlich doch kein einziger sie ver- dient, und es läßt sich schwer unterscheiden, ob sich der Mund aus Begeisterung oder zum Gähnen öffnet. Es hat etwas von Totenverehrung an sich, wenn heute ein Mann genial genannt wird, mit dem stillschweigenden Zusatz, daß es das gar nicht mehr -306- gibt, und hat etwas von jener hysterischen Liebe, die ein großes Spektakel aus keiner anderen Ursache aufführt, als weil ihr eigentlich das Gefühl fehlt. Ein solcher Zustand ist begreiflicherweise nicht angenehm für empfindsame Geister, und sie suchen sich seiner auf verschiedene Art zu entledigen. Die einen werden aus Verzweiflung wohlhabend, indem sie den Bedarf benützen lernen, der nun einmal nicht nur nach großen Geistern, sondern auch nach wilden Männern, geist- vollen Romanciers, schwellenden Naturkindern und Führern der neuen Generation besteht; die anderen tragen eine unsichtbare Kö- nigskrone auf dem Haupte, die sie unter gar keinen Umständen ablegen, und versichern erbittert bescheiden, daß sie über den Wert des von ihnen Geschaffenen erst in drei bis zehn Jahrhunderten urteilen lassen wollen; alle aber empfinden es als eine furchtbare Tragik des deutschen Volks, daß die wirklich Großen niemals sein lebender Kulturbesitz werden, da sie ihm zu weit voraus sind. Es muß jedoch betont werden, daß bis hieher von den sogenannten schönen Geistern gesprochen worden ist, denn es gibt in den Be- ziehungen des Geistes zur Welt einen sehr bemerkenswerten Un- terschied. Während der schöne Geist in der gleichen Weise wie Goethe und Michelangelo, Napoleon und Luther bewundert sein will, weiß heute kaum noch irgendwer den Namen des Mannes, der den Menschen den unsagbaren Segen der Narkose geschenkt hat, niemand forscht im Leben von Gauß, Euler oder Maxwell nach einer Frau von Stein, und die wenigsten kümmert es, wo Lavoisier und Cardanus geboren wurden und gestorben sind. Statt dessen lernt man, wie ihre Gedanken und Erfindungen durch die Gedan- ken und Erfindungen anderer, ebenso uninteressanter Personen weiter entwickelt worden sind, und beschäftigt sich unausgesetzt mit ihrer Leistung, die in anderen weiterlebt, nachdem das kurze Feuer der Person längst schon abgebrannt ist. Man staunt im er- sten Augenblick, wenn man wahrnimmt, wie scharf dieser Unter- schied zwei Weisen menschlichen Verhaltens voneinander abteilt, aber alsbald melden sich die Gegenbeispiele, und er will als die natürlichste aller Grenzen erscheinen. Vertraute Gewohnheit ver- sichert uns, es sei die Grenze zwischen Person und Arbeit, zwischen Größe des Menschen und der einer Sache, zwischen Bildung und Wissen, Humanität und Natur. Arbeit und industriöses Genie ver- mehren nicht die moralische Größe, das Mannsein unter den Augen des Himmels, die unzerlegbare Lehre des Lebens, die sich nur in Beispielen weitererbt, von Staatsmännern, Helden, Heiligen, Sän- gern, allerdings auch von Filmschauspielern: eben jene große, irra- tionale Macht, an der sich auch der Dichter teilhaben fühlt, solange er an sein Wort glaubt und daran festhält, daß aus ihm, je nach -307- seinen Lebensverhältnissen, die Stimme des Inneren, des Blutes, des Herzens, der Nation, Europas oder der Menschheit spricht. Es ist das geheimnisvolle Ganze, als dessen Werkzeug er sich fühlt, während die anderen bloß im Begreif liehen wühlen, und an diese Sen- dung muß man glauben, ehe man sie sehen lernen kann! Was uns dessen versichert,* ist zweifellos eine Stimme der Wahrheit, aber bleibt nicht eine Sonderbai keit an dieser Wahrheit hängen? Denn dort, wo man weniger auf die Person als auf die Sache sieht, ist merkwürdigerweise immer von frischem eine neue Person da, die die Sache vorwärts führt; wogegen sich dort, wo man auf die Per- son achtet, nach Erreichung einer gewissen Höhe das Gefühl ein- stellt, es sei keine ausreichende Person mehr da und das wahrhaft Große gehöre der Vergangenheit an!? Sie waren lauter Ganze, die sich bei Diotima versammelt hatten, und das war viel auf einmal. Dichten und Denken, jedem Men- schen so natürlich wie einer jungen Ente das Schwimmen, sie übten es als Beruf aus und trafen es ja auch wirklich besser als andere. Aber wozu? Ihr Tun war schön, war groß, war einmalig, aber so viel Einmaligkeit war wie Friedhofstimmung und gesammelter Hauch der Vergänglichkeit, ohne geraden Sinn und Zweck, Her- kunft und Fortsetzung. Unzählige Erinnerungen an Erlebnisse, Myriaden einander kreuzender Schwingungen des Geistes waren in diesen Köpfen versammelt, die wie die Nadeln eines Teppich- wirkers in einem Gewebe staken, das sich rings um sie, vor ihnen und nach ihnen ohne Naht und Rand ausbreitete, und sie wirkten an irgendeiner Stelle ein Muster, das sich ähnlich anderswo wie- derholte und doch ein wenig verschieden war. Aber ist es der rich- tige Gebrauch von sich, einen solchen kleinen Fleck auf die Ewig- keit zu setzen? ! Es wäre wahrscheinlich viel zuviel gesagt, daß Diotima das be- griffen haben sollte, aber den Gräberwind über den Gefilden des Geistes fühlte sie und sank, je weiter dieser erste Tag zu Ende ging, in eine desto tiefere Mutlosigkeit. Zu ihrem Glück erinnerte sie sich dabei an eine gewisse Hoffnungslosigkeit, der Arnheim bei einer anderen Gelegenheit, damals nicht ganz verständlich für sie, als von ähnlichen Fragen die Rede war, Ausdruck gegeben hatte; ihr Freund war verreist, aber sie dachte daran, daß er sie davor ge- warnt hatte, zu große Hoffnungen auf diese Zusammenkunft zu setzen. Und so war es eigentlich diese Arnheimsche Schwermut, in die sie hineinsank, was ihr am Ende doch noch ein schönes, fast sinn- lich trauriges und schmeichelndes Vergnügen bereitete. .»Ist es nicht im tiefsten« fragte sie sich, seiner Voraussage nachgrübelnd, »der Pessimismus, den allemal Menschen der Tat empfinden, wenn sie mit Menschen der Worte in Berührung kommen?!« -308- Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnimg mit dem Bösen Es müssen nun ein paar Worte über ein Lächeln folgen, noch dazu ein Männerlächeln, und es war ein Bart dabei, geschaffen für die männliche Tätigkeit des In den Bart Lächelns; es handelt sich um das Lächeln der Gelehrten, die der Einladung Diotimas Folge geleistet hatten und den berühmten Schöngeistern zuhörten. Ob- gleich sie lächelten, darf man beileibe nicht glauben, daß sie es iro- nisch taten. Im Gegenteil, es war ihr Ausdruck der Ehrerbietung und Inkompetenz, wovon ja schon die Rede gewesen. Aber man darf sich auch dadurch nicht täuschen lassen. In ihrem Bewußtsein stimmte das, jedoch in ihrem Unterbewußtsein, um dieses gebräuch- liche Wort zu benützen, oder richtiger gesagt, in ihrem Gesamt- zustand waren es Menschen, in denen ein Hang zum Bösen rumorte wie das Feuer unter einem Kessel. Das sieht nun natürlich wie eine paradoxe Bemerkung aus, und ein o. ö. Universitätsprofessor, in dessen Angesicht man sie auf- stellen wollte, würde vermutlich entgegnen, daß er schlicht der Wahrheit und dem Fortschritt diene und sonst von nichts wisse; denn das ist seine Berufsideologie. Aber alle Berufsideologien sind edel, und die Jäger zum Beispiel sind weit davon entfernt, sich die Fleischer des Waldes zu nennen, nennen sich vielmehr den weid- gerechten Freund der Tiere und der Natur, ebenso wie die Kauf- leute den Grundsatz des ehrbaren Nutzens hegen und die Diebe den Gott der Kaufleute, nämlich den vornehmen und völkerver- bindend internationalen Merkur, auch den ihren nennen. Auf die Darstellung einer Tätigkeit im Bewußtsein derer, die sie ausüben, ist also nicht allzuviel zu geben. Fragt man sich unbefangen, wie die Wissenschaft ihre heutige Gestalt bekommen hat — was an und für sich wichtig ist, da sie uns ja beherrscht und nicht einmal ein Analphabet vor ihr sicher ist, denn er lernt es, mit unzähligen gelehrt geborenen Dingen zu- sammenzuleben — , so erhält man schon ein anderes Bild. Nach glaubwürdigen Überlieferungen hat das im sechzehnten Jahrhun- dert, einem Zeitalter stärkster seelischer Bewegtheit, damit begon- nen, daß man nicht länger, wie es bis dahin durch zwei Jahrtau- sende religiöser und philosophischer Spekulation geschehen war, in die Geheimnisse der Natur einzudringen versuchte, sondern sich in einer Weise, die nicht anders als oberflächlich genannt werden kann, mit der Erforschung ihrer Oberfläche begnügte. Der große Galileo Galilei, der dabei immer als erster genannt wird, räumte -309- zum Beispiel mit der Frage auf, aus welchem in ihrem Wesen lie- genden Grund die Natur eine Scheu vor leeren Räumen habe, so daß sie einen fallenden Körper solange Raum um Raum durch- dringen und ausfüllen lasse, bis er endlich auf festem Boden an- lange, und begnügte sich mit einer viel gemeineren Feststellung: er ergründete einfach, wie schnell ein solcher Körper fällt, welche Wege er zurücklegt, Zeiten verbraucht und welche Geschwindig- keitszuwüchse er erfährt. Die katholische Kirche hat einen schwe- ren Fehler begangen, indem sie diesen Mann mit dem Tode be- drohte und zum Widerruf zwang, statt ihn ohne viel Federlesens umzubringen; denn aus seiner und seiner Geistesverwandten Art, die Dinge anzusehen, sind danach — binnen kürzester Zeit, wenn man historische Zeitmaße anlegt, — die Eisenbahnfahrpläne, die Arbeitsmaschinen, die physiologische Psychologie und die mora- lische Verderbnis der Gegenwart entstanden, gegen die sie nicht mehr aufkommen kann. Sie hat diesen Fehler wahrscheinlich aus zu großer Klugheit begangen, denn Galilei war ja nicht nur der Entdecker des Fallgesetzes und der Erdbewegung, sondern auch ein Erfinder, für den sich, wie man heute sagen würde, das Groß- kapital interessierte, und außerdem war er nicht der einzige, der damals von dem neuen Geist ergriffen wurde; im Gegenteil, die historischen Berichte zeigen, daß sich die Nüchternheit, von der er beseelt war, weit und ungestüm wie eine Ansteckung ausbreitete, und so anstößig das heute klingt, jemand von Nüchternheit beseelt zu nennen, wo wir davon schon zu viel zu haben glauben, damals muß das Erwachen aus der Metaphysik zur harten Betrachtung der Dinge nach allerhand Zeugnissen geradezu ein Rausch und Feuer der Nüchternheit gewesen sein! Aber wenn man sich fragt, was der Menschheit nun eigentlich eingefallen sei, sich so zu verändern, so ist die Antwort, sie tat damit nichts anderes, als jedes vernünftige Kind tut, wenn es zu früh versucht hat, zu laufen; sie setzte sich auf die Erde und berührte diese mit einem verläßlichen und wenig edlen Körperteil, es muß gesagt werden, sie tat es mit eben jenem, auf dem man sitzt. Denn das Merkwürdige ist, daß sich die Erde dafür so ungemein empfänglich gezeigt hat und seit dieser Be- rührung sich Erfindungen, Bequemlichkeiten und Erkenntnisse in einer Fülle entlocken läßt, die ans Wunder grenzt. Man könnte nach dieser Vorgeschichte nicht ganz mit Unrecht meinen, es sei das Wunder des Antichrist, in dem wir uns mitten darin befinden; denn das gebrauchte Berührungsgleichnis ist nicht nur in der Richtung der Verläßlichkeit zu deuten, sondern ebenso- sehr in der Richtung des Anstandslosen und Verpönten. Und wirk- lich haben, ehe geistige Menschen ihre Lust an chn Tatsachen ent- deckten, nur Krieger, Jäger und Kaufleute, gerade also listige und -310- gewalttätige Naturen, diese besessen. Im Kampf ums Leben gibt es keine denkerischen Sentimentalitäten, sondern nur den Wunsch, den Gegner auf dem kürzesten und tatsächlichsten Wege umzu- bringen, da ist jedermann Positivist; und ebenso wenig wäre es im Geschäft eine Tugend, sich etwas vormachen zu lassen, statt aufs Feste zu gehn, wobei der Gewinn letzten Endes eine psychologische und den Umständen entspringende Überwältigung des anderen be- deutet. Sieht man andererseits zu, welche Eigenschaften es sind, die zu Entdeckungen führen, so gewahrt man Freiheit von übernom- mener Rücksicht und Hemmung, Mut, ebensoviel Unternehmungs- wie Zerstörungslust, Ausschluß moralischer Überlegungen, gedul- diges Feilschen um den kleinsten Vorteil, zähes Warten auf dem Weg zum Ziel, falls es sein muß, und eine Verehrung für Maß und Zahl, die der schärfste Ausdruck des Mißtrauens gegen alles Un- gewisse ist; mit anderen Worten, man erblickt nichts anderes als eben die alten Jäger-, Soldaten- und Händlerlaster, die hier bloß ins Geistige übertragen und in Tugenden umgedeutet worden sind. Und sie sind damit zwar dem Streben nach persönlichem und ver- hältnismäßig gemeinem Vorteil entrückt, aber das Element des Ur- bösen, wie man es nennen könnte, ist ihnen auch bei dieser Ver- wandlung nicht verlorengegangen, denn es ist scheinbar unzer- störbar und ewig, wenigstens so ewig wie alles menschlich Hohe, da es in nichts geringerem und anderem als der Lust besteht, dieser Höhe ein Bein zu stellen und sie auf die Nase fallen zu sehn. Wer kennt nicht die boshafte Verlockung, die bei der Betrachtung eines schönglasierten üppigen Topfes in dem Gedanken liegt, daß man ihn mit einem Stockhieb in hundert Scherben schlagen könnte? Zum Heroismus der Bitterkeit gesteigert, daß man sich im Leben auf nichts verlassen könne, als was niet- und nagelfest sei, ist sie ein in die Nüchternheit der Wissenschaft eingeschlossenes Grundgefühl, und wenn man es aus Achtbarkeit nicht den Teufel nennen will, so ist doch zumindest ein leichter Geruch von verbranntem Pferde- haar daran. Man kann gleich mit der eigenartigen Vorliebe beginnen, die das wissenschaftliche Denken für mechanische, statistische, mate- rielle Erklärungen hat, denen gleichsam das Herz ausgestochen ist. Die Güte nur für eine besondere Form des Egoismus anzusehen; Gemütsbewegungen in Zusammenhang mit inneren Ausscheidun- gen zu bringen; festzustellen, daß der Mensch zu acht oder neun Zehnteln aus Wasser besteht; die berühmte sittliche Freiheit des Charakters als ein automatisch entstandenes Gedankenanhängsel des Freihandels zu ei klaren; Schönheit auf gute Verdauung und ordentliche Fettgewebe zurückzuführen; Zeugung und Selbstmord auf Jahreskurven zu bringen, die das, was freieste Entscheidung zu -311- sein scheint, als zwangsmäßig zeigen; Rausch und Geisteskrankheit als verwandt zu empfinden; After und Mund als das rektale und orale Ende derselben Sache einander gleichzustellen — : derartige Vorstellungen, die im Zauberkunststück der menschlichen Illusio- nen gewissermaßen den Trick bloßlegen, finden immer eine Art günstiger Vornieinung, um für besonders wissenschaftlich zu gel- ten. Es ist alleidings die Wahrheit, was man da liebt; aber rings um diese blanke Liebe liegt eine Vorliebe für Desillusion, Zwang, Uneibittlichkeit, kalte Abschreckung und trockene Zurechtweisung, eine hämische Vorliebe oder wenigstens eine unfreiwillige Gefühls- ausstrahlung von solcher Art. Mit einem anderen Wort, die Stimme der Wahrheit hat ein ver- dächtiges Nebengeräusch, aber die am nächsten Beteiligten wollen nichts davon hören. Nun, die Psychologie kennt heute viele solcher unterdrückten Nebengeräusche, und sie hat auch den Rat bereit, daß man sie hervorholen und sich so deutlich wie möglich machen solle, um ihre schädlichen Wirkungen zu verhindern. Wie wäre es also, wenn man die Probe machen wollte und sich versucht fühlte, den zweideutigen Geschmack an der Wahrheit und ihren boshaf- ten Nebenstimmen des Menschengehässigen und Höllenhundsma- ßigen offen zur Schau zu tragen, ihn gleichsam vertrauend ins Le- ben zu wenden? Nun, es käme ungefähr jener Mangel an Idealis- mus heraus, der unter dem Titel einer Utopie des exakten Lebens schon beschrieben worden ist, eine Gesinnung auf Versuch und Wi- derruf, aber dem eisernen Kriegsgesetz der geistigen Eroberung unterstehend. Dieses Verhalten zur Lebensgestaltung ist nun frei- lich keineswegs pflegend und befriedend; es würde das Lebenswür- dige keineswegs nur mit Ehrfurcht ansehen, sondern eher wie eine Demarkationslinie, die der Kampf um die innere Wahrheit bestän- dig verschiebt. Es würde an der Heiligkeit des Augenblickszustan- des der Weit zweifeln, aber nicht aus Skepsis, sondern in der Ge- sinnung des Steigens, wo der Fuß, der fest steht, jederzeit auch der tiefere ist. Und in dem Feuer einer solchen Ecclesia militans, welche die Lehre haßt um des noch nicht Geoffenbarten willen und Gesetz und Gültiges beiseite schiebt im Namen einer anspruchsvol- len Liebe zu ihrer nächsten Gestalt, würde der Teufel wieder zu Gott zurückfinden, oder, einfacher gesprochen, die Wahrheit wäre dort wieder die Schwester der Tugend und müßte nicht mehr ge- gen sie die versteckten Bosheiten verüben, welche eine junge Nichte gegen eine altjüngferliche Tante ausheckt. Alles das nimmt nun, mehr oder weniger bewußt, ein junger Mensch in den Lehrsälen des Wissens in sich auf, und er lernt da- zu die Elemente einer großen konstruktiven Gesinnung kennen, die das Entfernte wie einen fallenden Stein und einen kreisenden -312- Stern spielend zusammenbringt und etwas, das scheinbar eins und unteilig ist, wie das Entstehen einer einfachen Handlung aus den Zentren des Bewußtseins, in Ströme zerlegt, deren innere Quellen um Jahrtausende voneinander verschieden sind. Wollte sich aber jemand einfallen lassen, von so erworbener Gesinnung außerhalb der Grenzen besonderer Fachaufgaben Gebrauch zu machen, so würde ihm alsbald begreiflich gemacht werden, daß die Bedürf- nisse des Lebens andere seien als die des Denkens. Im Leben spielt sich ungefähr von allem, was der ausgebildete Geist gewohnt ist, das Gegenteil ab. Die natürlichen Unterschiede und Gemeinsam- keiten werden hier sehr hoch geschätzt; das Bestehende, mag es sein, wie es will, wird bis zu einem gewissen Grad als natürlich empfun- den und nicht gern angetastet; die notwendig werdenden Verände- rungen vollziehen sich nur zögernd und gleichsam in einem hin und her walzenden Vorgang. Und wenn jemand etwa aus reiner vege- tarischer Gesinnung zu einer Kuh Sie sagen würde (in richtiger Erwägung des Umstandes, daß man sich gegen ein Wesen, dem man du sagt, viel leichter rücksichtslos benimmt), so würde man ihn einen Gecken, wenn nicht einen Narren schelten; aber nicht wegen seiner tierfreundlichen oder vegetarischen Gesinnung, die man hoch human findet, sondern wegen ihrer unmittelbaren Übertragung in die Wirklichkeit. Mit einem Wort, zwischen Geist und Leben be- steht ein verwickelter Ausgleich, bei dem der Geist höchstens ein Halb vom Tausend seiner Forderungen ausbezahlt erhält und da- für mit dem Titel eines Ehrengläubigers geschmückt wird. Ist aber der Geist, in der mächtigen Gestalt, die er zuletzt gefun- den hat, wie vorhin angenommen worden, selbst ein sehr männlicher Heiliger mit kriegerischen und jägerischen Nebenuntugenden,so wäre aus den geschilderten Umständen zu schließen, daß die in ihm stek- kende Neigung zum Lästerlichen nirgends in ihrer immerhin groß- artigen Gänze herauskönne, noch die Gelegenheit finde, sich an der Wirklichkeit zu läutern, und darum auf allerhand recht sonder- baren, unkontrollierten Wegen anzutreffen sein dürfte, auf denen sie der unfruchtbaren Eingeschlossenheit entschlüpft. Es mag nun offen bleiben, ob bis hieher alles ein Spiel mit Einbildungen gewe- sen sei oder nicht, so läßt sich doch nicht leugnen, daß diese letzte Vermutung ihre eigenartige Bestätigung hat. Es gibt eine namen- lose Lebensstimmung, die nicht gerade wenig Menschen heute im Blut liegt, ein Gewärtigsein des Böseren, eine Tumultbereitschaft, ein Mißtrauen gegen alles, was man verehrt. Es gibt Menschen, die über die Ideallosigkeit der Jugend klagen, aber in dem Augen- blick, wo sie handeln müssen, sich ganz von selbst nicht anders ent- scheiden wie jemand, der aus gesündestem Mißtrauen gegen die Idee deren sanfte Kraft durch die Wirkung irgendeines Knüttels -313» verstärkt. Gibt es, anders gesagt, irgendeinen frommen Zweck, der sich nicht mit ein klein wenig Korruption und Berechnung der nie- deren menschlichen Eigenschaften ausstatten mußte, um in dieser Welt für ernst und ernst gemeint zu gelten? Worte wie: binden, zwingen, in die Schraube nehmen, vor zerbrochenen Fensterschei- ben nicht zurückscheuen, starke Methode, haben einen angenehmen Klang von Verläßlichkeit. Vorstellungen von der Art, daß der größte Geist, in einen Kasernenhof gesteckt, binnen acht Tagen vor der Stimme eines Feldwebels springen lernt, oder daß ein Leut- nant und acht Mann genügen, um jedes Rednerparlament der Welt zu verhaften, haben zwar erst später ihren klassischen Ausdruck in der Entdeckung gefunden, daß man mit einigen Löffeln Rhizi- nusöl, die man einem Idealisten einflößt, die unbeugsamsten Über- zeugungen lächerlich machen kann, aber sie hatten schon lange, ob- gleich sie mit Entrüstung verfemt wurden, den wilden Auftrieb un- heimlicher Träume. Es ist nun einmal so, daß zumindest der zweite Gedanke eines jeden Menschen, der vor eine überwältigende Er- scheinung gestellt wird, und sei es auch, daß sie ihn durch ihre Schönheit überwältige, heute der ist: du wirst mir nichts vorma- chen, ich werde dich schon kleinkriegen! Und diese Verkleinerungs- wut einer nicht nur mit allen Hunden gehetzten, sondern auch het- zenden Zeit ist wohl kaum noch die dem Leben natürliche Zweitei- lung in Rohes und Hohes, weit eher ein selbstquälerischer Zug des Geistes, eine unaussprechliche Lust an dem Schauspiel, daß sich das Gute erniedrigen und wunderbar einfach zerstören lasse. Es sieht einem leidenschaftlichen Sich-Selbst-Lügen-strafen- Wollen nicht unähnlich, und vielleicht ist es gar nicht das Trostloseste, an eine Zeit zu glauben, die mit dem Steiß voraus zur Welt gekommen ist und von des Schöpfers Händen bloß gewendet zu werden braucht. Es wird also ein Männerlächeln vielerlei von solcher Art aus- drücken, auch wenn es sich der Selbstbeobachtung entzieht oder überhaupt noch nie durchs Bewußtsein gegangen ist, und so beschaf- fen war das Lächeln, mit dem sich die meisten der eingeladenen berühmten Fachleute in die lobenswerten Bestrebungen Diotimas fügten. Es stieg als Kitzel an den Beinen empor, die nicht recht wußten, wohin sie sich hier wenden sollten, und landete als wohl- wollendes Staunen im Gesicht. Man war froh, wenn man einen Be- kannten oder näheren Kollegen sah und ansprechen konnte. Man hatte das Gefühl, daß man beim Nachhausegehn, nach Verlassen des Tors em paarmal probeweise fest auftreten werde. Aber ganz schön war die Veranstaltung doch. Solche allgemeinen Unternehmungen sind freilich etwas, das nie einen rechten Inhalt gewinnt, wie über- haupt alle allgemeinsten und höchsten Vorstellungen; schon Hund können Sie s^h nicht vorstellen, das ist nur eine Anweisung auf be- -314- stimmte Hunde und Hundeeigenschaften, und Patriotismus oder die schönste vaterländischeste Idee können Sie sich erst recht nicht vor- stellen. Aber wenn das auch keinen Inhalt hat, einen Sinn hat es ja doch, und es ist sicher gut, von Zeit zu Zeit diesen Sinn zu wek- ken! So sprachen die meisten zueinander, allerdings mehr im schweigsam Unbewußten; Diotima aber, die noch immer im Haupt- empfangszimmer stand und Nachzügler durch eine Anrede aus- zeichnete, hörte erstaunt und undeutlich, daß sich rings um sie leb- hafte Gespräche anknüpften, aus denen, wenn nicht alles täuschte, nicht selten sogar Erörterungen über den Unterschied von böhmisch und bayrisch Bier oder über Verlegerhonorare an ihr Ohr schlugen. Es war schade, daß sie ihrer Gesellschaft nicht auch von der Straße aus zusehen konnte. Von dort sah sie wunderbar aus. Das Licht schimmerte hell durch die Vorhänge der hohen Fensterfront, vermehrt durch den Schein der Autorität und Vornehmheit, den die wartenden Wagen dazutaten, und durch die Blicke der Gaf- fer, die im Vorbeigehen stehenblieben und eine Weile hinauf- sahen, ohne daß sie recht wußten, warum. Es hätte Diotima ge- freut, wenn sie das wahrgenommen haben würde. Es standen im- mer Leute in der Halbhelle, die das Fest auf die Straße streute, und hinter ihren Rücken begann die große Dunkelheit, die in eini- ger Entfernung rasch undurchdringlich wurde. 73 Leo Fischeis Tochter Gerda In diesem Getriebe fand Ulrich lange nicht Zeit, das Verspre- chen, das er Direktor Fischel gegeben hatte, einzulösen und des- sen Familie zu besuchen. Ja, recht gesagt, er fand die Zeit über- haupt nicht, ehe ihn nicht ein unerwartetes Ereignis traf; es war der Besuch von Fischeis Gattin Klementine. Sie hatte sich telefonisch angemeldet, und Ulrich sah ihr nicht ohne Besorgnis entgegen. Er hatte in ihrem Haus zuletzt vor drei Jahren verkehrt, als er einige Monate in dieser Stadt zubrachte; diesmal war er aber bloß ein einzigesmal dahin gekommen, weil er eine vergangene Liebelei nicht aufrühren wollte und Angst vor der mütterlichen Enttäuschung Frau Klementinens hatte. Allein Klementine Fischel war eine Frau mit »großdenkendem Herzen«, und in den täglichen Kleinkämpfen mit ihrem Gatten Leo hatte sie so wenig Gelegenheit, davon Gebrauch zu machen, daß für be- sondere Fälle, die leider selten eintraten, eine geradezu helden- hafte Gefühlshöhe zu ihrer Verfügung stand. Immerhin war die -315- magere Frau mit dem strengen, etwas vergrämten Gesicht ein we- nig verlegen, als sie sich Ulrich gegenüber befand und ihn um eine Unterredung unter vier Augen bat, obgleich sie ohnedies allein waren. — Aber er sei der einzige, auf dessen Meinung Gerda noch hören würde, sagte sie, und er möge ihre Bitte nicht mißverstehen, fügte sie nachträglich hinzu. Ulrich kannte die Verhältnisse im Hause Fischel. Nicht nur lagen Vater und Mutter beständig im Krieg, auch Gerda, die schon drei- undzwanzigj ährige Tochter, hatte sich mit einem Schwärm sonder- baier junger Leute umgeben, die den zähneknirschenden Papa Leo sehr gegen seinen Willen zum Mäzen und Forderer ihres »Neu- geistes« machten, da man nirgends so bequem zusammenkommen konnte wie bei ihm. — Gerda sei so nervös und blutarm und rege sich gleich so fürchterlich auf, wenn man versuche, diesen Verkehr einzuschränken, — berichtete Frau Klementine — und es seien schließlich bloß dumme Jungen ohne Lebensart, aber ihr geflissent- lich zur Schau getragener mystischer Antisemitismus sei nicht nur taktlos, sondern auch ein Zeichen von innerer Roheit. — Nein, fügte sie hinzu, sie wolle nicht über den Antisemitismus klagen, der sei eine Zeiterscheinung, und darin müsse man nun einmal re- signiert sein; man könne sogar zugeben, daß in mancher Hinsicht etwas daran sein möge. — Klementine machte eine Pause und würde mit dem Taschentuch eine Träne getrocknet haben, hätte sie nicht einen Schleier getragen; aber so unterließ sie es, die Träne zu weinen, und begnügte sich, ihr weißes Tüchlein aus dem Hand- täschchen bloß hervoizuziehn. »Sie wissen, wie Gerda ist;« sagte sie »ein schönes und begabtes Mädchen, aber — « »Ein bißchen brüsk« ergänzte Ulrich. »Ja, Gott sei es geklagt, immer extrem.« »Und also noch immer germanisch?« Klementine sprach von den Gefühlen von Eltern. »Den Gang einer Mutter« nannte sie etwas pathetisch ihren Besuch, der den Nebenzweck hatte, Ulrich wieder für ihr Haus zu gewinnen, nach- dem er in der Parallelaktion, wie man hörte, so große Erfolge hatte. »Ich möchte mich selbst strafen,« fuhr sie weiter fort »weil ich die- sen Verkehr gtgtn Leos Willen in den letzten Jahren unterstützt habe. Ich fand nichts daran; diese jungen Leute sind in ihrer Art Idealisten; und wenn man unbefangen ist, muß man auch ein- mal ein verletzendes Wort vertragen können. Aber Leo — Sie wis- sen ja, wie er ist — regt sich über den Antisemitismus auf, ob die- ser nun bloß mystisch und symbolisch ist oder nicht.« »Und Gerda in ihrer freien, deutsch blonden Art will das Pro- blem nicht anerkennen^« ergänzte Ulrich. -316- »Sie ist darin so, wie ich selbst in meiner Jugend gewesen bin. Glauben Sie übrigens, daß Hans Sepp eine Zukunft in sich hat?« »Ist Gerda mit ihm verlobt?« fragte Ulrich vorsichtig. »Dieser Junge bietet doch nicht die geringste Aussicht auf Ver- sorgung!« seufzte Klementine. »Wie kann man da von Verlobung reden; aber als ihm Leo das Haus verbot, aß Gerda drei Wochen lang so wenig, daß sie bis auf die Knochen abgemagert ist.« Und plötzlich sagte sie zornig: »Wissen Sie, mir kommt das wie eine Hypnose vor, wie eine geistige Infektion! Ja, Gerda kommt mir manchmal wie hypnotisiert vor! Der Junge setzt in unserem Haus unaufhörlich seine Weltanschauung auseinander, und Gerda be- merkt nicht die fortgesetzte Beleidigung ihrer Eltern, die darin liegt, obgleich sie sonst immer ein gutes und herzliches Kind ge- wesen ist. Wenn ich ihr aber etwas sage, so antwortet sie: ,Du bist altmodisch, Mama*. Ich dachte mir — Sie sind der einzige, auf den sie etwas gibt, und Leo hält so viel von Ihnen! — könnten Sie nicht einmal zu uns kommen und Gerda ein wenig die Augen für die Unreife von Hans und seinen Gefährten öffnen?« Da Klementine sehr korrekt und das ein Gewaltstreich war, mußte sie sehr ernste Sorgen haben. Trotz allen Zwistes fühlte sie in dieser Lage etwas wie eine solidarische Gesamthaftung mit ihrem Gatten. Ulrich hob besorgt die Augenbrauen. »Ich fürchte, Gerda wird sagen, daß auch ich altmodisch sei. Diese neuen jungen Leute hören nicht auf uns ältere, und das sind Prin- zipienfragen.« »Ich dachte schon, daß es Gerda vielleicht am ehesten auf an- dere Gedanken bringen würde, wenn Sie irgend eine Aufgabe für sie in dieser großen Aktion hätten, von der man so viel spricht« flocht Klementine ein, und Ulrich zog es vor, ihr eilig seinen Be- such anzusagen, aber zu versichern, daß die Parallelaktion für eine solche Verwendung noch lange nicht reif genug sei. Als ihn Gerda einige Tage später eintreten sah, bekam sie kreis- runde rote Flecken auf den Wangen, aber sie schüttelte ihm kräf- tig die Hand. Sie war eines jener reizend zielbewußten heutigen Mädchen, die auf der Stelle Omnibusschaffner würden, wenn eine allgemeine Idee dies verlangte. Ulrich hatte sich in der Annahme, daß er sie allein antreffen würde, nicht getäuscht; Mama besorgte um diese Stunde Einkäufe, und Papa war noch im Büro. Und Ulrich hatte kaum die ersten Schritte ins Zimmer getan, als ihn alles zum Verwechseln an einen Tag ihres früheren Beisammenseins erinnerte. Das Jahr war damals aller- dings schon um etliche Wochen weiter voran gewesen; es war Früh- ling gewesen, aber einer jener stechend heißen Tage, die dem Som- mer zuweilen wie Glutflocken voranfliegen und von den noch nicht -317- abgehärteten Körpern schlecht ertragen werden Gerdas Gesicht sah angegriffen und schmal aus. Sie war weiß gekleidet und roch weiß wie auf der Wiese getrocknetes Leinen. Die Markisen waren in allen Zimmern herabgelassen, und die ganze Wohnung war voll widerspenstigen Halblichts und Wärmepfeilen, die mit abgebro- chenen Spitzen durch das sackgraue Hindernis drangen. Ulrich hatte von Gerda das Gefühl, sie bestehe durch und durch aus sol- chen frischgewaschenen Leinenkulissen, wie es ihr Kleid war. Es war ein völlig sachliches Gefühl, und er hätte ruhig eine nach der anderen von ihr wegheben können, ohne im geringsten dazu eines verliebten Antriebs zu bedürfen. Und eben dieses Gefühl hatte er auch jetzt wieder. Es war eine scheinbar ganz natürliche, aber zwecklose Vertraulichkeit, und sie fürchteten sich beide davor. »Warum sind Sie so lang nicht bei uns gewesen?« fragte Gerda. Ulrich sagte ihr geradezu, daß er den Eindruck gewonnen hätte, ihre Eltern wünschten keinen so intimen Verkehr ohne das Ziel einer Heirat. »Ach, Mama,« sagte Gerda »Mama ist lächerlich. Wir dürfen also nicht Freunde sein, ohne daß man gleich daran denkt? ! Aber Papa wünscht, daß Sie häufiger kommen; Sie sollen doch bei die.^er großen Geschichte etwas Wichtiges geworden sein?« Sie sprach das ganz offen aus, diese Dummheit der alten Leute ;voa dem natürlichen Bündnis überzeugt, das sie beide dagegen vereinte. »Ich werde kommen,« entgegnete Ulrich »aber nun sagen Sie mir, Gerda, wohin wird uns das führen?« Die Sache war die, daß sie einander nicht liebten. Sie hatten früher oft gemeinsam Tennis gespielt oder sich in Gesellschaft getroffen, waren miteinander gegangen, hatten Anteil aneinander genommen und auf diese Weise unmerklich die Grenze überschrit- ten, die einen vertrauten Menschen, dem man sich zeigt, wie man in seiner Gefühlsunordnung ist, von allen unterscheidet, vor denen man sich fein macht. Sie waren unversehens so vertraut geworden wie zwei, die sich schon lange lieben, ja fast schon nicht mehr lieben, aber hatten sich dabei die Liebe erlassen. Sie zankten einander aus, so daß man glauben konnte, sie möchten einander nicht, aber das war zugleich Hindernis und Verbindung. Sie wußten, daß nur ein kleiner Funke fehlte, um daraus ein Feuer anzurichten. Wäre der Altersunterschied zwischen ihnen geringer oder Gerda eine ver- heiratete Frau gewesen, so wäre wahrscheinlich aus der Gelegenheit der Dieb und aus dem Diebstahl wenigstens nachträglich eine Lei- denschaft geworden, denn man redet sich in die Liebe hinein wie in den Zorn, wenn man ihre Gebärden macht. Aber gerade weil sie das wußten, taten sie es nicht. Gerda war Mädchen geblieben und ärgerte sich leidenschaftlich darüber. -318- Statt auf Ulrichs Frage zu antworten, hatte sie sich im Zimmer zu schaffen gemacht, und plötzlich stand er neben ihr. Das war sehr unüberlegt, denn man kann nicht in so einem Augenblick nah ei- nem Mädchen stehn und von einer Sache zu reden beginnen. Sie folgten dem Weg des geringsten Widerstandes, wie ein Bach, der, Hindernissen ausweichend, eine Wiese hinabfließt, und Ulrich legte seinen Arm um Gerdas Hüfte, mit den Spitzen der Finger bis an die Linie gelangend, der, abwärts schießend, das innere Band des Strumpfhalters zu folgen pflegt. Er wandte sich Gerdas Gesicht zu, das verstört und verschwitzt dreinsah, und küßte sie auf die Lip- pen. Dann standen sie da, ohne sich loslösen oder vereinigen zu können. Seine Fingerspitzen gerieten an das breite Gummiband ihres Strumpfhalters und ließen es leise einigemal gegen ihr Bein schlagen. Nun riß er sich los und wiederholte achselzuckend seine Frage: »Wohin soll uns das führen, Gerda?!« Gerda kämpfte ihre Aufregung nieder und sagte: »Muß es denn so sein?!« Sie klingelte und ließ eine Erfrischung bringen; sie setzte das Haus in Betrieb. »Erzählen Sie mir etwas von Hans!« bat Ulrich sanft, als sie saßen und ein neues Gespräch beginnen mußten. Gerda, die ihre Fassung noch nicht ganz wiedergefunden hatte, antwortete erst nicht, aber nach einer Weile sagte sie: »Sie sind ein eitler Mensch, Sie werden uns Jüngere nie verstehen!« »Bange machen gilt nicht!« entgegnete Ulrich ableitend. »Ich glaube, Gerda, daß ich die Wissenschaft jetzt aufgebe. Ich gehe also zur neuen Generation über. Genügt es Ihnen, wenn ich beschwöre, daß das Wissen mit der Habsucht verwandt ist; einen schäbigen Spartrieb darstellt; ein überheblicher innerer Kapitalismus ist? Ich habe mehr Gefühl in mir, als Sie glauben. Aber ich möchte Sie vor allen Redereien beschützen, die bloß Worte sind!« »Sie müssen Hans besser kennenlernen« erwiderte Gerda matt, aber fügte dann plötzlich heftig an: »Übrigens werden Sie es doch nie verstehn, daß man mit anderen Menschen zu einer Gemeinschaft ohne Selbstsucht verschmelzen kann!« »Kommt Hans noch immer so oft zu Ihnen?« beharrte Ulrich vor- sichtig. Gerda zuckte die Achseln. Ihre klugen Eltern hatten Hans Sepp nicht das Haus verboten, sondern ihm einige Tage im Monat eingeräumt. Dafür mußte Hans Sepp, der Student, der nichts war und noch keine Aussicht hatte, etwas zu werden, ihnen sein Ehrenwort geben, fortab Gerda zu nichts Unrechtem zu verleiten und die Propaganda der deutschen mystischen Tat einzustellen. Sie hofften, ihm damit den Zauber des Verbotenen zu nehmen. Und Hans Sepp hatte in seiner Keusch- -319- heit (denn nur Sinnlichkeit will Besitz, ist aber judisch-kapitali- stisch) das abverlangte Ehrenwort ruhig gegeben, worunter er je- doch nicht verstand, daß er heimlich öfter ins Haus kommen oder glühende Reden, begeisterte Händedrücke und selbst Küsse unter- lassen werde, was alles noch zum natürlichen Leben befreundeter Seelen gehört; sondern nur die Propaganda für ein priester- und staatsloses Bündnis, die er bis dahin theoretisch betrieben hatte. Er hatte sein Ehrenwort umso lieber gegeben, als er die seelische Reife für die Tatung seiner Grundsätze bei sich und Gerda noch nicht für gekommen erachtete und ein Riegel gegen die Einflüste- rungen der niederen Natur ganz nach seinem Sinne war. Aber die beiden jungen Leute litten natürlich unter diesem Zwang, der ihnen von außen eine Grenze setzte, ehe sie noch die innere, eigene gefunden hatten. Namentlich Gerda hätte sich die- sen Eingriff ihrer Eltern nicht gefallen lassen, wäre sie nicht selbst unsicher gewesen; aber umso bitterer empfand sie ihn. Sie liebte ihren jungen Freund eigentlich nicht sehr; weit mehr war es der Gegensatz zu ihren Eltern, den sie in Anhänglichkeit an ihn über- setzte. Wäre Gerda einige Jahre später geboren worden, so wäre ihr Papa einer der reichsten Männer der Stadt gewesen, wenn auch gerade dann kein besonders gut angesehener, und ihre Mutter würde ihn wieder bewundert haben, ehe Gerda in die Lage hätte kommen können, die Streitigkeiten zwischen ihren Erzeugern als Zwiespalt in sich selbst zu empfinden. Sie würde sich dann wahr- scheinlich mit Stolz als ein Rassenmischwesen gefühlt haben; wie die Verhältnisse aber in Wirklichkeit waren, lehnte sie sich gegen ihre Eltern und deren Lebensprobleme auf, wollte nicht von ihnen erblich belastet sein und war blond, frei, deutsch und kraftvoll, als hätte sie mit ihnen nichts zu tun. Das besaß, so gut es aussah, den Nachteil, daß sie nie dazu gekommen war, den Wurm, der an ihr fraß, ans Licht zu befördern. In ihrer häuslichen Umgebung wurde die Tatsache, daß es Nationalismus und Rassenideologie gebe, ob- gleich diese halb Europa in hysterische Gedanken verwickelten und sich gerade innerhalb der Fischeischen Mauern alles um sie drehte, als nicht vorhanden behandelt. Was Gerda davon wußte, war von außen, in den dunklen Formen des Gerüchts, als Andeutung und Übertreibung zu ihr gedrungen. Der Widerspruch, der darin lag, daß ihre Eltern sonst von allem, was viele Leute sagten, einen star- ken Eindruck empfingen, in diesem Fall aber eine sonderbare Aus- nahme machten, hatte sich ihr früh eingeprägt; und weil ihr ein bestimmter und nüchterner Sinn in dieser gespenstischen Frage ab- ging, setzte sie mit ihr namentlich in den Jahren der Halbreife alles in Verbindung, was ihr in ihrem Elternhaus unangenehm und un- heimlich war. -320- Eines Tages lernte sie den christgermanischen Kreis junger Leute kennen, dem Hans Sepp angehörte, und fühlte sich mit einemmal in ihrer wahren Heimat. Es wäre schwer zu sagen, woran diese jungen Menschen glaubten; sie bildeten eine jener unzähligen klei- nen, unabgegrenzten freien Geistessekten, von denen die deutsche Jugend seit dem Zerfall des humanistischen Ideals wimmelt. Sie waren keine Rasseantisemiten, sondern Gegner der »jüdischen Ge- sinnung«, worunter sie Kapitalismus und Sozialismus, Wissen- schaft, Vernunft, Elternmacht und -anmaßung, Rechnen, Psycho- logie und Skepsis verstanden. Ihr Hauptlehrstück war das »Sym- bol«; soweit Ulrich folgen konnte, und er hatte ja einiges Ver- ständnis für derlei Dinge, nannten sie Symbol die großen Gebilde der Gnade, durch die das Verwirrte und Verzwergte des Lebens, wie Hans Sepp sagte, klar und groß wird, die den Lärm der Sinne verdrängen und die Stirn in den Strömen der Jenseitigkeit netzen. Den Isenheimer Altar, die ägyptischen Pyramiden und Novalis nannten sie so; Beethoven und Stefan George ließen sie als An- deutungen gelten, und was ein Symbol, in nüchternen Worten ausgedrückt, sei, das sagten sie nicht, erstens weil sich Symbole in nüchternen Worten nicht ausdrücken lassen, zweitens weil Arier nicht nüchtern sein dürfen, weshalb ihnen im letzten Jahrhundert nur Andeutungen von Symbolen gelungen sind, und drittens weil es eben Jahrhunderte gibt, die den menschenfernen Augenblick der Gnade im menschenfernen Menschen nur noch spärlich hervor- bringen. Gerda, die ein kluges Mädchen war, empfand heimlich nicht we- nig Mißtrauen gegen diese übertriebenen Anschauungen, aber sie mißtraute auch diesem Mißtrauen, in dem sie ein Erbteil der elter- lichen Vernunft zu erkennen glaubte. So unabhängig sie sich gab, war sie ängstlich bemüht, ihren Eltern nicht zu gehorchen, und litt unter der Bangigkeit, daß ihre Abstammung sie hindern könnte, Hansens Gedanken zu folgen. Sie regte sich gegen die Tabugren- zen der Moral des sogenannten guten Hauses, den anmaßenden und erstickenden Eingriff des elterlichen Verfügungs rechts in die Per- sönlichkeit aus dem Innersten auf, indessen Hans, der aus »gar kei- nem Haus« stammte, wie ihre Mutter das ausdrückte, weit weniger litt; er hatte sich aus dem Kreis der Gefährten als der »Seelen- führer« Gerdas herausgeschält, sprach leidenschaftlich mit der gleichaltrigen Freundin und versuchte, sie mit seinen von Küssen begleiteten großen Auseinandersetzungen in die »Region der Un- bedingtheit« zu entrücken, aber praktisch fand er sich mit der Be- dingtheit des Hauses Fischel ganz geschickt ab, sofern man ihm nur erlaubte, es »aus Gesinnung« abzulehnen, was freilich fortwährend Anlaß zu Krach mit Papa Leo gab. 21 Musil, Mann - 32 1 - »Liebe Gerda,« sagte Ulrich nach einer Weile »Ihre Freunde quälen Sie mit Ihrem Vater und sind die schrecklichsten Erpresser, die ich kenne!« Gerda wurde blaß und rot. »Sie selbst sind kein junger Mensch mehr,« entgegnete sie »Sie denken anders als wir!« Sie wußte, daß sie Ulrichs Eitelkeit getroffen hatte, und fügte versöhnlich hinzu: »Ich stelle mir unter Liebe überhaupt nicht riesig viel vor. Viel- leicht verliere ich meine Zeit mit Hans, wie Sie sagen; vielleicht muß ich überhaupt verzichten und werde nie jemand so gern haben, daß ich ihm jede Falte meiner Seele im Denken und Fühlen, im Arbeiten und Träumen öffnen kann: Ich stelle es mir nicht einmal so schrecklich vor!« »Sie sind so altklug, Gerda, wenn Sie wie Ihre Freunde reden!« unterbrach sie Ulrich. Gerda wurde heftig. »Wenn ich mit meinen Freunden rede,« lief sie aus »so gehen die Gedanken von einem zum andern, und wir wissen, daß wir in unserem Volk leben und sprechen: verste- hen Sie das denn überhaupt? Wir stehen zwischen ungezählten Artgenossen und fühlen sie; das ist in einer Weise sinnkörperlich, die Sie bestimmt — nein, die Sie sich bestimmt nicht einmal vor- stellen können; weil Sie immer nur nach einem Menschen begehrt haben; Sie denken wie ein Raubtier!« Warum wie ein Raubtier? Der Satz, wie er in der Luft war, ver- räterisch, kam ihr selbst unsinnig vor, und sie schämte sich ihrer Augen, die sich, angstvoll aufgerissen, auf Ulrich richteten. »Ich will nicht darauf antworten« sagte Ulrich sanft. »Ich will Ihnen, um das Gespräch zu ändern, lieber eine Geschichte erzählen. Kennen Sie« — und er zog sie mit seiner Hand, in der das Gelenk der ihren verschwand wie ein Kind zwischen Bergfelsen, näher an sich heran — »die aufregende Geschichte vom Mondeinfang? Sie wissen doch, daß unsere Erde früher mehrere Monde hatte? Und es gibt eine Theorie, die viele Anhänger besitzt, nach der solche Monde nicht das sind, wofür wir sie halten, erkaltete Himmels- körper, ähnlich der Erde selbst, sondern große, durch den Welt- raum eilende Eiskugeln, die der Erde zu nahe gekommen sind und von ihr festgehalten werden. Unser Mond wäre die letzte davon. Sehen Sie ihn sich doch einmal an!« Gerda war ihm gefolgt und suchte im Sonnenhimmel den bleichen Mond. »Sieht er nicht aus wie eine Eisscheibe?« fragte Ulrich. »Das ist nicht Beleuchtung! Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es kommt, daß der Mann im Mond uns immer die gleiche Ansicht zukehrt? Er dreht sich nämlich nicht mehr, unser letzter Mond, er ist schon festgehal- ten! Sehen Sie, wenn der Mond einmal in die Gewalt der Erde ge- kommen ist, so kreist er ja nicht nur um sie, sondern sie zieht ihn -322- auch immer näher an sich. Wir bemerken es bloß nicht, weil dieses Heranschrauben Jahrhunderttausende dauert oder noch länger. Aber es ist nicht wegzuleugnen, und in der Geschichte der Erde müssen Jahrtausende vorgekommen sein, wo die Monde vor die- sem von ihr ganz nah herangezogen worden waren und mit einer ungeheuren Geschwindigkeit um die Erde rasten. Und so wie heute der Mond eine Flutwelle nach sich zieht, die einen Meter oder zwei hoch ist, so schleifte er damals einen Wasser- und Schlammberg so hoch wie ein Gebirge in taumelnder Fahrt um die Erde. Man kann sich eigentlich die Angst kaum vorstellen, in der durch solche Jahr- tausende Geschlecht um Geschlecht auf der wahnsinnigen Erde ge- lebt haben muß — « »Hat es denn damals schon Menschen gegeben?« fragte Gerda. »Gewiß. Denn zum Schluß zerreißt solch ein Eismond, prasselt nieder, und die Flut, die er unter seiner Bahn berghoch zusammen- gezogen hat, fällt zurück und schlägt mit einer ungeheuren Welle über der ganzen Kugel zusammen, ehe sie sich wieder von neuem verteilt: Das ist nichts anderes als die Sintflut, was so viel heißt wie große allgemeine Überschwemmung! Wie könnten alle Sagen das so übereinstimmend überliefern, wenn die Menschen es nicht wirklich mitgemacht hätten? Und da wir einen Mond noch haben, werden solche Jahrtausende auch noch einmal wiederkommen. Es ist ein sonderbarer Gedanke . . .« Gerda blickte atemlos zum Fenster hinaus auf den Mond; sie hatte ihre Hand noch immer in der seinen liegen, der Mond lag als blasser, häßlicher Fleck im Himmel, und gerade dieses unschein- bare Dasein gab dem phantastischen Weltabenteuer, als dessen Opfer sie in irgendeiner Gefühlsverbindung sich selbst empfand, schlichte Alltagswahrheit. »Diese Geschichte ist aber gar nicht wahr« sagte Ulrich. »Die Sachverständigen nennen es eine verrückte Theorie, und in Wirk- lichkeit kommt der Mond auch nicht der Erde näher, sondern ist sogar um zweiunddreißig Kilometer weiter von ihr entfernt, als es rechnungs gemäß sein sollte, wenn ich mich recht erinnere.« »Warum haben Sie mir dann diese Geschichte erzählt?« fragte Gerda und versuchte ihre Hand aus der seinen zu ziehn. Ihre Auf- lehnung hatte jedoch alle Kraft verloren; es ging ihr immer so, wenn sie mit einem Mann sprach, der keineswegs dümmer war als Hans, aber Ansichten ohne Übertreibung hatte, geputzte Finger- nägel und gekämmtes Haar. Ulrich beobachtete den feinen schwar- zen Flaum, der auf Gerdas blonder Haut als Widerspruch hervor- brach; das vielfältig Zusammengesetzte armer Menschen von heute schien mit diesen Härchen aus dem Leib zu sprossen. »Ich weiß es nicht« antwortete er. »Soll ich wiederkommen?« -323- Gerda ließ die Aufregung ihrer freigewordenen Hand an ver- schiedenen kleinen Gegenständen aus, die sie hin und her rückte, und erwiderte nichts. »Ich komme also bald wieder« versprach Ulrich, obgleich das vor diesem Wiedersehn nicht seine Absicht gewesen war. 74 Das 4. Jahrhundert v. Chr. gegen das Jahr 1797. Ulrich erhält abermals einen Brief seines Vaters. Es hatte sich rasch das Gerücht verbreitet, daß die Zusammen- künfte bei Diotima ein außerordentlicher Erfolg seien. In dieser Zeit erhielt Ulrich einen ungewöhnlich langen Brief seines Vaters, dem ein dickes Konvolut von Broschüren und Seperatab- drucken beigeschlossen war. In dem Brief stand ungefähr: »Mein lieber Sohn! Dein längeres Schweigen ... Ich habe dennoch von dritter Seite mit Vergnügen gehört, daß meine Bemühungen um Dich . . . mein wohlmeinender Freund Graf Stallburg . . . Se. Er- laucht Graf Leinsdorf . . . Unsere Verwandte, die Gattin des Sek- tionschefs Tuzzi . . . Wofür ich Dich jetzt ersuchen muß in Deinem neuen Kreis Deinen ganzen Einfluß einzusetzen, ist das Folgende: Die Welt zerrisse, wenn alles als wahr gelten dürfte, was dafür gehalten wird, und jeder Wille als erlaubt, der sich selbst so vor- kommt. Es ist darum unser aller Pflicht, die eine Wahrheit und den rechten Willen festzustellen und, soweit uns dies gelungen ist, mit unerbittlichem Pflichtbewußtsein darüber zu wachen, daß es auch in der klaren Form wissenschaftlicher Anschauung niedergelegt werde. Du magst daraus entnehmen, was es bedeutet, wenn ich Dir mitteile, daß in Laienkreisen, aber leider vielfach auch in solchen der Wissenschaft, welche den Einflüsterungen einer verworrenen Zeit erliegen, schon seit langem eine höchst gefährliche Bewegung im Gang ist, um bei der Neufassung unseres Strafrechts gewisse vermeintliche Verbesserungen und Milderungen zu erzielen. Ich muß vorausschicken, daß schon seit einigen Jahren zum Zweck die- ser Neufassung ein vom Minister einberufener Ausschuß von be- kannten Sachverständigen besteht, dem ich anzugehören die Ehre habe, ebenso wie mein Universitätskollege Professor Schwung, an den Du Dich vielleicht von früher, aus einer Zeit erinnerst, wo ich ihn noch nicht durchschaut hatte, so daß er durch lange Jahre als mein bester Freund gelten durfte. Was nun die Milderungen be- trifft, von denen ich gesprochen habe, so habe ich einstweilen in der Form des Gerüchts erfahren — was aber auch an und für sich lei- -324- der nur allzu wahrscheinlich ist — , daß im bevorstehenden Jubi- läumsjahr unseres ehrwürdigen und milden Herrschers, sozusagen also unter Ausnutzung aller Stimmungen der Großmut, besondere Anstrengungen zu erwarten sein werden, um jener unheilvollen Verweichlichung der Rechtspflege bei uns Eingang zu verschaffen. Dem einen Riegel vorzuschieben, sind selbstverständlich Professor Schwung und ich gleich fest entschlossen. Ich will darauf Rücksicht nehmen, daß Du juridisch nicht gebil- det bist, aber soviel wird Dir bekannt sein, daß die beliebteste Ein- bruchspforte dieser sich fälschlich Humanität nennenden Rechts- unsicherheit die Bestrebung bildet, den die Strafe ausschließenden Begriff der Unzurechnungsfähigkeit in der unklaren Form einer verminderten Zurechnungsfähigkeit auch auf jene zahlreichen In- dividuen auszudehnen, die weder geisteskrank, noch moralisch nor- mal sind und das Heer jener Minderwertigen, moralisch Schwach- sinnigen bilden, von dem unsere Kultur leider immer mehr ver- seucht wird. Du wirst Dir selbst sagen, daß der Begriff einer sol- chen verminderten Zurechnungsfähigkeit — wenn sich das über- haupt einen Begriff nennen läßt, was ich bestreite! — aufs engste mit der Fassung zusammenhängen muß, die wir den Vorstellungen der vollen Zurechnungsfähigkeit bzw. Unzurechnungsfähigkeit ge- ben, und ich komme damit auf den eigentlichen Gegenstand meiner Mitteilung. Anschließend an schon vorhandene Gesetzesfassungen und in Er- wägung der angeführten Umstände habe ich nämlich in dem vor- erwähnten vorberatenden Ausschuß vorgeschlagen, dem betr. § 318 des künftigen Straf rechts die folgende Fassung zu geben: ,Eine strafbare Handlung ist dann nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, so daß — ' und Professor Schwung unterbreitete einen Vor- schlag, der genau mit den gleichen Worten anfing. Dann aber fuhr der seine mit den Worten fort: , — so daß seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war', während der meine den Wortlaut haben sollte: , — so daß er nicht die Fähigkeit be- saß, das Unrecht seiner Handlung einzusehen'. — Ich muß gestehn, daß ich die boshafte Absicht dieses Widerspruchs anfangs selbst gar nicht bemerkt hatte. Ich habe persönlich immer die Auffassung ver- treten, daß der Wille sich bei fortschreitender Verstandes- und Vernunftentwicklung das Begehren bzw. den Trieb in Gestalt der Überlegung und des daraus folgenden Entschlusses unterwirft. Ein gewolltes ist somit immer ein mit dem Denken verknüpftes, kein instinktmäßiges Handeln. Insoweit der Mensch seinen Willen kürt, ist er frei; wenn er menschliche Begehrüngen hat* d. h. Begehrun- -325- gen, die seinem sinnlichen Organismus entsprechen, also sein Den- ken gestört ist, so ist er unfrei. Das Wollen ist eben nichts Zufäl- liges, sondern notwendig aus unserem Ich folgende Selbstbestim- mung, und also ist der Wille im Denken bestimmt, und wenn das Denken gestört ist, so ist der Wille nicht mehr Wille, sondern der Mensch handelt nur aus der Natur seines Begehrens! — Es ist mir aber natürlich bekannt, daß in der Literatur auch die gegenteilige Ansicht vertreten wird, derzufolge das Denken im Wollen bestimmt sein solle. Es ist das eine Auffassung, die unter den modernen Juristen allerdings erst seit dem Jahre 1797 ihre Anhänger hat, wogegen die von mir adoptierte seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. allen Angriffen widerstanden hat, aber ich wollte mein Entgegen- kommen beweisen und schlug deshalb eine beide Vorschläge ver- einigende Fassung vor, die dann also gelautet hätte: ,Eine strafbare Handlung ist dann nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, so daß er nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Handlung einzusehn, und seine freie Willensbestimmung ausge- schlossen war.' Da aber zeigte sich nun Professor Schwung in seiner wahren Natur! Er mißachtete mein Entgegenkommen und behauptete an- maßend, daß das ,und* in diesem Satze durch ein ,oder* ersetzt wer- den müsse. Du verstehst die Absicht. Das ist es doch gerade, was den Denker vom Laien abhebt, daß er ein Oder unterscheidet, wo dieser einfach ein Und setzt, und Schwung machte den Versuch, mich oberflächlichen Denkens zu bezichtigen, indem er meine sich in dem ,und* ausdrückende Verständigungsbereitschaft, welche beide Fassungen in eine ziehen wollte, dem Verdacht preisgab, ich hätte die Größe des zu überbrückenden Gegensatzes nicht in ihrer gan- zen Tragweite erfaßt! Es versteht sich von selbst, daß ich ihm von diesem Augenblick an mit aller Härte entgegengetreten bin. Ich habe meinen Vermittlungsvorschlag zurückgezogen und mich gezwungen gefühlt, ohne Abweichungen auf der Annahme meiner ersten Fassung zu beharren; Schwung aber trachtet mit perfidem Raffinement seither, mir Schwierigkeiten zu bereiten. So wendet er ein, daß nach meinem Vorschlag, der die Fähigkeit, das Unrecht einzusehn, zur Grundlage nimmt, eine Person, welche, wie es vor- kommt, an besonders gearteten Wahnvorstellungen leidet, sonst aber gesund ist, nur dann wegen Geisteskrankheit freigesprochen werden dürfte, wenn sich nachweisen ließe, daß sie infolge ihrer besonderen Wahnvorstellungen das Vorhandensein von Umstän- den annahm, welche ihre Handlung rechtfertigen oder deren Straf - -326- barkeit aufheben würden, so daß sie sich also in einer wenn auch falsch vorgestellten Welt doch korrekt benommen hätte. Das ist aber ein ganz nichtiger Einwand, denn wenn auch die empirische Logik Personen kennt, die teils krank und teils gesund sind, die Logik des Rechts darf in Betreff derselbigenTat niemals ein Misch- verhältnis zweier Rechtszustände zugeben, für sie sind die Per- sonen entweder zurechnungsfähig, oder sie sind es nicht, und wir dürfen annehmen, daß auch in Personen, welche an besonders ge- arteten Wahnvorstellungen leiden, die Fähigkeit, das Rechte vom Unrechten zu unterscheiden, i. a. erhalten ist. Wenn sie ihnen in einem besonderen Fall durch Wahnvorstellungen verschleiert wur- de, so hätte es eben nur einer besonderen Anspannung ihrer Intel- ligenz bedurft, um das in Übereinstimmung mit ihrem übrigen Ich zu bringen, und es ist gar kein Grund vorhanden, darin eine be- sondere Schwierigkeit zu sehen. Ich habe denn auch Professor Schwung sofort entgegnet, daß, wenn die Zustände der Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungs- fähigkeit logisch nicht gleichzeitig zu bestehen vermögen, man bei solchen Individuen annehmen müsse, daß sie in schnellem Wechsel aufeinander folgen, woraus dann gerade für seine Theorie die Schwierigkeit entsteht, für die einzelne Tat die Frage zu beantwor- ten, aus welchem dieser wechselnden Zustände sie hervorgegangen sei; denn zu diesem Behuf e müßte man alle Ursachen anführen, die auf den Angeklagten seit seiner Geburt eingewirkt haben, und alle Ursachen, welche auf seine Vorfahren gewirkt haben, die ihn mit ihren guten und schlechten Eigenschaften belasten. — Du wirst es nun kaum glauben, aber Schwung hatte in der Tat die Stirn, mir zu erwidern, daß dies ganz recht so sei, denn die Logik des Rechts dürfe in Betreff derselbigen Tat niemals ein Mischungsverhältnis zweier Rechtszustände zulassen, und darum müsse auch in Bezug auf jedes einzelne Wollen entschieden werden, ob es dem Inkul- panten nach seiner psychischen Entwicklung möglich gewesen sei, das Wollen zu beherrschen oder nicht. Wir wüßten, findet er gut zu behaupten, mit weit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei sei, als daß alles, was geschieht, eine Ursache habe, und solange wir im Grunde frei seien, seien wir es auch den einzelnen Gründen nach, weshalb man annehmen müsse, daß es in solchem Fall nur einer besonderen Anspannung der Willenskraft bedürfe, um den ursäch- lich bedingten verbrecherischen Antrieben zu widerstehn.« An dieser Stelle unterbrach Ulrich die weitere Erforschung der Pläne seines Vaters und wog nachdenklich die am Rand zitierten vielen Beilagen des Briefs in der Hand. Er warf nur noch einen Blick auf das Ende des Schreibens und unterrichtete sich, daß sein Vater von ihm eine »objektive Beeinflussung« der Grafen Leins- -327- clorf und Stallburg erwartete und den nachdrücklichen Rat gab, in den zuständigen Ausschüssen der Parallelaktion rechtzeitig auf die Gefahren hinzuweisen, die für den Geist des Staatsganzen entste- hen könnten, wenn im Jubiläumsjahr eine so wichtige Frage eine falsche Fassung und Losung erhielte. 75 G e n eral St u m m v o n Bordwein bei) achtet Bes u c h e hei Diotima als schöne Abwechshing in den d i e n s t liehen Obliege n heit e n Der kleine, dicke General hatte Diotima abermals seine Auf- wartung gemacht. — Obgleich dem Soldaten im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angemessen sei, hatte er begonnen, wage er doch zu prophezeien, daß Staat die Macht sei, sich im Völkerkampf zu behaupten, und daß die militärische Kraft, die man im Frieden entfalte, den Krieg fernhalte. Aber Diotima war ihm sofort ins Wort gefallen. »Herr General!« sagte sie, zitternd vor Zorn >, Alles Leben ruht auf Friedenskräften; selbst das Geschäftsleben, wenn man es richtig zu betrachten weiß, ist eine Dichtung « Der kleine General sah sie einen Augenblick lang bestürzt an, ruckte sich aber sogleich im Sattel zurecht. »Exzellenz« pflichtete er bei — und um diese Anrede zu verstehen, muß daran erinnert werden, daß Dio- timas Gatte Sektionschef war, daß in Kakanien ein Sektionschef den gleichen Rang hatte wie ein Divisionskommandeur, daß aber nur die Divisionskommandeure ein Anrecht auf die Ansprache Ex- zellenz besaßen und daß auch ihnen dieses Anrecht nur im dienst- lichen Verkehr zukam; da aber der Soldatenberuf ein ritterlicher ist, hätte man darin nicht vorwärtskommen können, wenn man sie nicht auch außer Dienst mit Exzellenz angesprochen hätte, und im Geiste ritterlichen Strebens redete man ihre Gattinnen gleich auch mit Exzellenz an, ohne lang über die Frage nachzudenken, wann sich diese im Dienst befanden — : so verwickelte Zusammen- hänge durcheilte der kleine General im Fluge, um Diotima gleich mit dem ersten Wort seiner unbedingten Zustimmung und Ergeben- heit zu versichern, und sagte also: »Exzellenz nehmen mir das Wort aus dem Munde. Das Kriegsministerium hat selbstverständlich bei der Bildung der Komitees aus politischen Gründen nicht berück- sichtigt werden können, aber wir haben gehört, daß die große Be- wegung ein pazifistisches Ziel erhalten soll — eine internationale Friedensaktion, sagt man, oder die Stiftung von heimischen Wand- gemälden für den Haager Palast? — und ich kann Exzellenz ver- -328- sichern, wie ungeheuer sympathisch uns das ist. Man macht sich ja gewöhnlich falsche Vorstellungen vom Militär; natürlich, ich will nicht behaupten, daß sich ein junger Leutnant nicht den Krieg wünsche, aber alle verantwortlichen Stellen sind aufs tiefste über- zeugt, daß man die Sphäre der Gewalt, die wir nun einmal leider darstellen, mit den Segnungen des Geistes verbinden müsse, genau so, wie Exzellenz es eben gesagt haben.« Er grub ein kleines Bürstchen aus der Hosentasche und fuhr da- mit einigemale über seinem kleinen Bart hin und her; es war das eine schlechte Angewohnheit aus seiner Kadettenzeit, wo der Bart noch die ungeduldig erwartete große Lebenshcffnung bildet, und er wußte es gar nicht. Mit seinen großen braunen Augen starrte er Diotima ins Gesicht und suchte die Wirkung seiner Worte abzule- sen. Diotima zeigte sich besänftigt, wenn sie es auch niemals in sei- ner Gegenwart gänzlich war, und geruhte, dem General Aufschlüsse über das zu geben, was seit der großen Sitzung vor sich gegangen war. Der General zeigte sich namentlich von dem großen Konzil begeistert, gab seiner Bewunderung für Arnheim Ausdruck und sprach die Überzeugung aus, daß eine solche Zusammenkunft her- vorragend segensreich wirken müsse. »Es gibt ja viele Menschen, die gar nicht wissen, wie wenig Ordnung der Geist hat!« führte er aus. »Ich bin sogar, wenn Exzellenz gestatten, überzeugt, daß die meisten Menschen glauben, täglich einen Fortschritt der allgemei- nen Ordnung zu erleben. Sie sehen alles voll von Ordnung; die Fabriken, die Eisenbahnfahrpläne und Unterrichtsanstalten, — ich darf da wohl auch mit Stolz unsere Kasernen erwähnen, die mit bescheidenen Mitteln geradezu an die Disziplin eines guten Musik- orchesters erinnern — , und man kann hinschaun, wo man will, so sieht man eine Ordnung, eine Geh-, Fahr-, Steuer-, Kirchen-, Ge- schäfts-, Rang-, Ball-, Sittenordnung und so weiter. Also ich bin überzeugt, daß fast jeder Mensch heute unser Zeitalter für das geordnetste hält, was es je gegeben hat. Haben Exzellenz nicht auch, so im Innersten, dieses Gefühl? Ich wenigstens hab' es. Also ich, wenn ich nicht sehr aufpasse, habe ich sofort das Gefühl, daß der Geist der Neuzeit eben in dieser größeren Ordnung liegt und daß die Reiche von Ninive und Rom an irgendeiner Schlamperei zugrunde gegangen sein müssen. Ich glaube, die meisten Menschen empfinden so und setzen stillschweigend voraus, daß die Vergan- genheit zur Strafe vergangen ist, für irgendetwas, das nicht in Ord- nung war. Aber diese Vorstellung ist ja freilich eine Täuschung, der sich gebildete Menschen nicht hingeben sollten. Und darin liegt leider die Notwendigkeit der Macht und des Soldatenberufs!« Der General empfand tiefe Befriedigung darüber, mit dieser geistvollen jungen Frau so zu plaudern; da hatte er einmal eine -329- schöne Abwechslung in den dienstlichen Obliegenheiten. Aber Dio- tima wußte nicht, was sie ihm antworten sollte; aufs Geratewohl wiederholte sie* »Wir hoffen ja wirklich die bedeutendsten Män- ner zu versammeln, aber die Aufgabe bleibt auch dann noch schwer. Sie machen sk * keine Vorstellung davon, wie mannigfaltig die Anregungen sind, die man empfängt, und man möchte doch das Beste wählen Aber Sie haben Ordnung gesagt, Herr General: Nie- mals wird man durch Ordnung, durch nüchternes Abwägen, Ver- gleichen und Prüfen ans Ziel kommen; die Lösung muß ein Blitz, ein Feuer, eine Intuition, eine Synthese sein! Wenn man die Ge- schichte der Menschheit betrachtet, so ist sie keine logische Entwick- lung, wohl aber erinnert sie mit ihren plötzlichen Eingebungen, deren Sinn sich erst nachträglich herausstellt, an eine Dichtung'« »Halten zugute, Exzellenz,« erwiderte der General »der Soldat versteht wenig von Dichtung; aber wenn jemand einer Bewegung Blitz und Feuer schenken kann, so sind es Exzellenz, das versteht ein alter Offizier!« 76 Graf Leinsdorf zeigt sich zurückhaltend So weit war der dicke General ja ganz urban, wenn er auch seine Besuche machte, ohne aufgefordert worden zu sein, und Dio- tima hatte ihm mehr anvertraut, als sie wollte. Was ihn trotzdem mit Schreck umgab und sie nachträglich ihre Liebenswürdigkeit wieder bedauern hieß, war eigentlich nicht er selbst, sondern, wie Diotima es sich erklärte, ihr alter Freund Graf Leinsdorf. War Se. Erlaucht eifersüchtig? Und wenn, auf wen? Leinsdorf zeigte sich dem Konzil, obgleich er es jedesmal mit kurzer Anwesenheit be- ehrte, nicht so günstig, wie Diotima erwartet hatte. Se. Erlaucht hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen etwas, das er Nur- Literatur nannte. Es war das eine Vorstellung, die sich für ihn mit Juden, Zeitungen, sensationssüchtigen Buchhändlern und dem libe- ralen, ohnmächtig schwätzenden, für Geld produzierenden Geist des Bürgertums verband, und das Wort Nur-Literatur war gerade- zu ein neuer Ausdruck von ihm geworden. Jedesmal, wenn Ulrich Anstalten traf, ihm die mit der Post eingelaufenen Vorschlage vor- zulesen, worunter sich alle die Anregungen befanden, die Welt vorwärts oder zurück zu bewegen, wehrte er jetzt mit den Worten ab, die jedermann gebraucht, wenn er neben seinen eigenen Ab- sichten auch noch die Absichten aller anderen Menschen erfährt, er sagte: »Nein, nein, ich habe heute etwas Wichtiges vor, und das da - 330 ~ ist ja doch nur Literatur!« Er dachte dann an Felder, Bauern, kleine Landkirchen und jene fest von Gott wie die Garben auf einem ge- schnittenen Feld gebundene Ordnung, die so schön, gesund und lohnend ist, wenn sie auf den Gütern auch zuweilen Schnapsbren- nereien zuläßt, um der Entwicklung Rechnung zu tragen. Hat man aber diese ruhige Weite des Blicks, so erscheinen in ihr Schützen- vereine und Molkereigenossenschaften, mögen sie noch so abseits zu Hause sein, als ein Stück fester Ordnung und Bindung; und soll- ten sie sich veranlaßt sehen, auf weltanschaulicher Grundlage eine Forderung zu stellen, so hat diese, wie man sagen könnte, den Vor- rang eines grundbücherlich eingetragenen Geistesbesitzes vor den Forderungen, die der Geist irgendeines Privatmannes aufstellt. So kam es, daß Graf Leinsdorf, wenn Diotima mit ihm ernst über das reden wollte, was sie von den großen Geistern in Erfahrung ge- bracht hatte, gewöhnlich die Eingabe irgendeines Vereines von fünf Dummköpfen in der Hand hatte oder aus der Tasche zog und die Behauptung aufstellte, dieses Papier wiege in der Welt der realen Sorgen schwerer als die Einfälle von Genies. Das war ein ähnlicher Geist wie der, den Sektionschef Tuzzi an den Archiven seines Ministeriums rühmte, die es ausschlössen, das Konzil amtlich als vorhanden anzusehen, dagegen jeden Flohstich des kleinsten Provinzboten blutig ernst nahmen; und Diotima hatte in solchen Sorgen niemand, dem sie sich anvertrauen konnte, außer Arnheim. Aber gerade Arnheim nahm Se. Erlaucht in Schutz. Er war es, der ihr die ruhige Weite des Blicks dieses Grandseigneurs auseinandersetzte, als sie sich über die Vorliebe beklagte, die Graf Leinsdorf für Standschützen und Molkereigenossenschaften an den Tag lege. »Se. Erlaucht glaubt an die richtunggebende Kraft des Bodens und der Zeit« erläuterte er ernst. »Glauben Sie mir, das kommt vom Landbesitz. Der Boden entkompliziert, so wie er das Wasser reinigt. Selbst ich auf meinem sehr bescheidenen Gut ver- spüre bei jedem Aufenthalt diese Wirkung. Das wirkliche Leben macht einfach.« Und nach einigem Zögern fügte er hinzu: »Se. Er- laucht ist in seiner großlinigen Lebensgestaltung auch äußerst tole- lant, um nicht zu sagen, waghalsig duldsam — « Da diese Seite an ihrem erlauchten Gönner Diotima neu war, blickte sie lebhaft auf. »Ich möchte nicht mit Sicherheit behaupten,« fuhr Arnheim mit un- bestimmtem Nachdruck fort »daß Graf Leinsdorf bemerkt, wie sehr Ihr Vetter als Sekretär sein Vertrauen mißbraucht, natürlich nur gesinnungsmäßig, will ich gleich hinzufügen, durch seine Skepsis gQgcn hohe Pläne und spöttische Sabotage. Ich würde befürchten, daß sein Einfluß auf Graf Leinsdorf kein günstiger sei; wenn nicht dieser wahre Pair eben so sicher eingefügt wäre in die großen überlieferten Gefühle und Ideen, auf denen das wirkliche Le- -331- ben ruht, daß er sich dieses Vertrauen wahrscheinlich gestatten kann.« Das war eine starke und verdiente Äußerung über Ulrich, aber Diotima achtete nicht so sehr darauf, weil ihr der andere Teil von Arnheims Auffassung Eindruck machte, gleichsam Güter nicht wie ein Gutsbesitzer zu besitzen, sondern wie eine seelische Massage; sie fand das gioßartig und sann dem Gedanken nach, sich als Gat- tin auf einem solchen Gut zu denken. »Ich bewundere manchmal,« sagte sie »mit wieviel Nachsicht Sie über Se. Erlaucht urteilen! Das ist doch schließlich ein versinkender Geschichtsabschnitt?« »Ja, ge- wiß;« erwiderte Arnheim »aber die einfachen Tugenden, Mut, Rit- terlichkeit und Selbstzucht, welche diese Kaste vorbildlich entwik- keit hat, werden immer ihren Wert behalten. Mit einem Wort, der Herr! Ich habe dem Element des Herrn auch im Geschäftsleben immer größeren Wert beilegen gelernt.« »Dann wäre der Herr am Ende beinahe das gleiche wie das Ge- dicht?« fragte Diotima nachdenklich. »Sie haben ein wunderbares Wort gesagt!« bekräftigte ihr Freund. »Es ist das Geheimnis des kraftvollen Lebens. Man kann mit dem Verstand allein weder moralisch sein, noch Politik machen. Der Verstand reicht nicht aus, die entscheidenden Dinge vollziehen sich über ihn hinweg. Menschen, die Großes erreichten, haben immer die Musik, das Gedicht, die Form, Zucht, Religion und Ritterlichkeit geliebt. Ja ich möchte sogar behaupten, daß nur Menschen, die das tun, Glück haben! Denn das sind die sogenannten Imponderabilien, die den Herrn, den Mann ausmachen, und noch was in der Be- wunderung des Volks für den Schauspieler mitschwingt, ist ein un- verstandener Rest davon. Aber um auf Ihren Vetter zurückzukom- men: Es ist natürlich nicht einfach so, daß man anfängt, konservativ zu werden, wenn man zu bequem für Ausschweifungen geworden ist; sondern, wenn wir auch alle als Revolutionäre geboren werden, eines Tages bemerkt man, daß ein einfach guter Mensch, wie immer seine Intelligenz zu beweiten sein möge, ein verläßlicher, heiterer, tapferer, treuer Mensch also, nicht nur einen unerhörten Genuß bereitet, sondern auch der wirkliche Erdstoff ist, in dem das Leben ruht. Das ist eine Altvordernweisheit, aber sie bedeutet den ent- scheidenden Wechsel des Geschmacks, der in der Jugend natürlich auf das Exotische gerichtet ist, zum Geschmack des Mannes. Ich bewundere in vielem Ihren Vetter, oder wenn das zu viel gesagt sein sollte, denn man kann wenig von dem verantworten, was er spricht, so möchte ich beinahe sagen, ich liebe ihn, denn er hat etwas außerordentlich Fieies und Unabhängiges neben vielem, was inner- lich steif und sonderbar ist; eben diese Mischung von Freiheit und innerer Steifigkeit macht übrigens vielleicht seinen Reiz aus, aber -332- er ist ein gefährlicher Mensch, mit seiner infantilen moralischen Exotik und seinem ausgebildeten Verstand, der immer ein Aben- teuer sucht, ohne zu wissen, was ihn eigentlich dazu treibt.« Arnheim als Freund der Journalisten Diotima hatte wiederholt Gelegenheit, die Imponderabilien der Haltung an Arnheim zu beobachten. So wurden zum Beispiel auf seinen Rat den Tagungen des »Kon- zils« (wie Sektionschef Tuzzi etwas spöttisch den »Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in Bezug auf das siebzigjährige Regierungs Jubiläum Sr. Majestät« getauft hatte) manchmal auch die Repräsentanten großer Zeitungen zugezogen, und Arnheim er- freute sich, obgleich er nur als Gast ohne Amt anwesend war, einer Aufmerksamkeit bei ihnen, vor der alle andere Berühmtheit zu- rücktrat. Denn aus irgendeinem imponderablen Grund sind ja die Zeitungen nicht Laboratorien und Versuchsstätten des Geistes, was sie zum allgemeinen Segen sein könnten, sondern gewöhnlich Ma- gazine und Börsen. Es würde Piaton — um ihn als Beispiel zu neh- men, weil man ihn neben einem Dutzend anderer den größten Den- ker nennt, — ganz bestimmt, wenn er noch lebte, entzückt sein von einem Zeitungsbetrieb, wo jeden Tag eine neue Idee erschaffen, ausgewechselt, verfeinert werden kann, wo von allen Enden der Welt, mit einer Geschwindigkeit, die er nie erlebt hat, die Nach- richten zusammenströmen und ein Stab von Demiurgen bereit ist, sie augenblicklich auf ihren Gehalt an Geist und Wirklichkeit zu prüfen. Er würde in einer Zeitungsredaktion jenen Topos uranios, den himmlischen Ort der Ideen vermutet haben, dessen Vorhan- densein er so eindringlich beschrieben hat, daß noch heute alle bes- seren Menschen, wenn sie zu ihren Kindern oder Angestellten spre- chen, Idealisten sind. Und natürlich würde Piaton, wenn er heute plötzlich in einer Redaktion vorspräche und nachwiese, daß er wirklich jener große Schriftsteller sei, der vor mehr als zweitausend Jahren gestorben ist, damit ungeheures Aufsehen erregen und die lohnendsten Anträge erhalten. Wäre er dann imstande, binnen drei Wochen einen Band philosophischer Reisebriefe zu schreiben und einige tausend seiner bekannten Kurzgeschichten, vielleicht auch eines oder das andere seiner älteren Werke zu verfilmen, so würde es ihm sicher auf längere Zeit ganz gut gehen. Sobald jedoch die Aktualität seiner Wiederkehr vorbei wäre und Herr Piaton wollte dann noch eine seiner bekannten Ideen, die sich niemals ganz -333- durchsetzen konnten, verwirklichen, so würde ihn der Chefredak- teur nur noch auffordern, zuweilen für die Unterhaltungsbeilage des Blattes ein hübsches Feuilleton darüber zu schreiben (aber mög- lichst locker und flott, nicht so schwer im Stil, mit Rücksicht auf den Leserkreis), und der Feuilletonredakteur vürde hinzufügen, daß er einen solchen Beitrag leider höchstens einmal im Monat unterbrin- gen könne, weil doch noch so viele andere Talente zu berücksich- tigen seien. Und beide Herren besäßen danach das Gefühl, sehr viel für einen Mann getan zu haben, der zwar der Nestor der euro- päischen Publizisten ist, aber doch etwas überholt und an Gegen- wartswert keineswegs einem Mann wie etwa Paul Arnheim gleich- zustellen sei. Was nun Arnheim angeht, so würde er zwar niemals dem bei- pflichten, weil seine Ehrfurcht vor allem Großen dadurch verletzt würde, aber in mancher Hinsicht fände er es doch sehr begreiflich. Heute, wo alles Mögliche durcheinander geredet wird, wo Prophe- ten und Schwindler die gleichen Redensarten gebrauchen, bis auf kleine Unterschiede, denen nachzuspüren kein beschäftigter Mensch die Zeit hat, wo die Redaktionen fortwährend damit belästigt wer- den, daß irgendwer ein Genie sei, ist es sehr schwer, den Wert des Menschen oder einer Idee richtig zu erkennen; man kann sich eigent- lich nur auf das Gehör verlassen, um zu erkennen, wann das Ge- murmel, Raunen und Scharren vor der Redaktionstür laut genug ist, um als Stimme der Allgemeinheit eingelassen zu werden. Von diesem Augenblick an tritt dann allerdings das Genie in einen an- deren Zustand ein. Es ist nicht mehr bloß eine windige Angelegen- heit der Buch- oder Theaterkritik, deren Widersprüche ein Leser, wie ihn sich die Zeitung wünscht, so wenig ernst nimmt wie das Gerede von Kindern, sondern es erhält den Rang einer Tatsache, mit allen Folgen, die das hat. Törichte Eiferer übersehen das verzweifelte Bedürfnis nach Idea- lismus, das dahinter steckt. Die Welt des Schreibens und Schreiben- müssens ist voll von großen Worten und Begriffen, die ihre Gegen- stände verloren haben. Die Attribute großer Männer und Begeiste- rungen leben länger als ihre Anlässe, und darum bleiben eine Menge Attribute übrig. Sie sind irgendeinmal von einem bedeu- tenden Mann für einen anderen bedeutenden Mann geprägt wor- den, aber diese Männer sind längst tot, und die überlebenden Be- griffe müssen angewendet werden. Deshalb wird immerzu zu den Beiwörtern der Mann gesucht. Die »gewaltige Fülle« Shakespeares die »Universalität« Goethes, die »psychologische Tiefe« Dostojew- skis und alle die anderen Vorstellungen, die eine lange literarische Entwicklung hinterlassen hat, hängen zu Hunderten in den Köpfen der Schreibenden umher, und aus reiner Absatzstockung nennen »334- diese heute schon einen Tennisstrategen abgründig oder einen Modedichter groß. Man begreift, daß sie dann dankbar sind, wenn sie ihre vorrätigen Worte ohne Verlust an den Mann bringen kön- nen. Aber es muß ein Mann sein, dessen Bedeutung bereits eine Tatsache ist, so daß man es versteht, daß die Worte an ihm Platz finden, wenn es auch gar nicht darauf ankommt, wo. Und ein sol- cher Mann war Arnheim; denn Arnheim war Arnheim, an Arnheim war Arnheim daran, als Erbe seines Vaters war er schon als Ereig- nis geboren worden, und es konnte keine Zweifel an der Aktualität dessen geben, was er sagte. Er brauchte sich nur der kleinen An- strengung zu unterziehen, irgend etwas zu äußern, das man mit gutem Willen bedeutend finden konnte. Und Arnheim selbst faßte das auch in einen richtigen Grundsatz. »Ein großer Teil der wirk- lichen Bedeutung eines Mannes liegt darin, sich seinen Zeitgenossen verständlich machen zu können« pflegte er zu sagen. Er kam also auch diesmal ausgezeichnet mit den Zeitungen aus, die sich seiner bemächtigten. Er lächelte bloß über ehrgeizige Finanzleute oder Politiker, die am liebsten ganze Wälder von Blät- tern aufkaufen möchten; dieser Versuch, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, erschien ihm so ungeschlacht und verzagt, wie wenn ein Mann einer Frau Geld für ihre Liebe anträgt, obgleich er alles doch viel billiger dadurch haben kann, daß er ihre Phantasie erregt. Er hatte den Journalisten, die ihn über das Konzil befragten, geant- wortet, daß schon die Tatsache dieser Zusammenkunft ihre tiefe Notwendigkeit beweise, denn in der Weltgeschichte geschehe nichts Unvernunftiges, und damit hatte er so ausgezeichnet ihre Berufs- stimmung getroffen, daß dieser Ausspruch in mehreren Zeitungen wiedergegeben wurde. Es war, wenn man ihn näher betrachtet, auch wirklich ein guter Satz. Denn Menschen, die alles, was geschieht, wichtig nehmen, müßte übel werden, wenn sie nicht die Überzeu- gung hätten, daß nichts Unvernünftiges geschieht; aber anderer- seits würden sie sich, wie bekannt, auch lieber in die Zunge beißen, als etwas zu wichtig zu nehmen, und sei es gerade das Bedeutende selbst. Die leichte Prise von Pessimismus, die in Arnheims Äuße- rung lag, trug viel dazu bei, dem Unternehmen reelle Würdigkeit zu geben, und nun konnte auch der Umstand, daß er ein Landfremder war, als Teilnahme des gesamten Auslandes an ungeheuer interessanten geistigen Vorgängen in Österreich ge- deutet werden. Die anderen Berühmtheiten, die am Konzil teilnahmen, hatten nicht die gleiche unbewußte Gabe, der Presse zu gefallen, aber sie bemerkten die Wirkung; und da Berühmtheiten im allgemeinen wenig voneinander wissen und sich im Ewigkeitszug, der sie alle miteinander fuhrt, meist nur im Speisewagen zu Gesicht bekom- -3S5- men, wirkte die besondere öffentliche Geltung, die Arnheim fand, ohne Nachprüfung auch auf sie ein, und obgleich er sich den Sitzun- gen aller bestallten Ausschüsse nach wie vor fernhielt, fiel ihm im Konzil ganz von selbst die Rolle eines Mittelpunktes zu. Je mehr diese Zusammenkunft fortschritt, desto deutlicher stellte es sich heraus, daß er ihre eigentliche Sensation war, obgleich er im Grunde nichts dafür tat, ausgenommen vielleicht, daß er auch im Verkehr mit den berühmten Mitteilnehmern ein Urteil an den Tag legte, das man als bekennensfreudigen Pessimismus in dem Sinne deuten konnte, daß wohl kaum etwas von dem Konzil zu erwarten sei, an- dererseits aber eine so edle Aufgabe für sich allein schon alle ver- trauende Hingabe erfordere, über die man verfüge. Ein solcher zarter Pessimismus erwirbt auch unter großen Geistern Vertrauen; denn aus irgendwelchen Gründen ist die Vorstellung, daß der Geist heute überhaupt niemals wirklichen Erfolg hat, sympathischer als die, daß der Geist eines der Kollegen diesen Erfolg haben sollte, und man konnte Arnheims zurückhaltendes Urteil über das Konzil als eine Anpassung an diese Chance auffassen. 78 XJ ei Wandlungen Dioti in a s Die Gefühle Diotimas hatten nicht ganz die gleiche geradlinig aufsteigende Entwicklung wie der Erfolg Arnheims. Es kam vor, daß sie inmitten einer Gesellschaft und ihrer in allen Zimmern kahl geräumten und verwandelten Wohnung in einem geträumten Land zu erwachen glaubte. Sie stand dann von Raum und Menschen umgeben, das Licht des Kronleuchters floß über ihr Haar und von da über Schultern und Hüften hinab, so daß sie seine hellen Fluten zu fühlen meinte, und sie war ganz Statue, Brunnen- figur hätte sie sein können, im Mittelpunkt eines Weltmittelpunkts, von höchster geistiger Anmut überströmt. Sie hielt diese Lage für eine nie wiederkehrende Gelegenheit, alles das zu verwirklichen, woran man im Lauf des Lebens als das Wichtigste und Größte geglaubt hat, und machte sich wenig mehr daraus, daß sie sich nichts Bestimmtes dabei denken konnte. Die ganze Wohnung, die An- wesenheit der Menschen darin, der ganze Abend umgab sie wie ein Kleid, das innen gelbseiden ist; sie fühlte es ihrer Haut zugekehrt, aber sie sah es nicht. Von Zeit zu Zeit wandte sich ihr Blick Arn- heim zu, der gewöhnlich anderswo in einer Gruppe von Männern stand und redete; aber dann bemerkte sie, daß ihr Blick schon die ganze Zeit auf ihm geruht hatte, und es war nur ihr Erwachen, das -336- sich ihm nachwandte. Es ruhten, wenn man so sagen darf, auch ohne daß sie hinsah, die äußersten Flügelspitzen ihrer Seele immer auf seinem Gesicht und meldeten, was darin vorging. Und um bei Federn zu bleiben, wäre hinzuzufügen, daß etwas Geträumtes auch in seiner Erscheinung war, etwa ein Händler mit goldenen Engelsflügeln, der sich in die Versammlung herabgelas- sen hatte. Das Klirren von Expreß- und Luxuszügen, das Surren von Autos, die Stille von Jagdhütten, das Klatschen von Jacht- segeln war in diesen unsichtbaren, zusammengefalteten, bei einer erklärenden Gebärde seines Arms leise rauschenden Fittichen, mit denen ihr Gefühl ihn ausstattete. Arnheim war nach wie vor oft auf Reisen abwesend, und seine Gegenwart hatte dadurch immer etwas über den Augenblick und die lokalen Ereignisse Hinausrei- chendes, die für Diotima schon so wichtig waren. Sie wußte, daß ein geheimes Kommen und Gehen von Depeschen, Besuchern und Abgesandten des eigenen Geschäftes, während er hier war, statt- fand. Sie hatte allmählich eine Vorstellung und vielleicht sogar eine übertriebene von der Bedeutung eines Welthauses und seiner Verflochtenheit mit den Vorgängen des großen Lebens erlangt. Arnheim erzählte zuweilen atemraubend interessant von den Be- ziehungen des internationalen Kapitals, Überseegeschäften und politischen Zusammenhängen; ganz neue Horizonte, zum erstenmal überhaupt Horizonte, taten sich vor Diotima auf, man brauchte ihn etwa nur ein einzigesmal über den französisch-deutschen Gegensatz sprechen gehört zu haben, von dem Diotima nicht viel mehr wußte, als daß beinahe alle Personen ihrer Umgebung eine leichte Ab- neigung gegen Deutschland, gemischt mit einer gewissen lästigen Bruderverpflichtung, hatten: in seiner Darstellung wurde es ein gallisch-keltisch-ostisch-thyreologisches Problem, verbunden mit dem der lothringischen Kohlengruben und weiterhin dem der mexi- kanischen Ölfelder und dem Gegensatz zwischen Englisch- und Lateinamerika. Von solchen Zusammenhängen hatte Sektionschef Tuzzi keine Ahnung oder zeigte sie wenigstens nicht. Er begnügte sich damit, Diotima von Zeit zu Zeit erneut darauf aufmerksam zu machen, daß seiner Ansicht nach Arnheims Anwesenheit und Be- vorzugung ihres Hauses keinesfalls ohne die Annahme verborgener Zwecke zu verstehen sei, aber über deren mögliche Natur schwieg er und wußte selbst nichts davon. So fühlte seine Gattin eindrucksvoll die Überlegenheit neuer Menschen über die Methoden veralteter Diplomatie. Sie hatte den Augenblick, wo sie den Entschluß faßte, Arnheim an die Spitze der Parallelaktion zu bringen, nicht vergessen. Es war die erste große Idee ihres Lebens gewesen, und sie hatte sich dabei in einem wun- derlichen Zustand befunden; es war eine Art Traum- und Schmelz- 22 Musil, Mann -337 - zustand über sie gekommen, die Idee war in so wunderbare Weiten geraten, und alles, was die Welt Diotimas bis dahin ausgemacht hatte, war dieser Idee entgegen geschmolzen. Was man davon in Worte zu fassen vermochte, bedeutete ja recht wenig; ein Glitzern war es, ein Flimmern, eine eigentümliche Leere und Ideenflucht, und man konnte sogar ruhig zugeben, — dachte Diotima — daß der darin enthaltene Kern, eben der, Arnheim an die Spitze der neu- artigen patriotischen Aktion zu bringen, unmöglich gewesen sei. Arnheim war Ausländer, das blieb richtig. So unmittelbar, wie sie ihn Graf Leinsdorf und ihrem Gatten vorgetragen hatte, war die- ser Einfall also nicht zu verwirklichen. Aber trotzdem war alles so gekommen, wie es ihr in diesem Zustande eingegeben worden war. Denn auch alle anderen Anstrengungen, der Aktion einen wirklich erhebenden Inhalt zu geben, waren bisher vergeblich geblieben; die große erste Sitzung, die Arbeiten der Ausschüsse, selbst dieser Privatkongreß, vor dem Arnheim übrigens, einer merkwürdigen Ironie des Schicksals gehorchend, gewarnt hatte, hatten bisher nichts anderes hervorgebracht als — Arnheim, um den man sich drängte, der unaufhörlich sprechen mußte und den geheimen Mittelpunkt aller Hoffnungen bildete. Das war der neue Typus Mensch, der berufen ist, die alten Machte in der Lenkung der Geschicke abzu- lösen. Sie durfte sich schmeicheln, daß sie es gewesen war, die ihn sofort entdeckt, mit ihm über das Eindringen des neuen Menschen in die Sphäien der Macht gesprochen und ihm geholfen hatte, gegen den Widerstand aller anderen hier seinen Weg zu gehen. Sollte also Arnheim wirklich dabei noch etwas Besonderes im Schilde ge- führt haben, wie Sektionschef Tuzzi vermutete, so wäre Diotima auch dann beinahe von vornherein entschlossen gewesen, ihn mit allen Mitteln zu unterstützen, denn eine große Stunde verträgt keine kleinliche Piüfung, und sie fühlte deutlich, daß sich ihr Leben auf einem Gipfel befand Von den Unglücksvogeln und Glückspilzen abgesehen, leben alle Menschen gleich schlecht, aber sie leben es in verschiedenen Etagen. Diese Selbstgefühlslage der Etage ist für den Menschen heute, der ja im allgemeinen wenig Ausblick auf den Sinn seines Lebens hat, ein überaus anstiebenswerter Eisatz. In großen Fällen kann sie sich zu einem Höhen- und Machtrausch steigern, so wie es Leute gibt, die in einem hohen Stockwerk schwindlig weiden, auch wenn sie sich bei geschlossenen Fenstern in der Zimmermitte stehen wissen. Wenn Diotima bedachte, daß einer der einflußreichsten Männer Europas gemeinsam mit ihr daran arbeite, Geist in Machtsphären zu tragen, und wie sie beide geradezu durch Fügung des Schicksals zusammengeführt worden seien und was vor sich ging, auch wenn in dem hohen Stockwerk eines weltösterreichischen Menschheits- -338- werks an diesem Tag gerade nichts Besonderes vorging: wenn sie das bedachte, so glichen die Verknüpfungen ihrer Gedanken alsbald Knoten, die sich zu Schlingen aufgelöst haben, die Denkgeschwin- digkeit nahm zu, der Ablauf war erleichtert, ein eigentümliches Gefühl des Glucks und Gelingens begleitete ihre Einfälle, und ein Zustand des Zuströmens brachte ihr Einsichten, die sie selbst über- raschten. Ihr Selbstbewußtsein war gesteigert; Erfolge, an die zu glauben sie früher nicht gewagt hätte, lagen in greifbarer Nähe, sie fühlte sich heiterer, als sie es gewohnt war, manchmal fielen ihr sogar gewagte Scherze ein, und etwas, das sie in ihrem ganzen Le- ben noch nie an sich beobachtet hatte, Wellen von Fröhlichkeit, ja Ausgelassenheit gingen durch sie. Sie fühlte sich wie in einem Turmzimmer mit vielen Fenstern. Aber das hatte auch sein Un- heimliches an sich. Sie wurde von einem unbestimmten, allgemei- nen, unsäglichen Wohlgefühl geplagt, das nach irgendwelchen Handlungen drängte, nach einem allseitigen Handeln, von dem sie sich keine Vorstellung zu machen vermochte. Man könnte fast sagen, die Drehung des Globus unter ihren Füßen kam ihr plötzlich zu Bewußtsein, und sie wurde sie nicht los; oder diese heftigen Vor- gänge ohne greifbaren Inhalt waren so hemmend wie ein vor den Beinen herspringender Hund, den niemand kommen gesehn hat. Diotima angstigte sich darum zuweilen vor der Veränderung, die ohne ihre ausdrückliche Genehmigung mit ihr vor sich gegangen war, und alles in allem glich ihr Zustand am ehesten jenem hellen nervösen Grau, das die Farbe des zarten, von aller Schwere befrei- ten Himmels in der mutlosen Stunde der größten Hitze ist. Diotimas Streben nach dem Ideal machte dabei eine wichtige Wandlung durch. Dieses Streben war nie ganz sicher von der kor- rekten Bewunderung großer Dinge zu unterscheiden gewesen, es war ein vornehmer Idealismus, eine dezente Gehobenheit, und da man in den gegenwärtigen robusteren Zeiten kaum noch weiß, was das ist, mag einiges davon in Kürze noch einmal beschrieben wer- den. Er war nicht sachlich, dieser Idealismus, weil Sachlichkeit handwerksmäßig und Handwerk immer unsauber ist; er hatte viel- mehr etwas von der Blumenmalerei von Erzherzoginnen, denen andere Modelle als Blumen unangemessen waren, und ganz be- zeichnend für diesen Idealismus war der Begriff Kultur, er fühlte sich kulturvoll. Man konnte ihn aber auch harmonisch nennen, weil er alle Unausgeglichenheit verabscheute und die Aufgabe der Bil- dung darin sah, die leider in der Welt vorhandenen rohen Gegen- sätze in Harmonie miteinander zu bringen; mit einem Wort, er war vielleicht gar nicht so sehr verschieden von dem, was man noch heute — allerdings nur dort, wo man an der großen bürgerlichen Überlieferung festhält, — unter einem gediegenen und sauberen - 339 - Idealismus versteht, der ja sehr zwischen Gegenständen unterschei- det, die seiner würdig, und solchen, die es nicht sind, und aus Grün- den der höheren Humanität keineswegs an die Überzeugung der Heiligen (und der Ärzte und Ingenieure) glaubt, daß auch in den moralischen Abfällen unausgenützte himmlische Heizkraft stecke. Wenn man Diotima früher aus dem Schlaf geweckt und gefragt hätte, was sie wolle, so hätte sie, ohne sich besinnen zu müssen, geantwortet, die Liebeskraft einer lebendigen Seele habe das Be- dürfnis, sich aller Welt mitzuteilen; aber nach einigem Wachsein hätte sie es durch die Bemerkung eingeschränkt, daß man in der heutigen Welt, wie sie durch Überwuchern von Zivilisation und Verstand geworden sei, allerdings selbst bei den höchsten Naturen vorsichtigerweise nur noch von einem der Liebeskraft analogen Streben sprechen könne. Und sie hätte es wirklich so gemeint. Es gibt noch heute Tausende solcher Menschen, die den Verstäubern von Liebeskraft gleichen. Wenn Diotima sich zum Lesen ihrer Bü- cher hinsetzte, so strich sie das schöne Haar aus der Stirn, was ihr ein logisches Ansehen gab, und sie las mit Verantwortungsbewußt- sein und in dem Bestreben, sich aus dem, was sie Kultur nannte, eine Hilfe in der nicht leichten gesellschaftlichen Lage zu bilden, in der sie sich befand; so lebte sie auch, sie verteilte sich in kleinen Tröpfchen feinster Liebe an alle Dinge, die es verdienten, schlug sich als Hauch, in einiger Entfernung von sich selbst an diesen nie- der, und für sie selbst blieb eigentlich nur die leere Flasche des Kör- pers zurück, die zum Hausstand des Sektionschefs Tuzzi gehörte. Das hatte vor dem Eintreffen Arnheims zuletzt zu Anwandlungen schwerer Melancholie geführt, als Diotima noch allein zwischen ihrem Gatten und der größten Ausstrahlung ihres Lebens, der Par- allelaktion, gestanden war, seither hatte sich aber ihr Zustand in einer sehr natürlichen Weise neu gruppiert. Die Liebeskraft hatte sich kräftig zusammengezogen und war sozusagen in den Körper zurückgekehrt, und aus dem »analogen« Streben war ein sehr selb- stisches und eindeutiges geworden. Jene, zuerst von ihrem Vetter hervorgerufene Vorstellung, daß sie sich im Vorzustand einer Tat befinde und daß etwas, das sie sich noch nicht vorstellen wollte, im Begriffe sei, zwischen ihr und Arnheim zu geschehen, besaß einen so viel höheren Konzentrationsgrad als alle Vorstellungen, die sie bisher beschäftigt hatten, daß sie nicht anders empfand, als wäre sie vom Traum zum Wachen übergegangen. Auch eine Leere, wie sie diesem Übergang im ersten Augenblick eigentümlich ist, war dadurch in Diotima entstanden, und sie vermochte sich aus Beschrei- bungen zu erinnern, daß das ein Zeichen beginnender großer Lei- denschaften sei. Sie glaubte vieles, was Arnheim in letzter Zeit gesprochen hatte, in diesem Sinn verstehen zu können. Seine Be- -340» richte über seine Stellung, über die für sein Leben nötigen Tugen- den und Pflichten waren Vorbereitungen auf etwas Unabwend- bares, und Diotima fühlte, alles betrachtend, was bisher ihr Ideal gewesen war, den geistigen Pessimismus der Tat, so wie ein Mensch, dessen Koffer gepackt sind, einen letzten Blick auf die schon halb entseelten Räume wirft, die ihn jahrelang beherbergt haben. Un- erwarteterweise hatte das zur Folge, daß Diotimas Seele, vorüber- gehend ohne Aufsicht der höheren Kräfte, sich wie ein ausgelasse- ner Schuljunge benahm, der so lange umhertollt, bis ihn die Trau- rigkeit seiner sinnlosen Freiheit befällt, und durch diesen merk- würdigen Umstand trat in ihren Beziehungen zu ihrem Gatten, trotz zunehmender Abwendung für kurze Zeit etwas ein, das, wenn nicht einem Spätliebesfrühling, so doch einer Mischung aus allen Jahreszeiten der Liebe befremdlich ähnlich sah. Der kleine Sektionschef mit dem angenehmen Geruch einer brau- nen, trockenen Haut begriff nicht, was vor sich ging. Es war ihm einigemal aufgefallen, daß seine Frau während der Anwesenheit der Gäste einen eigenartig verträumten, in sich gekehrten, fernen und hochnervösen Eindruck mache, wirklich nervös und irgendwie hoch abwesend zugleich; aber wenn sie allein waren, und er, etwas eingeschüchtert und befremdet, sich ihr näherte, um sie danach zu fragen, fiel sie ihm in unbegründeter Heiterkeit plötzlich um den Hals und drückte ein außerordentlich heißes Lippenpaar auf seine Stirn, das ihn an die Brennschere des Friseurs erinnerte, wenn sie beim Bartkräuseln zu nahe an die Haut kommt. Sie war unange- nehm, solche unerwartete Zärtlichkeit, und er wischte sie heimlich wieder fort, wenn Diotima nicht hinsah. Wollte aber einmal er sie in seine Arme schließen, oder hatte er sie geschlossen, was noch ärgerlicher war, so warf sie ihm erregt vor, daß er sie nie geliebt habe, sondern nur wie ein Tier über sie herfalle. Nun gehörte ja ein gewisses Maß von Empfindlichkeit und Launen ganz zu dem Bilde, das er sich seit seiner Jugend von einer begehrenswerten, das Wesen des Mannes ergänzenden Frau gemacht hatte, und die durch- geistigte Anmut, mit der Diotima eine Tasse Tee reichte, ein neues Buch in die Hand nahm oder über irgendeine Frage urteilte, von der sie nach der Überzeugung ihres Gatten unmöglich etwas ver- stehen konnte, hatte ihn immer durch ihre vollendete Form ent- zückt. Das wirkte auf ihn wie eine unaufdringliche Tafelmusik, etwas, das er ungemein liebte; aber freilich war Tuzzi auch ganz der Meinung, daß die Loslösung der Musik vom Essen (oder vom Kirchgang) und das Bestreben, sie für sich zu betreiben, schon eine bürgerliche Aufgeblasenheit sei, wenngleich er wußte, daß man es nicht laut sagen dürfe, und sich außerdem nie mit solchen Gedanken ausführlich abgab. Was sollte er also tun, wenn Diotima bald ihn -341- umarmte, bald gereizt behauptete, daß an seiner Seite ein seelen- voller Mensch nicht die Freiheit finde, sich zu seinem wahren Wesen zu erheben? Was war auf Forderungen zu erwidern wie diese, mehr an die Tiefen des inneren Schonheitsmeeres zu denken, als sich mit ihrem Körper zu beschäftigen? Er sollte sich plötzlich den Unter- schied zwischen einem Erotiker, in dem der Geist der Liebe, un- belastet von Begehrlichkeit, frei schwebt, und einem Sexualiker klarmachen Es waren das nun freilich Leseklugheiten, über die man lachen könnte; wenn sie aber von einer Frau vorgetragen werden, die sich dabei entkleidet, — mit solchen Belehrungen auf den Lip- pen! — dachte Tuzzi, so werden sie zu Kränkungen. Denn es ent- ging ihm nicht, daß Diotimas Unterkleidung Fortschritte zu einem gewissen mondänen Leichtsinn gemacht hatte. Sie hatte sich ja immer mit Sorgfalt und Überlegung angezogen, da ihre gesell- schaftliche Stellung sowohl erforderte, daß sie elegant sei, wie daß sie den großeu Damen keine Konkurrenz mache; aber bei den zwi- schen ehrbarer Unzerreißbarkeit und dem Spinnengewebe der Lüsternheit liegenden Abstufungen der Wäsche machte sie jetzt Zugeständnisse an die Schönheit, die sie vordem als unwürdig einer intelligenten Frau bezeichnet hätte Bemerkte es jedoch Giovanni (Tuzzi hieß Hans, aber er wurde aus Stilgründen zu seinem Nach- namen passend umgetauft), so errötete sie bis an die Schultern und erzählte etwas von der Frau von Stein, welche sogar einem Goethe keine Zugeständnisse gemacht hätte! Sektionschef Tuzzi sollte also nicht mehr, wenn er die Zeit für gekommen hielt, aus dem Umgang mit wichtigen, dem Privaten unzugänglichen Staatsgeschäften sich loslösen und die Entspannung im Schoß des Hauses finden, son- dern er fühlte sich Diotima ausgeliefert, und was sich sauber ge- trennt hatte, Anspannung des Geistes und erholendes Sich- ergehen des Körpers, sollte geradezu wieder in die anstrengende und ein wenig lächerliche werbende Einheit der Bräutigamszeit gebracht werden, wie bei einem Birkhahn oder einem verse- machenden Jungling. Man sagt kaum zuviel mit der Behauptung daß er zuweilen in seinem Innersten geradezu Ekel davor hatte, und in Zusammen- hang damit tat ihm der öffentliche Erfolg, den seine Gattin um diese Zeit fand, beinahe weh. Diotima hatte die allgemeine Stim- mung für sich, und das war etwas, das Sektionschef Tuzzi unter allen Umstanden so achtete, daß er sich fürchtete, verständnislos zu erscheinen, wenn er mit Machtworten odei zu scharfem Spott ge- gen die ihm unbegreiflichen Launen Diotimas auftrete Es wurde ihm allmählich klar, daß es ein peinigendes und sorgfältig zu vei- bergendes Leiden ist, der Gatte einei bedeutenden Fi au zu sein, ja m gewissem Sinne ähnlich der Entmannung duich einen Un- - 342 - glücksfall. Er verwandte große Sorgfalt darauf, es sich nicht mer- ken zu lassen, kam und ging, in eine Wolke liebenswürdig amt- licher Undurchsichtigkeit gehüllt, lautlos und unauffällig, wenn bei Diotima Besuch war oder Besprechungen stattfanden, gab gelegent- lich höflich zweckdienliche oder auch tröstlich ironische Bemer- kungen dazu, schien sein Dasein in einer abgeschlossenen freund- lichen Nachbarwelt zu verbringen, schien immer im Einverständ- nis mit Diotima zu sein, hatte sogar unter vier Augen immer noch von Zeit zu Zeit einen kleinen Auftrag für sie, begünstigte öffentlich den Verkehr Arnheims in seinem Hause, und in den Stunden, die ihm die wichtigen Sorgen seines Dienstes freiließen, studierte er Arnheims Schriften und haßte Männer, die schreiben, als die Ursache seiner Leiden. Denn das war eine Frage, zu der sich die Hauptfrage, aus wel- chem Grunde Arnheim in seinem Hause verkehre, jetzt zuweilen zuspitzte Warum schrieb Arnheim? Schreiben ist eine besondere Form des Schwätzens, und schwätzende Männer waren Tuzzi un- ausstehlich Er hatte dann das lebhafte Bedürfnis, die Kinnbacken aufeinander zu pressen und durch die geschlossenen Zähne zu spuk- ken wie ein Matrose. Davon gab es natürlich Ausnahmen, die er gelten ließ. Er kannte einige höhere Beamte, die nach ihrer Pen- sionierung ihre Erinnerungen verfaßt hatten, und auch solche, die zuweilen in den Zeitungen schrieben; Tuzzi erklärte es damit, daß ein Beamter nur schreibt, wenn er unzufrieden oder wenn er ein Jude ist, denn Juden waren nach seiner Überzeugung ehrgeizig und unzufrieden Sodann hatten große Männer der Praxis Bücher über ihre Erfahrungen geschrieben; aber an ihrem Leben ">bend und in Amerika oder höchstens in England. Ferner war Tuzzi ja über haupt literarisch gebildet und bevorzugte wie alle Diplomaten Me- moiren, aus denen man geistvolle Aussprüche und Menschenkennt- nis lernen konnte; aber irgendetwas sollte es doch bedeuten, daß solche heute nicht mehr geschrieben werden, und wahrscheinlich handelt es sich da um ein veraltetes Bedürfnis, das einer Zeit neuer Sachlichkeit nicht mehr angemessen ist. Endlich schreibt man auch, weil das ein Beruf ist; das anerkannte Tuzzi voll und ganz, wenn man genügend damit verdient oder unter den nun einmal irgend- wie gegebenen Begriff Dichter fällt; er fühlte sich sogar ziemlich geehrt, die Spitzen dieses Berufs bei sich zu sehen, zu dem er bisher die vom Reptilfonds des Auswärtigen Amtes genährten Schrift- steller gerechnet hatte, aber ohne viel nachzudenken, hätte er auch die Ilias und die Bergpredigt, die er doch beide sehr verehrte, zu diesen Leistungen gezählt, deren Entstehen aus freiwillig oder ab- hangig ausgeübtem Beruf zu erklären ist. Bloß wie ein Mann gleich Arnheim, der das in gar keiner Weise notig hatte, dazu kam, so »343- viel zu schreiben, das war etwas, hinter dem Tuzzi jetzt erst recht etwas vermutete, dem er in keiner Weise nähergekommen war. 79 Soliman liebt Soliman, der kleine Negersklave, oder auch Negerfurst, hatte Rachel, der kleinen Zofe oder auch Freundin Diotimas wahrend dieser Zeit die Überzeugung beigebracht, daß sie die Vorgange im Hause überwachen müßten, um einem dunklen Plane Arnheims vorzubeugen, wenn der Augenblick gekommen sein werde. Genauer gesagt, er hatte sie zwar nicht überzeugt, aber sie paßten beide wie Verschwörer auf und lauschten jedesmal an der Türe, wenn Besuch da war. Soliman erzählte fürchterlich viel von hin und her reisen- den Kurieren und geheimnisvollen Personen, die im Hotel bei sei- nem Herrn ein und aus gingen, und erklärte sich bereit, einen afri- kanischen Fürsteneid darauf abzulegen, daß er die geheime Bedeu- tung entdecken werde; der afrikanische Fürsteneid bestand dann, daß Rachel ihre Hand zwischen den Knöpfen seiner Joppe und sei- nes Hemdes auf seine nackte Brust legen sollte, während er die Be- teuerung aussprechen und mit seiner eigenen Hand Rachel das gleiche tun würde wie sie ihm; aber Rachel wollte nicht. Immerhin, die kleine Rachel, die ihre Herrin an- und auskleiden und für sie telefonieren durfte, durch deren Hände jeden Morgen und Abend Diotimas schwarzes Haar floß, während duich die Ohren goldene Reden flössen, diese kleine Ehrgeizige, die auf der Spitze einer Säuie gelebt hatte, seit es die Parallelaktion gab, und täglich in den Strömen der Anbetung zitterte, die von ihren Augen zu der gott- gleichen Frau aufstiegen, fand seit einiger Zeit ihr Vergnügen daran, diese Frau schlicht und einfach auszuspähen. Durch offene Türen aus Nebenzimmern oder durch den zögernd geschlossenen Spalt einer Türe oder schlechtweg während sie lang- sam irgend etwas in ihrer Nähe verrichtete, belauschte sie Diotima und Arnheim, Tuzzi und Ulrich und nahm Blicke, Seufzer, Hand- küsse, Worte, Lachen, Bewegungen in ihre Obhut, die wie die Schnitzel eines zerrissenen Dokuments waren, das sie nicht zusam- mensetzen konnte. Aber namentlich die kleine Öffnung des Schlüs- sellochs zeigte ein Vermögen, das Rachel merkwürdig genug an die lang vergessene Zeit erinnerte, wo sie ihre Ehre verlor. Weit drang der Blick ins Innere der Zimmer; in flächenhafte Teile aufgelöst, schwammen die Personen darin, und die Stimmen waren nicht mehr in den schmalen Rand der Worte gefaßt, sondern wucherten als sinnlo- -344- ser Klang; Scheu, Verehrung und Bewunderung, durch die Rachel an diese Personen geknüpft war, wurden dann von einer wilden Auf- lösung zerrissen, und das war aufregend, wie wenn ein Geliebter mit seinem ganzen Wesen plötzlich so tief in die Geliebte eindringt, daß es finster wird vor den Augen und hinter dem geschlossenen Vorhang der Haut das Licht aufflammt. Die kleine Rachel kauerte vor dem Schlüsselloch, ihr schwarzes Kleid spannte sich um Knie, Hals und Schultern, Soliman kauerte in seiner Livree neben ihr wie eine heiße Tasse Schokolade in einer dunkelgrünen Schale, und zu- weilen hielt er sich mit einer schnellen, einen Augenblick ruhenden, dann sich bis auf die Fingerspitzen und zärtlich zögernd schließlich auch diese loslösende Bewegung der Hand an Rachels Schulter, Knie oder Rock fest, wenn er das Gleichgewicht verlor. Er mußte kichern, und Rachel legte ihre kleinen weichen Finger auf die pral- len Polster seiner Lippen. Soliman fand übrigens das Konzil nicht interessant, im Gegen- satz zu Rachel, und drückte sich von der Aufgabe, gemeinsam mit ihr die Gäste zu bedienen, wie er nur konnte. Er zog es vor, mitzu- kommen, wenn Arnheim allein Besuch machte. Dann mußte er frei- lich in der Küche sitzen und warten, bis Rachel wieder frei war, und die Köchin, die sich am ersten Tag mit ihm so gut unterhalten hatte, wurde ärgerlich, weil er seither beinahe stumm geworden war. Aber Rachel hatte niemals Zeit, lange in der Küche zu sitzen, und wenn sie wieder ging, erwies die Köchin, die ein Mädchen in den Dreißig war, Soliman mütterliche Freundlichkeiten. Er duldete sie eine kleine Weile mit seinem hochmütigsten Schokoladengesicht, dann pflegte er aufzustehn und so zu tun, wie wenn er etwas ver- gessen hätte oder suchte, richtete nachdenklich seine Augen zur Decke, stellte sich mit dem Rücken zur Tür und fing an rückwärts zu gehn, geradeso, als ob er dadurch bloß besser die Decke sehen wollte; die Köchin erkannte dieses ungeschickte Theater schon, so- bald er nur aufstand und das Weiße der Augen herauskugelte, aber aus Ärger und Eifersucht tat sie so, als ob sie sich nichts dabei dächte, und Soliman gab sich schließlich auch gar nicht mehr viel Mühe mit der Darstellung, die bereits wie eine abgekürzte Formel war, bis zu dem Augenblick, wo er auf der Schwelle der hellen Küche stand und mit möglichst unbefangenem Gesicht noch eine kleine Weile zögerte. Die Köchin sah nun just nicht hin. Soliman glitt wie ein dunkles Bild in dunkles Wasser mit dem Rücken vor- an ins finstere Vorzimmer, lauschte überflüssigerweise noch eine Sekunde und begann dann plötzlich mit phantastischen Sprüngen auf Rachels Spur durch das fremde Haus zu setzen. Sektionschef Tuzzi war niemals daheim, und vor Arnheim und Diotima fürchtete sich Soliman nicht, weil er wußte, daß sie nur -345- füreinander Ohren hatten. Er hatte sogar einigemal den Versuch unternommen, etwas umzuwerfen, und war nicht bemerkt worden. Er war Herr in allen Zimmern wie ein Hirsch im Walde. Das Blut drängte wie ein Geweih mit achtzehn dolchscharfen Sprossen aus seinem Kopf. Die Spitzen dieses Geweihs streiften Wände und Decke. Es war Haussitte, daß in allen Zimmern, wenn sie augen- blicklich nicht benutzt wurden, die Vorhänge zugezogen wurden, damit die Farben der Möbel nicht unter der Sonne litten, und Soli- man ruderte durch das Halbdunkel wie durch Blätterdickicht. Es machte ihm Freude, das mit übertriebenen Bewegungen auszufüh- ren. Sein Trachten war Gewalt. Dieser von der Neugierde der Frauen verwöhnte Knabe hatte in Wahrheit noch nie mit einer Frau verkehrt, sondern nur die Laster der europäischen Knaben kennen gelernt, und seine Begierden waren noch so ungesänftigt von Er- fahrung, so ungezügelt und nach allen Seiten brennend, daß seine Lust nicht wußte, ob sie sich in Rachels Blut, in ihren Küssen oder in einem Erstarren aller Adern in seinem Leib stillen sollte, sobald er die Geliebte erblickte. Wo immer sich Rachel auch verbarg, tauchte er plötzlich auf und lächelte über seine gelungene List. Er schnitt ihr den Weg ab, und weder das Arbeitszimmer des Herrn noch Diotimas Schlafzimmer war ihm heilig; er kam hinter Vorhängen, Schreibtisch, Schränken und Betten hervor, und Rachel brach jedesmal beinahe das Herz ab, über solche Keckheit und beschworene Gefahr, sobald sich ir- gendwo das Halbdunkel zu einem schwarzen Gesicht verdichtete, aus dem zwei weiße Zahnreihen aufleuchteten. Aber sobald Soli- man der wirklichen Rachel gegenüberstand, überwältigte ihn die Sitte. Dieses Mädchen war so viel älter als er und so schön wie ein zartes Herrenhemd, das man bei bestem Willen nicht gleich ver- derben kann, wenn es frisch aus der Wäsche kommt, und überhaupt einfach so wirklich, daß alle Phantasien in ihrer Gegenwart er- blichen. Sie machte ihm Vorwürfe wegen seines ungezogenen Be- nehmens und pries Diotima, Arnheim und die Ehre, an der Par- allelaktion mitwirken zu dürfen; Soliman aber hatte immer kleine Geschenke für sie bei sich und brachte ihr bald eine Blume mit, die er aus dem Strauß rupfte, den sein Herr Diotima übersandte, bald eine Zigarette, die er zu Hause gestohlen hatte, oder eine Handvoll Bonbons, die er im Vorbeigehn aus einer Schale raubte; er preßte dann bloß Rachels Finger und führte ihre Hand, während er ihr das Präsent überreichte, an sein Herz, das in seinem schwarzen Körper wie eine rote Fackel in dunkler Nacht brannte. Und einmal war Soliman sogar in Rachels Kammer gedrungen, wohin sie sich auf strengen Befehl Diotimas, die tags vorher wäh- rend Arnheims Anwesenheit durch eine Unruhe im Vorzimmer - 346 - gestört worden war, mit einer Näharbeit hatte zurückziehen müs- sen. Sie hatte sich, ehe sie ihren Hausarrest antrat, schnell nach ihm umgesehen, ohne ihn zu finden, und als sie traurig in ihre kleine Stube trat, saß er leuchtend auf ihrem Bett und sah ihr entgegen. Rachel zögerte, die Tür zu schließen, aber Soliman sprang auf und tat es. Dann kramte er in seinen Taschen, zog etwas hervor, blies es sauber und näherte sich dem Mädchen wie ein heißes Bügeleisen. »Gib deine Hand!« befahl er. Rachel hielt sie ihm hin. Er hatte ein paar bunte Hemdknöpfe in der seinen und machte den Versuch, sie in die Stulpe von Rachels Äimel einzusetzen. Rachel dachte, es sei Glas. »Edelsteine!« erläuterte er stolz. Das Mädchen, dem bei diesem Wort Böses ahnte, zog rasch den Arm an sich. Sie dachte sich nichts Bestimmtes; der Sohn eines Moh- renfürsten mochte, auch wenn er gestohlen worden war, heimlich im Hemd eingenäht noch einige Edelsteine besitzen, darüber weiß man nichts Sicheres; aber sie fürchtete sich unwillkürlich vor diesen Knöpfen, als ob ihr Soliman Gift hinhielte, und mit einemmal ka- men ihr alle Blumen und Bonbons, die er ihr schon geschenkt hatte, recht sonderbar vor. Sie preßte die Hände an den Leib und sah Soliman entgeistert an. Sie fühlte, daß 3ie ihm ernste Worte sagen müßte; sie war älter als er und diente bei einer gütigen Herrschaft. Aber es fielen ihr in diesem Augenblick nur solche Sprüche ein wie »Ehrlich währt am längsten« oder »Üb immer Treu und Redlich- keit«. Sie wurde bleich; das erschien ihr zu einfach. Sie hatte ihre Lebensweisheit im Elternhaus empfangen, und das war eine strenge Weisheit, so schön und einfach wie alter Hausrat, aber man konnte nicht viel damit anfangen, denn bei solchen Spruchen kam immer nur ein Satz und dann gleich der Schlußpunkt. Und sie schämte sich in diesem Augenblick solcher Kinderweisheit, wie man sich alter, abgetragener Sachen schämt. Daß die alte Truhe, die auf dem Boden armer Leute steht, nach hundert Jahren eine Zierde im Salon der reichen wird, wußte sie nicht, und wie alle ehrlichen einfachen Leute bewunderte sie einen neuen Rohrstuhl. Darum suchte sie in ihrem Gedächtnis nach Ergebnissen ihres neuen Lebens. Aber so vieler wunderbaren Liebes- und Schreckensszenen sie sich auch aus den Büchern erinnerte, die sie von Diotima bekommen hatte, keine war gerade so, wie sie es hier gebraucht hätte, alle die schönen Worte und Gefühle hatten ihre eigenen Situationen und paßten so wenig in die ihre wie ein Schlüssel in ein fremdes Schloß. Das glei- che begab sich mit den herrlichen Aussprüchen und Ermahnungen, die sie von Diotima empfangen hatte. Rachel fühlte einen glühen- den Nebel kreisen und war den Tränen nahe. Endlich sagte sie heftig: »Ich bestehle nicht meine Herrschaft!« -347- »Warum nicht?« Soliman zeigte die Zahne. »Ich tue es nicht!« »Ich habe nicht gestohlen. Das gehört mir!« rief Soliman aus. »Eine gute Herrschaft sorgt für uns Arme« fühlte Rachel. Liebe zu Diotima fühlte sie. Grenzenlose Achtung vor Arnheim. Tiefen Abscheu vor jenen wiegelnden und wühlenden Menschen, die eine gute Polizei subversive Elemente nennt; — aber sie hatte für alles das nicht die Worte. Wie ein riesiger, mit Heu und Frucht über- ladener Wagen, an dem Bremse und Hemmschuh versagen, kam dieser ganze Ballen von Gefühl in ihr ins Rollen. »Das ist mein! Nimm es!« wiederholte Soliman, der wieder nach Rachels Hand griff. Sie riß den Arm zurück, er wollte ihn festhal- ten, geriet allmählich in Wut, und als er nahe daran war, loslassen zu müssen, weil seine Knabenkraft gegen Rachels Widerstand nicht ausreichte, die sich mit dem ganzen Gewicht ihres Korpers aus dem Griff seiner Hände zog, beugte er sich besinnungslos nieder und biß wie ein Tier in den Arm des Mädchens, Rachel schrie auf, mußte den Schrei zurückhalten und stieß Soli- man ins Gesicht. Aber in diesem Augenblick standen ihm schon die Tränen in den Augen, er warf sich auf die Knie, preßte seine Lippen an Rachels Kleid und weinte so leidenschaftlich, daß Rachel fühlte, wie die heiße Nässe bis auf ihre Schenkel drang. Sie blieb ohnmächtig vor dem Knienden stehn, der sich an ihren Rock klammerte und den Kopf an ihrem Leib vergrub. Sie hatte noch nie im Leben ein solches Gefühl kennengelernt und strich Soli- man leise mit den Fingern durch den weichen Draht seiner Haar- büschel. 80 Man lernt Geneial Stumm kennen, der über- raschend auf dem Konzil ei scheint Eine merkwürdige Bereicherung hatte inzwischen* das Konzil er- fahren; Trotz der strengen Sichtung derer, die aufgefordert wur- den, war eines Abends der General aufgetaucht und hatte sich bei Diotima aufs höchste für die Ehre bedankt, die ihm ihre Einladung erweise. Dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angewiesen, erklärte er, aber einer so hervor- ragenden Zusammenkunft auch nur als stummer Zuhörer beiwoh- nen zu dürfen, sei seit seiner Jugend seine persönliche Sehnsucht gewesen Diotima sah sich schweigend über seinen Kopf hinweg um -348- und suchte nach dem Schuldigen; Arnheim sprach wie ein Staats- mann mit einem anderen zu Sr. Erlaucht, Ulrich sah unsäglich ge- langweilt aufs Büfett und schien die dort stehenden Torten zu zäh- len; die Front gewohnten Anblicks war lückenlos geschlossen und gewährte dem Eindringen eines so ungewöhnlichen Argwohns nicht den kleinsten Raum. Andererseits wußte aber Diotima nichts so genau, wie daß sie selbst den General nicht eingeladen habe, außer sie müßte annehmen, daß sie nachtwandle oder Anfälle von Bewußt- seinsabwesenheit habe. Es war ein unheimlicher Augenblick. Da stand der kleine General und hatte unzweifelhaft eine Einladung in der Brusttasche seines vergißmeinnichtfarbenen Waffenrocks, denn ein so freches Wagnis, wie es sein Kommen sonst gewesen wäre, war einem Mann in seiner Stellung nicht zuzumuten; anderer- seits stand dort im Bücherzimmer Diotimas graziöser Schreibtisch, und in seiner Lade lagen versperrt die überschüssigen gedruckten Einladungskarten, zu denen kaum jemand außer Diotima Zugang hatte. Tuzzi? — fuhr ihr durch den Kopf; allein auch das hatte wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Es blieb ein sozusagen spiritisti- sches Rätsel, wie die Einladung und der General zusammengekom- men seien, und da Diotima in persönlichen Angelegenheiten leicht geneigt war, an überirdische Kräfte zu glauben, fühlte sie einen Schauder vom Scheitel bis zu den Sohlen. Es blieb ihr aber nichts übrig, als den General willkommen zu heißen. Übrigens hatte auch er sich ein wenig über die Einladung gewun- dert; ihr nachträgliches Eintreffen hatte ihn überrascht, weil Dio- tima bei seinen zwei Besuchen sich doch leider nicht das geringste von solcher Absicht hatte anmerken lassen, und es war ihm auf- gefallen, daß die, offenbar von Miethand geschriebene, Adresse in der Bezeichnung und Anrede seines Ranges und Amtes Unrichtig- keiten aufwies, die einer Dame in Diotimas gesellschaftlicher Stel- lung nicht entsprochen hätten. Aber der General war ein fröhlicher Mensch und kam nicht so leicht darauf, sich etwas Ungewöhnliches zu denken, geschweige denn etwas Überirdisches. Er nahm an, daß da irgend ein kleines Versehen unterlaufen sei, was ihn nicht hin- dern sollte, seinen Erfolg zu genießen. Denn Generalmajor Stumm von Bordwehr, Leiter der Abteilung für Militär-Bildungs- und Erziehungswesen im Kriegsministerium, freute sich ehrlich über den dienstlichen Auftrag, den er ergattert hatte. Als seinerzeit die gründende große Sitzung der Parallelaktion bevorgestanden war, hatte ihn der Chef der Präsidialsektion zu sich rufen lassen und zu ihm gesagt: »Du Stumm, du bist ja so ein Ge- lehrter, wir schreiben dir einen Einführungsbrief, und du gehst hin. Schau ein bissei zu und erzähl uns, was sie eigentlich vorhaben.« Und er hatte nachträglich beteuern können, was er wollte; daß es -349- ihm nicht möglich gewesen war, in der Parallelaktion Fuß zu fassen, bedeutete einen Rußfleck auf seinem Qualifikationsbogen, den er durch seine Besuche bei Diotima vergeblich auszuwischen suchte. Darum war er spornstreichs zur Präsidialsektion gelaufen, als dann doch die Einladung kam, und hatte, zierlich und etwas nachlässig frech unter seinem Bauch ein Bein vor das andere stellend, aber atemlos gemeldet, daß das von ihm eingeleitete und erwartete Er- eignis nun natürlich doch eingetreten sei. »Na also,« sagte Feldmarschalleutnant Frost von Aufbruch dar- auf »ich hab es auch nicht anders erwartet.« Er bot Stumm Platz und eine Zigarette an, stellte das Lichtsignal vor der Tür auf »Ein- trittverbot, wichtige Konferenz« und gab Stumm nun seinen Auf- trag bekannt, der im wesentlichen auf Beobachten und Berichten hinauslief. »Verstehst du, wir wollen ja nichts besonderes, aber du gehst so oft, als du kannst, hin und zeigst, daß wir da sind; daß wir nicht in den Komitees drin sind, ist ja vielleicht soweit in Ordnung, aber daß wir nicht dabei sein sollten, wenn für den Geburtstag un- seres Allerhöchsten Kriegsherrn sozusagen über ein geistiges Ge- schenk beraten wird, dafür gibt es keinen Grund. Darum hab ich auch gerade dich Sr. Exzellenz dem Herrn Minister vorgeschlagen, da kann niemand etwas dagegen sagen; also Servus, mach deine Sach' gut!«' Feldmarschalleutnant Frost von Aufbruch nickte freund- lich, und General Stumm von Bordwehr vergaß, daß der Soldat keine Gemütsbewegungen zeigen solle, schlug die Sporen, man konnte fast sagen, von Herzen kommend, zusammen und sagte: »Danke dir gehorsamst, Exzellenz!« Wenn es Zivilisten gibt, die kriegerisch sind, weshalb sollte es dann nicht Offiziere geben, die die Künste des Friedens lieben? Kakanien hatte von ihnen eine Menge. Sie malten, sammelten Kä- fer, legten Briefmarkenalbums an oder studierten Weltgeschichte. Die vielen Zwerggarnisonen und der Umstand, daß es dem Offizier verboten war, mit geistigen Leistungen ohne Approbation der Obe- ren an die Öffentlichkeit zu treten, gaben ihren Bestrebungen ge- wöhnlich etwas besonders Persönliches, und auch General Stumm hatte in früheren Jahren solchen Liebhabereien gefrönt. Er hatte ursprunglich bei der Kavallerie gedient, aber er war ein untaug- licher Reiter; seine kleinen Hände und Beine eigneten sich nicht zur Umklammerung und Zügelung eines so törichten Tiers, wie es das Pferd ist, und es fehlte ihm auch der befehlshaberische Sinn in sol- chem Maße, daß seine Vorgesetzten zu jener Zeit von ihm zu be- haupten pflegten, er sei, wenn man eine Eskadron im Kasernenhof mit den Köpfen, statt, wie es gewöhnlich geschieht, mit den Schwän- zen zur Stallwand aufstelle, schon nicht mehr imstande, sie aus dem Kasernentor zu führen. Zur Rache hatte der kleine Stumm sich - 350 - damals einen Vollbart wachsen lassen, schwarzbraun und rund geschnitten; er war der einzige Offizier in des Kaisers Kavallerie, der einen Vollbart trug, aber ausdrücklich verboten war es nicht. Und er hatte angefangen, wissenschaftlich Taschenmesser zu sam- meln; zu einer Waffensammlung reichte sein Einkommen nicht, aber Messer, nach ihrer Bauart, mit und ohne Korkzieher und Nagelfeile geordnet, und nach den Stählen, der Herkunft, dem Material der Schale und so weiter, besaß er bald eine Menge, und hohe Kasten mit vielen flachen Schubfächern und beschriebenen Zetteln standen in seinem Zimmer, was ihn in den Ruf der Ge- lehrsamkeit brachte. Auch Gedichte konnte er machen, hatte schon als Militarzögling in Religion und Deutschaufsatz immer »vor- zuglich« gehabt, und eines Tages ließ ihn der Oberst in die Re- gimentskanzlei holen. »Ein brauchbarer Kavallerieoffizier werden Sie nie werden« sprach er zu ihm. »Wenn ich einen Säugling aufs Pferd setze und vor die Front stelle, kann er sich auch nicht anders benehmen wie Sie. Aber das Regiment hat schon lange niemand auf der Kriegsschule gehabt, und du könntest dich melden, Stumm!« So kam Stumm zu zwei herrlichen Jahren an der Generalstabs- schule in der Hauptstadt. Er ließ dort auch geistig die Schärfe ver- missen, die man zum Reiten braucht, aber er machte alle Militär- konzerte mit, besuchte die Museen und sammelte Theaterzettel. Er faßte den Plan, zum Zivil überzutreten, aber er wußte nicht, wie er ihn durchführen solle. Das Schlußergebnis war, daß er für den Generalstabsdienst weder für geeignet noch für ausgesprochen un- genügend befunden wurde; er galt für ungeschickt und unambitiös, aber für einen Philosophen, wurde auf weitere zwei Jahre probe- weise dem Generalstab beim Kommando einer Infanterietruppen- division zugeteilt und gehörte nach Ablauf dieser Zeit als Ritt- meister zur großen Zahl derer, die als Notreserve des Generalstabs niemals wieder von der Truppe fortkommen, außer es treten ganz ungewöhnliche Verhältnisse ein. Rittmeister Stumm diente jetzt bei einem anderen Regiment, galt nun auch für militärisch gelehrt, aber die Sache mit dem Säugling und den praktischen Fähigkeiten hat- ten auch seine neuen Vorgesetzten bald heraus. Er machte die Lauf- bahn eines Märtyrers durch, bis zum Rang eines Oberstleutnants, aber schon als Major träumte er nur noch von einem langen Urlaub auf Wartegebühr, um den Zeitpunkt zu erreichen, wo er als Oberst ad honores, das heißt mit dem Titel und der Uniform, wenn auch ohne den Ruhesold eines Obersten, in Pension geschickt würde. Er wollte nichts mehr von Beförderung wissen, die bei der Truppe nach der Rangliste vorrückte wie eine unsagbar langsame Uhr nichts mehr von den Vormittagen, wo man noch bei aufsteigender -351- Sonne, von oben bis unten beschimpft, vom Exerzierplatz zurück- kehrt und mit bestaubten Reitstiefeln das Kasino betritt, um die Leere des Tags, der noch so lang sein wird, um leere Weinflaschen zu vermehren; nichts mehr von ärarischer Geselligkeit, Regiments- geschichten und jenen Regimentsdianen, die ihr Leben an der Seite ihrer Männer verbringen, deren Rangstufenleiter auf einer silbern genauen, unerbittlich zart gerade noch hörbaren Tonleiter wieder- holend; und nichts wollte er von jenen Nächten wissen, wo Staub, Wein, Langeweile, Weite durchrittener Äcker und Zwang des ewi- gen Gesprächsgegenstandes Pferd verheiratete wie unverheiratete Herrn in jene fensterverhängte Geselligkeit trieben, wo man Wei- ber auf den Kopf stellte, um ihnen Champagner in die Röcke zu gießen, und vom Universal Juden der verdammten galizischen Gar- nisonnester, der wie ein kleines, schiefes Warenhaus war, wo man von der Liebe bis zur Sattelseife alles auf Kredit und Zins bekam, Mädchen anschleppen ließ, die vor Respekt, Angst und Neugierde zitterten. Seinen einzigen Trost in diesen Zeiten bildete das um- sichtige Weiter.sammeln von Messern und Korkziehern, und auch von diesen brachte viele der Jude dem meschuggenen Oberstleut- nant ins Haus und putzte sie am Ärmel ab, bevor er sie auf den Tisch legte, mit einem ehrfürchtigen Gesicht, wie wenn es prähisto- rische Gräberfunde wären. Die unerwartete Wendung war eingetreten, als sich ein Jahr- gangskamerad aus der Kriegsschule an Stumm erinnert hatte und seine Kommandierung ins Kriegsministerium vorschlug, wo man in der Abteilung für Bildungswesen einen Gehilfen für den Leiter suchte, der hervorragenden Zivilverstand haben sollte. Zwei Jahre später hatte man Stumm, der inzwischen Oberst geworden war, schon die Abteilung anvertraut. Er war ein anderer, seit er statt des heiligen Tiers der Kavallerie einen Sessel unter sich hatte. Er wurde General und konnte sich ziemlich sicher fühlen, auch noch Feldmarschalleutnant zu werden. Er hatte sich seinen Bart natürlich schon lange vorher abnehmen lassen, aber nun wuchs ihm mit zu- nehmendem Alter eine Stirn, und seine Neigung zu Rundlichkeit gab seiner Erscheinung eine gewisse universale Bildung. Er wurde auch glücklich, und das Glück vervielfacht erst recht die Leistungs- fähigkeit. Er hatte in große Verhältnisse gehört, und es zeigte sich in allem. Im Kleid einer ungewöhnlich angezogenen Frau, in den kühnen Geschmacklosigkeiten des damals neuen Wiener Baustiles, im hingebreiteten Bunten eines großen Gemüsemarkts, in der grau- braun asphaltigen Luft der Straßen, diesem weichen Luftasphalt, voll von Miasmen, Gerüchen und Wohlgerüchen, im Lärm, der für Sekunden zerbarst, um ein einzelnes Geräusch herauszulassen, in der unzähligen Vielfältigkeit der Zivilisten und selbst in den klei- - 352 - nen weißen Tischen der Restaurants, die so uneihört individuell sind, wenn sie auch unleugbar alle gleich aussehen, in alledem war ein Glück, das wie Sporenklingeln im Kopf tönte. Es war ein Glück, wie es zivile Menschen nur bei einer Bahnfahrt ins Freie finden; man weiß nicht wie, aber man wird den Tag grün, glücklich und von iigend etwas überwölbt verbringen. In diesem Gefühl lag die eigene Bedeutsamkeit eingeschlossen, die des Kriegsministeriums, der Bil- dung, die Bedeutsamkeit jedes anderen Menschen, und alles so stark, daß Stumm, seit er hier war, noch kein einzigesmal daran gedacht hatte, wieder die Museen oder ein Theater zu besuchen. Es war das eben etwas, das selten zu Bewußtsein kommt, aber alles durchdrang, von den Generalsborten bis zu den Stimmen der Turm- glocken, und ebensoviel wie eine Musik bedeutet, ohne die der Tanz des Lebens augenblicklich stillstehen würde. Der Teufel, er war seinen Weg gegangen! So dachte Stumm von sich selbst, wie er nun zu allem Überfluß auch noch hier, in solcher berühmten Versammlung des Geistes, inmitten der Zimmer stand. — Nun stand er da' Er war die einzige Uniform in dieser durch- geistigten Umgebung! Und es kam noch etwas hinzu, um ihn stau- nen zu machen. Man stelle sich die himmelblaue Weltkugel vor, ein wenig ins Vergißmeinnichtblau des Stummschen Waffenrocks auf- gehellt und ganz und gar bestehend aus Glück, aus Bedeutsamkeit, aus dem geheimnisvollen Gehirnphosphor innerer Erleuchtung, in- mitten dieser Kugel aber das Herz des Generals und auf diesem Herzen, wie Maria auf dem Kopf der Schlange stehend, eine gött- liche Frau, deren Lächeln mit allen Dingen verwoben und die ge- heime Schwere aller Dinge ist* so erreicht man ungefähr den Ein- druck, den Diotima seit der ersten Stunde, wo ihr Bild seine sich langsam bewegenden Augen gefüllt hatte, auf Stumm von Bord- wehr machte. General Stumm liebte eigentlich Frauen ebensowenig wie Pferde. Seine rundlichen, etwas kurzen Beine hatten sich im Sattel heimatlos gefühlt, und wenn er dann auch noch in der dienst- freien Zeit von Pferden sprechen mußte, hatte ihm nachts geträumt, er sei bis auf die Knochen auf geritten und könne nicht absteigen; ebenso hatte seine Bequemlichkeit aber auch seit je Liebesausschrei- tungen mißbilligt, und da ihn schon der Dienst genügend ermüdete, brauchte er seine Kräfte nicht durch nächtliche Ventile ausströmen zu lassen. Gewiß war er seinerzeit auch nicht ein Spaßverderber gewesen, aber wenn er seine Abende nicht mit seinen Messern, son- dern mit seinen Kameraden verbrachte, so griff er gewöhnlich zu einem weisen Auskunftsmittel, denn sein Sinn für körperliche Har- monie hatte ihn bald gelehrt, daß man sich durch das exzessive Stadium rasch in das schläfrige durchtrinken könne, und das war ihm viel bequemer gewesen als die Gefahren und Enttäuschungen 23 Musil, Mann _ 353 - der Liebe. Als er später heiratete und über kurz zwei Kinder samt ihrer ehrgeizigen Mutter zu erhalten hatte, kam ihm erst ganz zu Bewußtsein, wie vernünftig seine Lebensgewohnheiten früher ge- wesen waren, ehe er der Verfuhrung zu ehelichen erlegen war, wozu ihn zweifellos nur das etwas Unmilitärische verleitet hatte, das der Vorstellung eines verheirateten Kriegers anhängt. Seit die- ser Zeit entwickelte sich lebhaft ein außereheliches Weibesideal in ihm, das er offenbar unbewußt auch vorher schon in sich getragen hatte, und es bestand in einer milden Schwärmerei für Frauen, die ihn einschüchterten und dadurch jeder Bemühung enthoben. Wenn er die Frauenbildnisse ansah, die er in seiner Junggesellenzeit aus illustrierten Zeitschriften geschnitten hatte — aber es war das immer nur ein Nebenzweig seiner Sammeltätigkeit gewesen — , so hatten sie alle diesen Zug; aber er hatte es früher nicht gewußt, und zu überwältigender Schwärmerei wurde es erst durch seine Begeg- nung mit Diotima. Ganz abgesehen von dem Eindruck ihrer Schön- heit, hatte er zu allem Anfang schon, als er hörte, daß sie eine zweite Diotima sei, im Konversationslexikon nachschlagen müssen, was überhaupt eine Diotima bedeute; dann verstand er die Bezeich- nung nicht ganz und bemerkte nur so viel, daß sie mit dem großen Kreis der zivilen Bildung zusammenhänge, von der er leider trotz seiner Stellung noch immer viel zu wenig wisse, und die geistige Übermacht der Welt verschmolz mit der körperlichen Anmut dieser Frau. Heute, wo die Beziehungen der Geschlechter so vereinfacht sind, muß man wohl betonen, daß dies das Höchste ist, was ein Mann erleben kann. General Stumms Arme fühlten sich in Gedan- ken viel zu kurz, um die hohe Fülle Diotimas zu umspannen, wäh- rend sein Geist im gleichen Augenblick der Welt und ihrer Kultur gegenüber das gleiche erlebte, so daß in alle Geschehnisse eine sanfte Liebe kam und in des Generals rundlichen Leib etwas wie die schwebende Rundheit der Weltkugel. Es war diese Schwärmerei, die Stumm von Bordwehr, kurze Zeit nachdem ihn Diotima aus ihrer Nähe entlassen hatte, wieder dahin zurückführte. Er stellte sich nahe der bewunderten Frau auf, zumal er niemanden anderen kannte, und lauschte auf ihre Gespräche. Er hätte sich am liebsten Notizen gemacht, denn er hätte es nicht für möglich gehalten, mit solchem geistigen Reichtum lächelnd wie mit einer Perlenkette zu spielen, wäre er nicht Ohrenzeuge der Ge- spräche gewesen, mit denen Diotima die verschiedensten Berühmt- heiten begrüßte. Erst ihr Blick, nachdem sie sich einigemal ungnädig zur Seite gedreht hatte, führte ihm das für einen General Unpas- sende seines Lauschens zu Gemüt und scheuchte ihn fort. Er strich ein paarmal einsam durch die übervolle Wohnung, trank ein Glas Wein und wollte sich gerade an einer Zimmerwand eine dekora- -354- tive Stellung suchen, da entdeckte er Ulrich, den er schon bei der ersten Sitzung gesehen hatte, und der Augenblick erleuchtete sein Gedächtnis, denn Ulrich war ein einfallsreicher, unruhiger Leut- nant in einer der beiden Schwadronen gewesen, die General Stumm seinerzeit als Oberstleutnant sanft geleitet hatte. »Ein ähnlicher Mensch wie ich,« dachte Stumm »und er hat es schon in jungen Jah- ren zu dieser hohen Stellung gebracht'« Er steuerte auf ihn los, und nachdem sie ihr Wiedererkennen bekräftigt und eine Weile über die eingetretenen Veränderungen geplaudert hatten, wies Stumm auf die Versammlung ringsum und meinte: »Eine hervorragende Gelegenheit für mich, die wichtigsten Zivilfragen der Welt kennen zu lernen! »Du wirst staunen, Herr General« antwortete ihm Ulrich. Der General, der einen Bundesgenossen suchte, schüttelte ihm warm die Hand: »Du warst Leutnant im neunten Ulanenregi- ment,« sagte er bedeutungsvoll »und es wird einmal eine große Ehre für uns gewesen sein, wenn es die anderen jetzt auch noch nicht so begreifen wie ich!« 81 Graf Leinsdoi f äußert sich liber Realpolitik. Ulrich gründet Vereine Während am Konzil sich noch nicht der kleinste Ansatz zu einem Ergebnis bemerken ließ, machte die Parallelaktion im Graf Leinsdorf sehen Palais heftige Fortschritte. Dort liefen die Fäden der Wirklichkeit zusammen, und Ulrich kam zweimal wöchentlich hin. Nichts setzte ihn so in Erstaunen wie die Zahl der Vereine, die es gibt. Es meldeten sich Land- und Wasser-, Mäßigkeits- und Trinkvereine, kurz Vereine und Gesangvereine. Diese Vereine för- derten die Bestrebungen ihrer Mitglieder und störten die der an- deren. Es machte den Eindruck, daß jeder Mensch mindestens einem Vereine angehöre. »Erlaucht,« sagte Ulrich erstaunt »das kann man nicht mehr Vereinsmeierei nennen, wie man es arglos ge- wohnt ist; das ist der ungeheuerliche Zustand, daß in der Art von Ordnungsstaat, die wir erfunden haben, jeder Mensch noch einer Räuberbande angehört . . .!« Graf Leinsdorf hatte aber eine Vorliebe für Vereine. »Bedenken Sie,« erwiderte er »daß die Ideologenpolitik noch nie zu etwas Gu- tem geführt hat; wir müssen Realpolitik machen. Ich stehe nicht an, die allzu geistigen Bestrebungen in der Umgebung Ihrer Kusine sogar für eine gewisse Gefahr zu halten!« -355- »Wollen mir Erlaucht Richtlinien geben?« bat der andere. Graf Leinsdorf sah ihn an. Er überlegte, ob das, was er eröffnen wollte, für den unerfahrenen jüngeren Mann nicht doch zu kühn sei. Aber dann entschloß er sich. »Ja, sehen Sie,« begann er vor- sichtig »ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, was Sie vielleicht noch nicht wissen, weil Sie jung sind; Realpolitik heißt: Gerade das nicht tun, was man gern möchte; dagegen kann man die Menschen ge- winnen, indem man ihnen kleine Wünsche erfüllt!« Sein Zuhörer glotzte Graf Leinsdorf fassungslos an, der ge- schmeichelt lächelte. »Also nicht wahr,« erläuterte er »ich habe doch soeben gesagt, die Realpolitik darf sich nicht von der Macht der Idee, sondern sie muß sich vom praktischen Bedürfnis leiten lassen. Die schönen Ideen würde natürlich jeder gerne verwirklichen, das versteht sich doch ganz von selbst. Also soll man gerade das nicht tun, was man gern möchte! Das hat schon Kant gesagt.« »Wahrhaftig!« rief der also Belehrte überrascht. »Aber ein Ziel muß man doch haben?!« »Ein Ziel? Bismarck wollte den preußischen König groß sehen: das war sein Ziel. Er hat nicht von Anfang an gewußt, daß er dazu Österreich und Frankreich bekriegen und das Deutsche Reich grün- den werde.« »Erlaucht wollen also sagen, daß wir Österreich groß und mäch- tig wünschen sollen und weiter nichts?« »Wir haben noch vier Jahre Zeit. In diesen vier Jahren kann sich alles Mögliche ergeben. Man kann ein Volk auf die Beine stellen, aber gehen muß es dann selbst. Verstehen Sie mich? Auf die Beine stellen, das müssen wir tun! Die Beine eines Volkes sind aber seine festen Einrichtungen, seine Parteien, seine Vereine und so weiter und nicht das, was geredet wird!« »Erlaucht! Das ist ja, wenn es auch nicht ganz so klingt, ein wahrhaft demokratischer Gedanke!« »Na ja, aristokratisch ist er vielleicht auch, obwohl meine Stan- desgenossen mich nicht verstehn. Der alte Hennenstein und der Majoratsherr Türckheim haben mir geantwortet, daß bei dem Gan- zen doch bloß eine Schweinerei herauskommen wird. Bauen wir also vorsichtig auf. Wir müssen klein aufbauen, seien Sie nett zu den Leuten, die zu uns kommen.« Ulrich wies darum in der nächsten Zeit niemand ab. So kam ein Mann zu ihm und erzählte ihm lange vom Markensammeln. Er- stens sei es international verbindend; zweitens befriedige es das Streben nach Besitz und Geltung, von dem sich nicht leugnen lasse, daß es die Grundlage der Gesellschaft bilde; drittens verlange es nicht nur Kenntnisse, sondern auch geradezu künstlerische Ent- -356- Schlüsse. Ulrich sah sich den Mann an, sein Äußeres war verhärmt und ärmlich; er aber schien die Frage dieses Blickes aufgefangen zu haben, denn er entgegnete, Marken seien auch ein wertvoller Handelsartikel, man dürfe das nicht unterschätzen, Millionenum- sätze würden darin gemacht; zu den großen Markenbörsen reisten Händler und Sammler aus aller Herren Ländern. Man könnte reich werden. Aber er sei für seine Person Idealist; er bilde eine beson- dere Sammlung, für die derzeit niemand Interesse habe, zur Voll- endung aus. Er wolle bloß, daß im Jubiläumsjahr eine große Mar- kenausstellung eröffnet werde, in der er sein Sondergebiet den Menschen schon zu Bewußtsein bringen würde! Em anderer kam nach ihm und erzählte folgendes: Wenn er durch die Straßen gehe — noch viel aufregender sei es aber, wenn man auf der Elektrischen fährt — , zähle er schon seit Jahren an den großen lateinischen Buchstaben der Geschäftsschilder die Balken (A bestehe zum Beispiel aus dreien, M aus vieren) und dividiere ihre Zahl durch die Anzahl der Buchstaben. Bisher sei das durch- schnittliche Ergebnis gleichbleibend zweieinhalb gewesen; ersicht- lich sei dies aber keineswegs unverbrüchlich und könne sich mit je- der neuen Straße ändern: so wird man von großer Sorge bei Ab- weichungen, von großer Freude beim Zutreffen erfüllt, was den läuternden Wirkungen ähnle, die man der Tragödie zuschreibt. Wenn man dagegen die Buchstaben selbst zähle, so sei, wovon sich der Herr nur überzeugen möge, die Teilbarkeit durch drei ein gro- ßer Glücksfall, weshalb die meisten Aufschriften geradezu ein Ge- fühl der Nichtbefriedigung hinterlassen, das man deutlich bemerkt, bis auf jene, die aus Massenbuchstaben, das heißt aus solchen mit vier Balken, bestehn, zum Beispiel WEM, die unter allen Umstän- den ganz besonders glücklich machen. Was folge daraus, fragte der Besucher. Nichts anderes, als daß das Ministerium für Volksge- sundheit eine Verordnung herausgeben müsse, die bei Firmenbe- zeichnungen die Wahl von vierbalkigen Buchstabenfolgen begün- stige und die Verwendung einbalkiger wie 0, S, I, G möglichst unterdrücke, denn sie machten durch ihre Unergiebigkeit traurig! Ulrich sah sich den Menschen an und wahrte Raum zwischen sich und ihm; aber jener machte eigentlich nicht den Eindruck eines Geisteskranken, sondern war ein den »besseren Ständen« angehö- riger Mann von einigen dreißig Jahren, der intelligent und freund- lich dreinsah. Er erklärte ruhig weiter, daß Kopfrechnen eine un- entbehrliche Fähigkeit in allen Berufen sei, daß es der modernen Pädagogik entspreche, den Unterricht in die Form eines Spiels zu kleiden, daß die Statistik schon oft tiefe Zusammenhänge viel frü- her sichtbar gemacht habe, als man ihre Erklärung besaß, daß der tiefe Schaden, den die Lesebildung anrichte, bekannt sei und daß -357- schließlich die große Erregung, die seine Feststellungen bisher noch jedem bereitet hätten, der sich entschloß, sie zu wiederholen, für sich selbst spräche. Wenn das Ministerium für Volksgesundheit veranlaßt würde, sich seiner Entdeckung zu bemächtigen, so wür- den andere Staaten bald nachfolgen, und das Jubiläumsjahr könnte sich zu einem Segen der Menschheit gestalten. Ulrich gab allen solchen Leuten den Rat. »Gründen Sie einen Verein; Sie haben dazu fast noch vier Jahre Zeit, und wenn es Ihnen gelingt, wird sich Se. Erlaucht gewiß mit seinem ganzen Ein- fluß für Sie einsetzen 1 « Die meisten hatten aber schon einen Verein, und da war die Sache anders. Verhältnismäßig einfach, wenn ein Fußballverein anregte, seinem Rechtsaußen den Professortitel zu verleihen, um die Wichtigkeit der neuzeitlichen Körperkultur zu dokumentieren; denn da konnte man immerhin Entgegenkommen in Aussicht stel- len. Schwierig jedoch in Fällen wie dem folgenden, wo der Besuch eines etwa fünfzigjährigen Mannes zu empfangen war, der sich als Kanzleioberoffizial vorstellte; seine Stirn hatte das Leuchten von Märtyrerstirnen, und er erklärte, der Gründer und Obmann des Stenographievereins »Öhl« zu sein, der sich erlaube, das Interesse des Sekretärs der großen patriotischen Aktion auf das Kurzschrift- system »öhl« zu lenken Das Kurzschriftsystem öhl, führte er aus, sei eine österreichische Erfindung, woraus sich wohl zur Genüge erkläre, daß es keine Verbreitung und Förderung finde. Er frage den Herrn, ob er Steno- graph sei; was dieser verneinte, und also wurden ihm die geistigen Vorzüge einer Kurzschrift auseinandergesetzt. Zeitersparnis, Er- sparnis geistiger Energie; was er wohl glaube, welche Menge gei- stiger Arbeitsleistung täglich an diese Häkelchen, Weitschweifig- keiten, Ungenauigkeiten, verwirrenden Wiederholungen ähnlicher Teilbilder, Vermengung von wirklich ausdrückenden, signifikan- ten Schreibbestandteilen mit lediglich floskelhaften und persönlich willkürlichen verschwendet werde? — Ulrich lernte zu seinem Er- staunen einen Mann kennen, der die scheinbar harmlose Alltags- schrift mit einem unerbittlichen Haß verfolgte. Vom Standpunkt der Ersparnis geistiger Arbeit war die Kurzschrift eine Lebens- frage der sich im Zeichen der Hast vorwärtsentwickelnden Mensch- heit. Aber auch vom Standpunkt der Moral zeigte sich die Frage Kurz oder Lang von entscheidender Bedeutung Die Langohr- Schrift, wie man sie nach des Oberoffizials bitterem Ausdruck we- gen ihrer sinnlosen Schlingen fuglich nennen dürfte, verleite zur Ungenauigkeit, Willkür, Verschwendungssucht und nachlässigem Zeitgebrauch, wogegen die Kurzschrift zur Präzision, Willensan- spannung und männlicher Haltung erziehe. Die Kurzschrift lehre -358- das Notwendige tun und dem Unnötigen, nicht zum Zweck Dienen- den, sich entziehen. Ob der Herr nicht glaube, daß hierin ein Stück praktischer Moral stecke, das zumal für den Österreicher von größ- ter Bedeutung wäre? Aber auch vom ästhetischen Standpunkt dürfe man die Frage behandeln. Ob Weitschweifigkeit nicht mit Recht als häßlich gelte? Ob der Ausdruck höchster Zweckmäßigkeit nicht schon von den großen Klassikern für einen wesentlichen Bestand- teil des Schönen erklärt worden sei? Aber auch vom Standpunkt der Volksgesundheit — fuhr der Oberoffizial fort — sei es von her- vorragender Wichtigkeit, die Zeit gebückten Über-dem-Schreibtisch- Sitzens abzukürzen. Nachdem dergestalt die Frage der Kurzschrift zu des Zuhörers Erstaunen auch noch von anderen Wissenschaften her erörtert war, ging sein Besuch erst dazu über, ihm die unend- liche Überlegenheit des Systems öhl über alle andern Systeme dar- zulegen. Er zeigte ihm, daß nach sämtlichen dargelegten Gesichts- punkten jedes andere Kurzschriftsystem nur ein Verrat am Gedan- ken der Kurzschrift sei. Und dann entwickelte er die Geschichte seiner Leiden. Es waren da die älteren, mächtigeren Systeme, die bereits Zeit gefunden hatten, sich mit allen möglichen materiellen Interessen zu verbinden. Die Handelsschulen lehrten das System Vogelbauch und setzten jeder Änderung ihren Widerstand entge- gen, dem sich — dem Gesetz der Trägheit folgend — die Kauf- mannschaft natürlich anschließe. Die Zeitungen, die an den An- zeigen der Handelsschulen, wie man sehen könne, eine Menge Geld verdienen, verschließen sich allen Reformvorschlägen. Und das Unterrichtsministerium? Dies sei geradezu Hohn! — sagte Herr öhL Vor fünf Jahren, als die obligatorische Einführung des Steno- graphieunterrichts an den Mittelschulen beschlossen worden sei, wurde vom Unterrichtsministerium eine Enquete zur Beratung des zu erwählenden Systems eingesetzt, und natürlich befanden sich in dieser Enquete die Vertreter der Handelsschulen, des Kaufmanns- standes, der Parlamentsstenographen, die mit den Zeitungsbericht- erstattern verwachsen sind, und sonst niemand! Es sei klar, daß das System Vogelbauch zur Annahme gelangen solle. Der Stenogra- phieverein öhl habe vor diesem Verbrechen an kostbarem Volks- gut gewarnt und dagegen protestiert! Aber seine Vertreter würden im Ministerium nicht einmal mehr empfangen! Solche Fälle meldete Ulrich Sr. Erlaucht. »Öhl?« fragte Graf Leinsdorf. »Und Beamter ist er?« Se. Erlaucht rieb sich lange die Nase, aber kam zu keinem Entschluß. »Vielleicht sollten Sie mit sei- nem vorgesetzten Hof rat sprechen, ob etwas an ihm ist . . .?« meinte er nach einer Weile, aber er war in schöpferischer Laune und wider- rief es wieder. »Nein, wissen Sie was, wir wollen lieber einen Akt machen; sollen sie sich äußern!« Und er fugte etwas Vertrauliches -359- hinzu, das dem andern Einblick gewahren sollte. »Man kann ja bei allen diesen Sachen nicht wissen,« sagte er »ob sie Unsinn sind. Aber sehen Sie, Doktor, etwas Wichtiges entsteht regelmäßig ge- rade daraus, daß man es wichtig nimmt! Ich seh das wieder an dem Dr. Arnheim, dem die Zeitungen nachlaufen. Die Zeitungen könn- ten ja auch etwas anderes tun. Aber wenn sie das tun, dann wird der Dr. Arnheim eben wichtig. Sie sagen, der öhl hat einen Ver- ein? Das beweist natürlich auch nichts. Aber andrerseits, wie gesagt, man soll modern denken; und wenn viele Leute für etwas sind, kann man schon ziemlich sicher sein, daß etwas daraus wird!« 82 Ciarisse verlangt ein Ulrich- Jahr Ihr Freund machte ihr gewiß aus keinem anderen Grund sei- nen Besuch, als weil er Ciarisse noch den Kopf wegen des Brie- fes zurechtsetzen mußte, den sie an Graf Leinsdorf geschrieben hatte; als sie zuletzt bei ihm war, hatte er es völlig vergessen. Den- noch fiel ihm während der Fahrt ein, daß Walter bestimmt eifer- süchtig auf ihn sei und dieser Besuch seine Gefühle erregen würde, sobald er davon erführe; aber Walter konnte einfach nichts dage- gen unternehmen, und diese Lage, in der sich die Mehrzahl der Männer befindet, war ja eigentlich recht komisch sie haben erst nach Büroschluß Zeit, wenn sie eifersüchtig sind, über ihre Frauen zu wachen. Die Stunde, zu der sich Ulrich entschlossen hatte hinauszufahren, machte es nicht wahrscheinlich, daß er Walter zu Hause antreffen würde. Es war sehr früh am Nachmittag. Er hatte sich telefonisch angemeldet Die Fenster schienen keine Vorhänge zu haben, so stark drang durch die Scheiben das Weiß der Schneeflächen herein. In diesem gnadenlosen Licht, das alle Gegenstände umzingelte, stand Ciarisse und sah von der Zimmermitte aus lachend ihrem Freund entgegen. Wo sich die flache Wölbung ihres schmalen Kör- pers g^gcn das Fenster bog, leuchtete sie in starken Farben, wäh- rend die Schattenseite blau-brauner Nebel war, aus dem Stirn, Nase und Kinn wie ein Schneegrat hervorsprangen, dessen Schärfe Wind und Sonne verwischen. Sie erinnerte weniger an einen Menschen als an die Begegnung von Eis und Licht in der gespenstischen Ein- samkeit des Hochgebirgswinters. Ulrich begriff ein wenig von dem Zauber, den sie in manchen Augenblicken auf Walter ausüben mußte, und seine geteilten Empfindungen für den Jugendfreund wichen für kurze Zeit dem Einblick in das Schaubild, das zwei Men- -360- sehen einander darboten, deren Leben er vielleicht doch kaum kannte. »Ich weiß nicht, ob du Walter von dem Brief erzählt hast, den du an Graf Leinsdorf geschrieben hast,« begann er »aber ich bin ge- kommen, um dich allein zu sprechen und zu warnen, damit du solche Unternehmungen künftig unterläßt.« Ciarisse schob zwei Stühle zu- sammen und nötigte ihn zu sitzen. »Sprich nicht mit Walter da- von,« bat sie »aber sag mir, was du dagegen hast. Du meinst doch das Nietzsche- Jahr? Was hat dein Graf dazu gesagt?« »Was denkst du wohl, daß er dazu gesagt haben könnte?! Die Verbindung, in die du das mit Moosbrugger gebracht hast, war doch geradezu irrsinnig. Und ohnedies hätte er den Brief wohl auch fortgeworfen.« »So?« Ciarisse war sehr enttäuscht. Dann erklärte sie: »Zum Glück hast doch auch du etwas dreinzureden!« »Ich habe dir schon gesagt, daß du einfach verrückt bist!« Ciarisse lächelte und nahm das als Schmeichelei auf. Sie legte dem Freund die Hand auf den Arm und fragte: »Das österreichische Jahr hältst du doch für einen Unsinn?« »Natürlich.« »Ein Nietzsche- Jahr wäre aber etwas Gutes; warum soll man nun etwas bloß deshalb nicht wollen dürfen, weil es auch nach unseren Begriffen gut wäre?!« »Wie denkst du dir denn eigentlich ein Nietzsche- Jahr?« fragte er. »Das ist deine Sache 1 « »Du bist lustig'« »Gar nicht. Sag mir, warum es dir lustig vorkommt, das zu ver- wirklichen, was dir geistig ernst ist!?« »Das will ich gern tun« erwiderte Ulrich und machte sich von ihrer Hand los. »Es muß ja nicht gerade Nietzsche sein, es könnte sich um Christus oder Buddha auch handeln.« »Oder um dich. Denk dir doch ein Ulrich- Jahr aus!« Sie sagte das genau so ruhig, wie sie ihn aufgefordert hatte, er möge Moosbrug- ger befreien. Aber diesmal war er nicht zerstreut, sondern blickte ihr ins Gesicht, während er ihre Worte hörte. In dem Gesicht war nur das gewohnliche Lächeln Clarissens, das unfreiwillig immer wie eine kleine, lustige, von der Anstrengung emporgepreßte Gri- masse hervorkam. »Also gut,« dachte er »sie meint es nicht schlimm.« Aber Ciarisse näherte sich ihm wieder. »Warum machst du kein Dein- Jahr? Du hättest doch jetzt vielleicht die Macht dazu. Du darfst, das habe ich dir schon gesagt, Walter nichts davon erzäh- len und auch nichts von dem Moosbrugger-Brief. Überhaupt nicht, -361- daß ich mit dir darüber spreche! Aber glaube mir, dieser Mörder ist musikalisch; er kann bloß nicht komponieren. Hast du noch nie beobachtet, daß jeder Mensch im Mittelpunkt einer Himmelskugel steht? Wenn er von seinem Platz weggeht, geht sie mit. So muß man Musik machen; ohne Gewissen, einfach wie die Himmelskugel, unter der man steht! . . .« »Und etwas Ähnliches sollte ich mir als mein Jahr ausdenken, glaubst du?« »Nein« erwiderte Ciarisse auf alle Fälle. Ihre schmalen Lippen wollten etwas sagen, schwiegen aber, und die Flamme schoß stumm bei den Augen heraus. Man konnte nicht sagen, was in solchen Au- genblicken von ihr ausging. Es brannte, wie wenn man etwas Glü- hendem zu nahe gekommen wäre. Nun lächelte sie, aber dieses Lä- cheln kräuselte sich auf ihren Lippen wie zurückgebliebene Asche, nachdem der Vorgang in ihren Augen erloschen war. »Gerade so etwas könnte ich mir aber äußerstenfalls noch aus- denken« wiederholte Ulrich. »Nur fürchte ich, du meinst, ich soll einen Staatsstreich machen?!« Ciarisse überlegte. »Also sagen wir, ein Buddha- Jahr« meinte sie, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Ich weiß nicht, was Buddha verlangt hat; nur so ungefähr; aber nehmen wir's einfach an, und wenn man es nun für bedeutend hält, dann sollte man es eben ausführen' Denn entweder verdient etwas, daß man daran glaubt, oder nicht.« »Na schön, gib acht- Du hast Nietzsche- Jahr gesagt. Aber was hat denn Nietzsche eigentlich verlangt« Ciarisse dachte nach. »Nun, ich meine natürlich nicht ein Nietz- schedenkmal oder eine Nietzschestraße« sagte sie verlegen. »Aber man müßte die Menschen dahin bringen, zu leben, wie « »Wie er es verlangt hat?!« unterbrach er sie. »Aber was hat er verlangt?« Ciarisse versuchte zu antworten, wartete, schließlich erwiderte sie: »Na ja, das weißt du doch selbst . . .« »Gar nichts weiß ich« neckte er. »Aber eines will ich dir sagen: Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz- Josef- Jubiläums- Suppenanstalt oder die des Schutzvorbandes der Hauskatzenbesit- zer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig ver- wirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.« Er hatte jetzt endlich auf dem kleinen Sofa Platz gefunden, hin- ter dem Tischchen; dieser Platz war widerstandsfähiger als der auf dem Stühlchen In der leeren Zimmermitte, gleichsam am anderen Ufer einer die Tischplatte verlängernden Luftspiegelung, stand noch immer Ciarisse und sprach. Ihr schmaler Körper redete und dachte -362- leise mit; sie empfand eigentlich alles, was sie sagen wollte, zuerst mit dem ganzen Körper und hatte beständig das Bedürfnis, mit ihm etwas zu tun. Ihr Freund hatte 'hren Körper immer für hart und knabenhaft gehalten, aber jetzt, in dieser weichen Bewegtheit auf geschlossenen Beinen kam ihm Cla risse mit einemmal wie eine javanische Tänzerin vor. Und plötzlch dachte er, es würde ihn nicht wundern, wenn sie in Trance hei. Oder war er selbst in Trance? Er hielt eine lange Rede. »Du möchtest nach deiner Idee leben« hatte er begonnen »und möchtest wissen, wie man das kann. Aber eine Idee, das ist das Paradoxeste von der Welt. Das Fleisch verbindet sich mit Ideen wie ein Fetisch. Es wird zauberhaft, wenn eine Idee dabei ist. Eine gemeine Ohrfeige kann durch die Idee von Ehre, Strafe und dergleichen tödlich werden. Und doch können sich Ideen niemals in einem Zustand, wo sie am stärksten sind, erhal- ten; sie gleichen jenen Stoffen, die sich sofort an der Luft in eine dauerhafte andere, aber verdorbene Form umsetzen. Das hast du oft mitgemacht. Denn eine Idee: das bist du; in einem bestimmten Zustand. Irgendetwas haucht dich an; wie wenn in das Rauschen der Saiten plötzlich ein Ton kommt; es steht etwas vor dir wie eine Luftspiegelung; aus dem Gewirr deiner Seele hat sich ein un- endlicher Zug geformt, und alle Schönheiten der Welt scheinen an seinem Wege zu stehn. Das bewirkt oft eine einzige Idee. Aber nach einer Weile wird sie allen anderen Ideen, die du schon ge- habt hast, ähnlich, sie ordnet sich ihnen unter, sie wird ein Teil deiner Anschauungen und deines Charakters, deiner Grund- sätze oder deiner Stimmungen, sie hat die Flügel verloren und eine geheimnisvolle Festigkeit angenommen.« Ciarisse erwiderte. »Walter ist eifersüchtig auf dich. Nicht etwa meinetwegen. Sondern weil du so aussiehst, als ob du das tun könn- test, was er gern mochte. Verstehst du? Es ist etwas an dir, das ihn sich wegnimmt Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.« Sie sah ihn prüfend an. Diese beiden Reden flochten sich ineinander. Walter war immer das zärtliche Lieblingskind des Lebens ge- wesen, er saß ihm auf dem Schoß. Mochte ihm geschehen, was im- mer, er verwandelte es in zärtliche Lebendigkeit. Walter war immer der gewesen, der mehr erlebte. »Aber Mehrerleben ist eines der frühesten und feinsten Zeichen, an denen man den Durchschnitts- menschen erkennt« dachte Ulrich; »Zusammenhänge nehmen dem Erlebnis die persönliche Giftigkeit oder Süße!« So ungefähr war es. — Und diese Versicherung selbst, daß es so wäre, war ein Zu- sammenhang, und man bekam keinen Kuß und keinen Abschied dafür. Und trotzdem war Walter auf ihn eifersuchtig? Es freute ihn. - 36'* - »Ich habe zu ihm gesagt, daß er dich toten soll« berichtete Cia- risse. »Was?« »Umbringen, habe ich gesagt. Wenn an dir nicht so viel daran sein sollte, wie du dir einbildest, oder wenn er besser wäre als du und nur dadurch zur Ruhe kommen könnte, wäre das doch ganz richtig gedacht? Und außerdem kannst du dich ja wehren.« »Das gibst du nicht schlecht . . .!« antwortete Ulrich unsicher. »Nun, wir haben ja nur so gesprochen. Was meinst du übrigens!? Walter sagt, man darf so etwas nicht einmal denken.« »Doch; denken schon« erwiderte er zögernd und sah sich Ciarisse genau an. Sie hatte einen eigentümlichen Reiz. Kann man sagen, als stünde sie neben sich? Sie war abwesend und anwesend, beides dicht nebeneinander. »Ach was, denken!« unterbrach sie ihn. Sie sprach gegen die Wand, vor der er saß, als wäre ihr Auge auf einen Punkt dazwi- schen gerichtet. »Du bist ebenso passiv wie Walter!« Auch dieses Wort lag zwischen zwei Entfernungen; es nahm Distanz wie eine Beleidigung und versöhnte doch durch eine vertrauliche Nähe, die es voraussetzte. »Ich sage dagegen: Wenn man etwas denken kann, dann soll man es auch tun können« wiederholte sie trocken. Dann verließ sie ihren Platz, ging zum Fenster und verschränkte die Hände am Rücken. Ulrich stand rasch auf, ging ihr nach und legte den Arm um ihre Schulter. »Kleine Ciarisse, du bist soeben recht sonderbar gewesen. Aber ich muß ein gutes Wort für mich einlegen; ich gehe dich doch eigentlich nichts an, möchte ich meinen« sagte er. Ciarisse starrte zum Fenster hinaus. Aber jetzt scharf; sie faßte irgend etwas draußen ins Auge, um sich daran einen Halt zu sichern. Sie hatte den Eindruck, ihre Gedanken wären außerhalb gewesen und nun wieder zurückgekehrt. Diese Empfindung, wobei sie wie ein Raum war, in dem man noch fühlt, daß soeben die Türe ge- schlossen worden, war ihr nicht neu. Sie hatte zuweilen Tage und Wochen, da alles, was sie umgab, lichter und leichter war als sonst, so als müßte es nicht viel Mühe machen, hineinzuschlüpfen und außer sich in der Welt spazieren zu gehn; ebenso wie danach wie- der schwere Zeiten kamen, in denen sie sich wie eingekerkert fühlte, gewöhnlich dauerten diese zweiten ja nur kurz, aber sie fürchtete sie wie eine Strafe, weil dann alles eng und traurig wurde. Und im gegenwärtigen Augenblick, der sich durch seine klare, nüchterne Ruhe auszeichnete, war ihr unsicher zumute; sie wußte nicht mehr recht, was sie eben noch gewollt hatte, und solche bleierne Klarheit und scheinbar stille Beherrschtheit leitete oft die Zeit der Strafe ein. Ciarisse spannte sich an und hatte das Empfinden, wenn sie das -364- Gespräch überzeugend fortführen könnte, sich damit selbst in Sicherheit zu bringen. »Sag nicht Kleine zu mir,« schmollte sie »sonst bringe ich dich am Ende selbst um!« Das kam ihr jetzt wie reiner Spaß heraus, es war also gelungen. Sie drehte vorsichtig den Kopf, um ihn anzugucken. »Ich habe mich natürlich nur so ausgedrückt,« fuhr sie fort »aber du mußt verstehn, daß ich etwas meine. Wo waren wir stehengeblieben? Du hast gesagt, man kann nicht nach einer Idee leben. Ihr habt nicht die rechte Energie, weder du noch Walter!« »Passivist hast du mich schrecklicherweise genannt. Aber es gibt zwei Arten davon. Einer} passiven Passivismus, das ist der von Walter; und einen aktiven!« »Was ist das, ein aktiver Passivismus?« fragte Clarisse neu- gierig. »Das Warten eines Gefangenen auf die Gelegenheit des Aus- bruchs.« »Bah!« sagte Clarisse. »Ausreden!« »Nun ja,« räumte er ein »vielleicht.« Clarisse hielt noch immer die Hände hinter dem Rücken ver- schränkt und hatte die Beine auseinandergestellt, wie in Reitstie- feln. »Weißt du, was Nietzsche sagt? Sicher wissen wollen, ist so wie sicher gehn wollen, eine Feigheit. Man muß irgendwo anfangen, seine Sache zu machen, nicht nur davon zu reden! Ich habe gerade von dir erwartet, daß du einmal etwas Besonderes unternimmst!« Sie hatte plötzlich einen Knopf an seiner Weste zu fassen bekom- men und drehte daran, das Gesicht zu ihm emporgerichtet. Unwill- kürlich legte er seine Hand über die ihre, um seinen Knopf zu schüt- zen. »Ich habe mir etwas lange überlegt« fuhr sie zögernd fort: »die ganz große Gemeinheit entsteht heutzutage nicht dadurch, daß man sie tut, sondern dadurch, daß man sie gewähren läßt. Sie wächst ins Leere.« Sie sah ihn nach dieser Leistung an. Dann fuhr sie heftig fort: »Gewährenlassen ist zehnmal gefährlicher als Tun! Verstehst du mich?« Sie kämpfte mit sich, ob sie das noch genauer beschreiben solle. Aber sie fügte hinzu: »Nicht wahr, du verstehst mich ausge- zeichnet, mein Lieber? Du sagst zwar immer, daß man alles gehen lassen soll, wie es geht. Aber ich weiß schon, wie du es meinst! Ich habe mir schon manchmal gedacht, du bist der Teufel!« Dieser Satz war Clarisse nun wieder wie eine Eidechse aus dem Mund ge- schlüpft. Sie erschrak. Sie hatte ja ursprünglich nur an Walters Bit- ten wegen eines Kinds gedacht. Ihr Freund bemerkte ein Zucken in ihren Augen, die ihn begehrlich anblickten. Aber ihr emporgerich- tetes Gesicht war von etwas überströmt. Nicht von etwas Schönem, sondern eher von etwas Häßlich-Rührendem. Wie es ein gewaltiger -365- Schweißausbruch wäre, hinter dem ein Gesicht verschwimmt Aber es war unkörperlich, rein imaginär. Er fühlte sich wider Willen angesteckt und in eine leichte Gedankenabwesenheit versetzt. Er konnte diesem abersinnigen Reden keinen rechten Widerstand mehr entgegenstellen und packte Ciarisse schließlich bei der Hand, setzte sie aufs Sofa und sich neben sie. »Jetzt werde ich dir also erzählen, warum ich nichts tue« be- gann er und schwieg. Ciarisse, die im Augenblick der Berührung wieder zu ihrem ge- wöhnlichen Wesen zurückgefunden hatte, munterte ihn auf. »Man kann nichts tun, weil — aber das wirst du doch nicht ver- stehn — « holte er aus, zog eine Zigarette hervor und widmete sich dem Anzünden. »He?« half Ciarisse. »Was willst du sagen?« Aber er schwieg weiter. Da schob sie den Arm hinter seinen Rücken und rüttelte ihn wie ein Knabe, der seine Kraft zeigt. Es war das Nette an ihr, daß man gar nichts zu sagen brauchte, bloß die Gebärde des Außer- ordentlichen genügte schon, um sie in Einbildung zu versetzen. »Du bist ein großer Verbrecher!« rief sie dazu und versuchte vergeblich, ihm weh zu tun. In diesem Augenblick wurden sie jedoch durch die Rückkehr Walters unangenehm unterbrochen. 83 Seinesgleichen geschieht oder warum et findet man nicht Geschichte? Was hätte Ulrich eigentlich Ciarisse sagen können? Er hatte es verschwiegen, weil sie in ihm eine eigentümliche Lust erregt hatte, das Wort Gott auszusprechen Er hatte etwa sagen wollen- Gott meint die Welt keineswegs wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muß, und natürlich immer unzureichend; wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir selbst müssen die Losung herausbekommen, die er uns aufgibt. Er fragte sich, ob Ciarisse ein- verstanden gewesen wäre, das wie ein Indianer- oder Räuberspiel aufzufassen? Sicher. Wenn einer voranginge, sie würde sich an seine Seite drücken wie eine Wölfin und scharf aufpassen. Aber er hatte noch etwas auf der Zunge gehabt; etwas von mathe- matischen Aufgaben, die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der all- gemeinen Lösung nähert. Er hätte hinzufügen können, daß er die - 366 - Aufgabe des menschlichen Lebens für eine solche ansah. Was man ein Zeitalter nennt — ohne zu wissen, ob man Jahrhunderte, Jahr- tausende oder die Spanne zwischen Schule und Enkelkind darunter verstehen soll — , dieser breite, ungeregelte Fluß von Zuständen würde dann ungefähr ebensoviel bedeuten wie ein planloses Nach- einander von ungenügenden und einzeln genommen falschen Lö- sungsversuchen, aus denen, erst wenn die Menschheit sie zu- sammenzufassen verstünde, die richtige und totale Lösung her- vorgehen könnte. In der Straßenbahn erinnerte er sich auf dem Heimweg daran; einige Leute fuhren mit ihm der Stadt zu, und er schämte sich ein wenig vor diesen Menschen solcher Gedanken. Man konnte es ihnen ansehen, daß sie von bestimmten Beschäftigungen zurückkamen oder sich zu bestimmten Vergnügungen begaben, ja man sah es schon ihrer Kleidung an, was sie hinter sich oder vorhatten Er betrachtete seine Nachbarin; sie war sicher Frau, Mutter, gegen vierzig Jahre alt, sehr wahrscheinlich die Gattin eines akademischen Beamten und hatte ein kleines Opernglas im Schoß liegen. Er kam sich mit seinen Gedanken neben ihr wie ein spielender Knabe vor; sogar wie ein nicht ganz anständig spielender Knabe. Denn ein Gedanke, der nicht einen praktischen Zweck hat, ist wohl eine nicht sehr anständige heimliche Beschäftigung; nament- lich aber solche Gedanken, die ungeheure Stelzschritte rr xhen und die Erfahrung nur mit winzigen Sohlen berühren, sind unordent- licher Entstehung verdächtig. Früher hat man ja wohl von Gedan- kenflug gesprochen, und zur Zeit Schillers wäre ein Mann mit sol- chen hochgemuten Fragen im Busen sehr angesehen gewesen; heute dagegen hat man das Gefühl, daß mit so einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, wenn das nicht gerade zufällig sein Beruf ist und seine Einkommensquelle. Man hat die Sache offenbar anders verteilt. Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Ge- flügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Lite- ratur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vorzuwerfen, daß er sich nicht persönlich um sie kümmern kann. Ulrich, in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde entschlossen, nichts gegen eine solche Teilung der Tätigkeiten einzuwenden. Aber er gestattete sich immerhin noch selbst zu denken, obgleich er kein Berufsphilosoph war, und augenblicklich malte er sich aus, daß das auf den Weg zum Bienenstaat führen werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem Geist gewid- metes Leben führen, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch -367- eine solche Menschheit ist denkbar; die Gesamtleistung mochte viel- leicht sogar gesteigert werden. Jetzt hat jeder Mensch sozusagen noch die ganze Menschheit in sich, aber das ist offenkundig schon zuviel geworden und bewährt sich gar nicht mehr; so daß das Humane fast schon der reinste Schwindel ist. Es käme für den Er- folg vielleicht darauf an, bei der Zerteilung neue Vorkehrungen zu treffen, damit in einer besonderen jener Arbeitergruppen auch eine geistige Synthese entsteht. Denn ohne Geist — ? Ulrich wollte sagen, daß es ihn nicht freuen würde. Aber das war natürlich ein Vorurteil. Man weiß ja nicht, worauf es ankommt. Er rückte sich zurecht und betrachtete sein Gesicht in der seinem Sitz gegenüber befindlichen Glasscheibe, um sich abzulenken. Aber da schwebte nun sein Kopf in dem flussigen Glas nach einer Weile wunderbar eindringlich zwischen Innen und Außen und verlangte nach irgend- einer Ergänzung. War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg war, er wußte es nicht genau. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. Der Höhenflugrekord war wieder gehoben worden; eine stolze Sache. Wenn er sich nicht irrte, stand er jetzt auf 3700 Meter, und der Mann hieß Jouhoux Ein Negerboxer hatte den weißen Champion geschlagen und die Welt- meisterschaft erobert; Johnson hieß er. Der Präsident von Frank- reich fuhr nach Rußland; man sprach von Gefährdung des Welt- friedens. Ein neuentdeckter Tenor verdiente in Südamerika Sum- men, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heimgesucht; die armen Japa- ner. Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen, jeder Tag hatte seine Erregungen gehabt, und trotzdem ließ sich nur noch schwach oder gar nicht erinnern, was damals eigentlich los gewesen war. Man konnte es abkurzen. Das neue Heilmittel gegen die Lues machte — ; in der Erforschung des Fflanzcnstoffwechsels wurden — ; die Er- oberung des Südpols schien — ; die Steinachexperimente erregten — : man konnte auf diese Weise gut die Hälfte der Bestimmtheit weg- lassen, es machte nicht viel aus Welche sonderbare Angelegenheit ist doch die Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht statt- findet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen Gerade das ist es -368- aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben, wie es die Zeitungen tun, oder es handelt sich um Berufs- und Vermögensangelegenheiten, denn in .wieviel Jahren man pensionsberechtigt sein wird oder wann man eine be- stimmte Summe besitzen wird oder ausgegeben hat, das ist natür- lich wichtig, und in solchem Zusammenhang können auch Kriege zu Denkwürdigkeiten werden. Sie sieht unsicher und verfilzt aus, un- sere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarer- weise doch ein Weg über sie hin, eben jener »Weg der Geschichte«, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist. Dieses Der Ge- schichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte. Die leuchtende, schaukelnde Schachtel, in der er fuhr, kam ihm wie eine Maschine vor, in der einige hundert Kilogramm Men- schen hin und her geschüttelt wurden, um Zukunft aus ihnen zu machen. Vor hundert Jahren sind sie mit ähnlichen Gesich- tern in einer Postkutsche gesessen, und in hundert Jahren wird weiß Gott was mit ihnen los sein, aber sie werden als neue Men- schen in neuen Zukunftsapparaten genau so dasitzen, — fühlte er und empörte sich gegen dieses wehrlose Hinnehmen von Veränderungen und Zuständen, die hilflose Zeitgenossenschaft, das planlos ergebene, eigentlich menschenunwürdige Mitmachen der Jahrhunderte, so als ob er sich plötzlich gegen den Hut auf- lehnte, den er, sonderbar genug geformt, auf dem Kopf sitzen hatte. Unwillkürlich erhob er sich und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. In dem größeren Menschenbehältnis der Stadt, worin er sich nun befand, beruhigte sich sein Unbehagen wieder zur Hei- terkeit. Es war ein verrückter Einfall der kleinen Ciarisse, daß sie ein Geistesjahr machen wollte,. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt. Warum war das so unsinnig? Man konnte übri- gens ebensogut fragen, warum Diotimas vaterländische Aktion un- sinnig sei? Antwort Nummer eins- Weil Weltgeschichte zweifellos ebenso entsteht wie alle anderen Geschichten. Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab. Das ist der Grund, warum alle Politiker Geschichte studieren, statt Biologie oder dergleichen. Soviel von den Autoren. Nummer zwei: Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Auto- ren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen. Wahrscheinlich gehört gar nicht so viel dazu, wie man glaubt, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmen- schen zu machen. Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht 24 Musil, Mann _ 369 _ der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Ver- nunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigen- schaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entspiechen dabei sehr kleine innere. Abschweifung Nummer eins- Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweier- reihen, und man läßt »Befehl weitersagen« üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; be- fiehlt man nun vorne: »Der Wachtmeister soll vorreiten«, so kommt hinten heraus: »Acht Reiter sollen sofort erschossen wer- den« oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Welt- geschichte. Antwort Nummer drei: Würde man darum eine Generation heutiger Europäer im Alter der frühesten Kindheit in das ägyp- tische Jahr 5000 v. Chr. versetzen und dort lassen, so würde die Weltgeschichte noch einmal beim Jahr 5000 beginnen, sich zunächst eine Weile lang wiederholen und dann aus Gründen, die kein Mensch errät, allmählich abzuweichen beginnen. Abschweifung zwei: Das Gesetz der Weltgeschichte — fiel ihm dabei ein — ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des »Fort- wurstelns« im alten Kakanien. Kakanien war ein ungeheuer kluger Staat. Abschweifung drei oder Antwort Nummer vier? Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal ab- gestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Strei- chenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschen- gruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten ab- gelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder ge- kannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Welt- geschichte ein gewisses Sich- Verlaufen. Die Gegenwart ist immer wie das letzte Haus einer Stadt, das irgendwie nicht mehr ganz zu den Stadthäusern gehört. Jede Generation fragt erstaunt, wer bin ich und was waren meine Vorgänger? Sie sollte lieber fragen, wo bin ich, und voraussetzen, daß ihre Vorgänger nicht anderswie, sondern bloß anderswo waren; damit wäre schon einiges gewon- nen — dachte er. Er war es selbst, der seinen Antworten und Abschweifungen bis- her diese Nummern gegeben hatte, und er hatte dazu bald in ein vorübergleitendes Gesicht gesehn, bald in eine Geschäftsauslage, um die Gedanken nicht ganz von sich fortlaufen zu lassen; aber nun hatte er sich trotzdem dabei ein wenig vergangen und mußte einen Augenblick anhalten, um zu begreifen, wo er war, und den nächsten -370- Weg nach Hause zu finden. Ehe er ihn einschlug, bemühte er sich, seine Frage sich noch einmal genau zurechtzulegen. Die kleine ver- rückte Ciarisse hatte also ganz recht, man sollte Geschichte machen, man müßte sie erfinden, wenn er es auch vor ihr bestritten hatte; aber warum tut man es nicht? In diesem Augenblick fiel ihm als Antwort nichts als Direktor Fischel von der Lloyd-Bank ein, sein Freund Leo Fischel, mit dem er in früheren Jahren hie und da im Sommer vor einem Kaffeehaus gesessen war; denn der würde ihm in diesem Augenblick, wenn er dieses Gespräch mit ihm statt als Selbstgespräch gefuhrt hätte, in seiner Weise geantwortet haben: »Ihre Sorgen in meinem Kopf!« Ulrich war ihm dankbar für diese erfrischende Antwort, die er gegeben haben würde. »Lieber Fischel,« erwiderte er sofort in Gedanken »das ist nicht so ein- fach. Ich sage Geschichte, aber ich meine, wenn Sie sich erin- nern, unser Leben. Und ich habe doch schon von Anfang an zugegeben, daß es etwas sehr Anstößiges ist, wenn ich frage: Warum macht der Mensch nicht Geschichte, das heißt, warum greift er aktiv Geschichte nur wie ein Tier an, wenn er verwundet ist, wenn es hinter ihm brennt, warum macht er, mit einem Wort, nur im Notfall Geschichte? Also warum klingt das anstößig? Was haben wir dagegen, obgleich es doch ebensoviel heißt wie daß der Mensch das Menschenleben nicht einfach gehen lassen sollte, wie es geht?« »Man weiß doch,« würde Direktor Fischel entgegnen »wie das geschieht. Man muß froh sein, wenn die Politiker und die Geist- lichen und die großen Herren, die nichts zu tun haben, und alle an- deren Menschen, die mit einer fixen Idee herumrennen, das tägliche Leben nicht stören Und im übrigen hat man die Bildung. Würden sich bloß heute nicht so viele Menschen ungebildet betragen!« Und Direktor Fischel hat natürlich recht. Man muß froh sein, wenn man sich in Lombarden und Effekten genügend auskennt und andere Leute nicht zuviel in Geschichte machen, weil sie sich in ihr aus- zukennen behaupten. Man könnte, Gott bewahre, nicht ohne Ideen leben, aber das Richtige ist ein gewisses Gleichgewicht zwischen ihnen, eine balance of power, ein bewaffneter Ideenfriede, wo von keiner Seite viel geschehen kann. Er hatte als Beruhigungsmittel die Bildung. Das ist ein Grundgefühl der Zivilisation. Und doch ist nun einmal auch das Gegengefühl vorhanden und wird immer lebendiger, daß sich die Zeit der heroisch-politischen Geschichte, die vom Zufall und seinen Rittern gemacht wird, zum Teil überlebt hat und durch eine planmäßige Lösung, an der alle beteiligt sind, die es angeht, ersetzt werden muß. Aber da endete das Ulrich- Jahr damit, daß Ulrich inzwischen zu Hause angelangt war. -371- 84 Behauptung, daß auch das gewöhnliche Leben von utopischer Natur ist Er fand dort den üblichen Haufen von Schriftstücken vor, den ihm Graf Leinsdorf schickte. Ein Industrieller hatte einen Preis in ungewöhnlicher Höhe für die beste Leistung in der militärischen Erziehung der zivilen Jugend in Aussicht gestellt. Das Erzbischöf- liche Ordinariat nahm Stellung zu dem Vorschlag einer großen Waisenhausstiftung und erklärte, gegen jede konfessionelle Ver- mischung Bedenken erheben zu müssen. Das Komitee für Kultus und Unterricht berichtete über den Erfolg der definitiv vorläufig hinausgegebenen Anregung eines großen Friedenskaiser-und- Völker-Österreichs-Denkmals in der Nähe der Residenz; nach Füh- lungnahme mit dem k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht und Befragung der führenden Künstlervereinigungen, Ingenieur- und Architektenvereine hatten sich derartige Meinungsverschieden- heiten ergeben, daß sich das Komitee in die Lage versetzt sah, un- beschadet später sich herausstellen sollender Erfordernisse, falls der Zentralausschuß zustimme, einen Wettbewerb um die beste Idee eines Wettbewerbs in Hinsicht auf das eventuell zu errichtende Denkmal auszuschreiben. Die Hofkanzlei schickte dem Zentralaus- schuß nach genommener Einsicht die vor drei Wochen zur Einsicht- nahme vorgelegten Vorschläge zurück und erklärte, eine Aller- höchste Willensmeinung derzeit dazu nicht übermitteln zu können, aber es als erwünscht zu erachten, auch in diesen Punkten jdie öffent- liche Meinung zunächst noch sich selbst bilden zu lassen. Das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht erklärte auf dortortige Zu- schrift Nummer soundsoviel, eine besondere Förderung des Steno- graphievereins öhl nicht befürworten zu können; der Volksgesund- heitsverein »Balkenbuchstabe« zeigte seine Bildung an und ersuchte um eine Geldzuwendung. Und in solcher Art ging es weiter. Ulrich schob das Paket wirk- licher Welt zurück und überlegte eine Weile. Plötzlich stand er auf, ließ sich Hut und Rock geben und sagte an, daß er in einer oder anderthalb Stunden wieder zu Hause sein werde. Er rief einen Wagen an und kehrte zu Ciarisse zurück. Es war finster geworden, das Haus warf nur aus einem Fenster ein wenig Licht auf die Straße, die Fußstapfen bildeten hartgefro- rene Löcher, in denen man stolperte, das Tor war geschlossen, und der Besuch kam unerwartet, so daß Rufen, Klopfen und In die Hände Klatschen durch die längste Zeit unverstanden blieb. Als Ulrich endlich im Zimmer stand, schien es nicht das Zimmer zu sein, - S72 - das er doch soeben erst verlassen hatte, sondern eine fremde, er- staunte Welt, mit einem für das einfache Beisammensein zweier Menschen gedeckten Tisch, Stühlen, auf deren jedem etwas lag, das sich dort häuslich gemacht hatte, und Wänden, die sich mit einem gewissen Widerstand dem Eindringling öffneten. Ciarisse hatte einen einfachen wollenen Schlafrock an und lachte. Walter, der den Spätling eingeholt hatte, blinzelte und versorgte den großen Hausschlüssel in einer Tischlade. Ulrich sagte ohne Umschweife: »Ich bin umgekehrt, weil ich Ciarisse noch eine Ant- wort schulde.« Dann begann er in der Mitte, wo seine Unterhaltung durch Walter unterbrochen worden war. Nach einer Weile waren Zimmer, Haus, Zeitgefühl verschwunden, und das Gespräch hing irgendwo über dem blauen Raum im Netz der Sterne. Ulrich ent- wickelte das Programm, Ideengeschichte statt Weltgeschichte zu leben. Der Unterschied, schickte er voraus, läge zunächst weniger in dem, was geschähe, als in der Bedeutung, die man ihm gäbe, in der Absicht, die man mit ihm verbände, in dem System, das das ein- zelne Geschehnis umfinge. Das jetzt geltende System sei das der Wirklichkeit und gleiche einem schlechten Theaterstück. Man sage nicht umsonst Welttheater, denn es erstehen immer die gleichen Rollen, Verwicklungen und Fabeln im Leben. Man liebt, weil und wie es die Liebe gibt; man ist stolz wie die Indianer, die Spanier, die Jungfrauen oder der Löwe; man mordet sogar in neunzig von hundert Fällen nur deshalb, weil es für tragisch und großartig ge- halten wird. Vollends die erfolgreichen politischen Gestalter der Wirklichkeit haben, von den ganz großen Ausnahmen abgesehen, viel mit den Schreibern von Kassenstücken gemein; die lebhaften Vorgänge, die sie erzeugen, langweilen durch ihren Mangel an Geist und Neuheit, bringen uns aber gerade dadurch in jenen wider- standslosen schläfrigen Zustand, worin wir uns jede Veränderung gefallen lassen. So betrachtet, entsteht Geschichte aus der ideellen Routine und aus dem ideell Gleichgültigen, und die Wirklichkeit entsteht vornehmlich daraus, daß nichts für die Ideen geschieht. Man könne es kurz so zusammenfassen, behauptete er, daß es uns zu wenig darauf ankäme, was geschehe, und zuviel darauf, wem, wo und wann es geschehe, so daß uns nicht der Geist der Gescheh- nisse, sondern ihre Fabel, nicht die Erschließung neuen Lebens- gehalts, sondern die Verteilung des schon vorhandenen wichtig seien, genau so, wie es wirklich dem Unterschied von guten und bloß erfolgreichen Stücken entspreche. Daraus ergebe sich aber als das wahre Gegenteil, daß man zuerst die Haltung der persönlichen Habgier gegenüber den Erlebnissen aufgeben müßte. Man müßte die also weniger wie persönlich und wirklich und mehr wie allge- mein und gedacht oder persönlich so frei ansehn, als ob sie gemalt -373- oder gesungen wären. Man dürfte ihnen nicht die Wendung zu sich geben, sondern müßte sie nach oben und außen wenden. Und wenn das persönlich gälte, so müßte außerdem kollektiv etwas geschehen, was Ulrich nicht recht beschreiben konnte und eine Art Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen Saftes nannte, ohne das sich der Einzelne natürlich nurohnmächtigund seinem Gutdünken über- lassen fühlen könne. Und während er so sprach, erinnerte er sich an den Augenblick, wo er zu Diotima gesagt hatte, man müsse die Wirklichkeit abschaffen. Es verstand sich wohl beinahe von selbst, daß Walter alles das zunächst für eine ganz und gar gewöhnliche Behauptung erklärte. Als ob nicht die ganze Welt, Literatur, Kunst, Wissenschaft, Reli- gion ohnehin »kellern und keltern« würde! Als ob irgendein Ge- bildeter den Wert der Ideen bestritte oder nicht auf Geist, Schön- heit und Güte achtete! Als ob alle Erziehung etwas anderes als Ein- führung in ein System des Geistes wäre! Ulrich verdeutlichte sich mit dem Hinweis darauf, daß Erzie- hung bloß eine Einführung in das jeweils Gegenwärtige und Herr- schende bedeute, das aus planlosen Vorkehrungen entstanden sei, weshalb man, um Geist zu gewinnen, vor allem erst überzeugt sein müsse, noch keinen zu haben! Eine ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung nannte er das. Nun erklärte es Walter für eine unmögliche Behauptung. »Wie pikant du es hinstellst« sagte er; »als ob wir überhaupt die Wahl hätten, Ideen zu leben oder unser Leben zu leben! Aber am Ende kennst du vielleicht das Zitat: Jch bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch 4 ? Warum gehst du nicht noch weiter? Warum verlangst du nicht gleich, daß wir um unserer Ideen willen unseren Bauch abschaffen? Ich aber erwidere dir: ,Aus Gemeinem ist der Mensch gemacht' ! Daß wir den Arm ausstrecken und zurückziehen, nicht wissen, ob wir uns rechts oder links wen- den sollen, daß wir aus Gewohnheiten, Vorurteilen und Erde be~ stehn und dennoch nach Kräften unseren Weg gehen: gerade das macht das Humane aus! Man braucht also, was du sagst, nur ein wenig an der Wirklichkeit zu messen, so zeigt es sich bestenfalls als Literatur!« Ulrich räumte ein: »Wenn du mir erlaubst, darunter auch alle anderen Künste zu verstehn, die Lebenslehren, Religionen und so weiter, dann will ich allerdings etwas dem Ähnliches behaupten, daß unser Dasein ganz und gar aus Literatur bestehen sollte!« »Ach? Du nennst die Güte des Erlösers oder das Leben Napo- leons Literatur?!« rief Walter aus. Aber dann fiel ihm etwas Besse- res ein, er wandte sich mit der Ruhe, die ein guter Trumpf gibt, -374- seinem Freunde zu und erklärte: »Du bist ein Mensch, der das Büch- sengemüse für den Sinn des frischen Gemüses erklärt!« »Du hast gewiß recht. Du könntest auch sagen, ich sei einer, der nur mit Salz kochen will« gab Ulrich ruhig zu. Er wollte nun nicht mehr darüber reden. Hier mengte sich aber Ciarisse ein und wandte sich an Walter. »Ich weiß nicht, warum du ihm widersprichst! Hast du nicht selbst jedesmal, wenn mit uns etwas Besonderes los war, gesagt: Das sollte man jetzt auf einer Bühne allen Leuten vorspielen können, damit sie es sehen und verstehen müßten! — Eigentlich müßte man singen!« wandte sie sich zustimmend an Ulrich. »Singen müßte man sich!« Sie war aufgestanden und in den kleinen Kreis getreten, den die Stühle bildeten. Ihre Haltung war eine etwas ungeschickte Selbst- darstellung ihrer Wünsche, als wollte sie sich zu einem Tanz an- schicken; und Ulrich, der gegen geschmacklose Entblößungen des Gemüts empfindlich war, erinnerte sich in diesem Augenblick dar- an, daß die meisten Menschen, also um es rund heraus zu sagen, die Durchschnittsmenschen, deren Geist gereizt ist, ohne etwas schaffen zu können, diesen Wunsch hegen, sich darstellen zu dürfen. Sie sind es ja auch, in denen so leicht »Unaussprechliches« vorgeht, wahrhaft ein Leibwort und der nebelhafte Untergrund, worauf das, was sie aussprechen, ungewiß vergrößert erscheint, so daß sie nie seinen richtigen Wert erkennen. Um dem ein Ende zu machen, sagte er: ;>Ich habe das nicht gemeint; aber Ciarisse hat recht: Das Theater beweist, daß heftige persönliche Erlebniszustände einem unpersön- lichen Zweck, einem Bedeutungs- und Bildzusammenhang dienen können, der sie halb und halb von der Person lostrennt.« »Ich verstehe Ulrich sehr gut!« fiel Ciarisse wieder ein. »Ich kann mich nicht erinnern, daß mir je etwas eine besondere Freude ge- macht hätte, weil es mir persönlich widerfahren ist; wenn es nur überhaupt geschah 'Musik willst du doch auch nicht ,haben',« wandte sie sich an ihren Gatten »es gibt kein anderes Glück, als daß sie da ist. Man zieht die Erlebnisse an sich und breitet sie im gleichen Zug wieder aus, man will sich, aber man will sich doch nicht als Krämer seiner selbst!« Walter griff sich an die Schläfen; um Clarissens willen ging er aber zu einer neuen Widerlegung über. Er bemühte sich, seine Worte wie einen ruhigen kalten Strahl kommen zu lassen. »Wenn du den Wert eines Verhaltens nur in das Aussenden geistiger Kraft verlegst,« wandte er sich an Ulrich »so möchte ich dich jetzt etwas fragen: Das wäre dochtnur möglich in einem Leben, das keinen anderen Zweck hätte, als das Erzeugen geistiger Kraft und Macht?« »Es ist das Leben, das alle vorhandenen Staaten anzustreben be- haupten!« entgegnete dieser. -375- »In einem solchen Staat würden die Menschen also nach großen Empfindungen und Ideen leben, nach Philosophien und Romanen?« fuhr Walter fort. »Ich frage dich nun weiter: Würden sie so leben, daß große Philosophie und Dichtung entstünde, oder so, daß alles, was sie lebten, sozusagen schon Philosophie und Dichtung in Fleisch und Blut wäre? Ich zweifle ja nicht, was du meinst, denn das erste wäre nichts anderes, als man ohnehin heute unter einem Kultur- staat versteht; aber da du das zweite meinst, so übersiehst du, daß Philosophie und Dichtung dort recht überflüssig wären. Abgesehen davon, daß man sich dein Leben nach der Art der Kunst, oder wie du es nennen willst, überhaupt nicht vorstellen kann, bedeutet es also nichts anderes als das Ende der Kunst!« So schloß er und spielte mit Rücksicht auf Ciarisse diesen Trumpf mit Nachdruck aus. Es wirkte. Sogar Ulrich brauchte eine Weile, bis er sich gefaßt hatte. Aber dann lachte er und fragte: »Weißt du denn nicht, daß jedes vollkommene Leben das Ende der Kunst wäre? Mir scheint, du bist doch selbst auf dem Wege, um der Vollkommenheit deines Lebens willen mit der Kunst Schluß zu machen?« Er meinte es nicht bös, aber Ciarisse horchte auf. Und Ulrich fuhr fort: »Jedes große Buch atmet diesen Geist aus, der die Schicksale einzelner Personen liebt, weil sie sich mit den Formen nicht vertragen, die ihnen die Gesamtheit aufnötigen wilL Es führt zu Entscheidungen, die sich nicht entscheiden lassen; man kann nur ihr Leben wiedergeben. Zieh den Sinn aus allen Dichtun- gen, und du wirst eine zwar nicht vollständige, aber erfahrungs- mäßige und endlose Leugnung in Einzelbeispielen aller gültigen Regeln, Grundsätze und Vorschriften erhalten, auf denen die Ge- sellschaft ruht, die diese Dichtungen liebt! Vollends ein Gedicht mit seinem Geheimnis schneidet ja den Sinn der Welt, wie er an tausenden alltäglichen Worten hängt, mitten durch und macht ihn zu einem davonfliegenden Ballon* Wenn man das, wie es üblich iht, Schönheit nennt, so sollte Schönheit ein unsagbar rücksichtsloser und grausamerer Umsturz sein, als es je eine politische Revolution gewesen ist!« Walter war bis in die Lippen blaß geworden. Diese Auffassung der Kunst als eine Lebensverneinung, als einen Widerspruch zum Leben haßte er. Das war in seinen Augen Boheme, Rest eines ver- alteten Wunsches, den »Bürger« zu ärgern. Die ironische Selbstver- ständlichkeit, daß es in einer vollendeten Welt keine Schönheit mehr geben könne, weil sie dort zur Überflüssigkeit wird, bemerkte er darin; aber die unausgesprochene Frage seines Freundes hörte er nicht. Denn die Einseitigkeit in dem, was er behauptete, lag auch für Ulrich klar zu Tage. Er hätte ebensogut das Gegenteil davon -376- sagen können, daß Kunst Leugnung sei, denn Kunst ist Liebe; in- dem sie liebt, macht sie schon, und es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben. Und nur weil auch unsere Liebe bloß aus Stücken be- steht, ist die Schönheit so etwas wie Steigerung und Gegensatz. Und es gibt nur das Meer der Liebe, worin die einer Steigerung nicht mehr fähige Vorstellung der Vollkommenheit und die auf Steige- rung beruhende der Schönheit eins sind! Wieder einmal hatten Ulrichs Gedanken das »Reich« gestreift, und er hielt unwillig ein. Auch Walter hatte sich inzwischen gesammelt, und nachdem er die Andeutung seines Freundes, man sollte ungefähr so leben, wie man lese, zuerst für eine gewöhnliche und sodann für eine un- mögliche Behauptung erklärt hatte, ging er nun dazu über, sie als eine sündhafte und gemeine zu beweisen. »Wenn ein Mensch« begann er in der gleichen kunstvoll zurück- haltenden Weise wie zuvor »nur deinen Vorschlag zur Grundlage seines Lebens nähme, so müßte er ungefähr — um von anderen Un- möglichkeiten zu schweigen — alles das gut heißen, was eine schone Idee in ihm anregt; ja sogar alles das, was die Möglichkeit in sich trägt, unter eine solche gefaßt zu werden. Das würde natürlich den allgemeinen Verfall bedeuten, aber da dir diese Seite voraussicht- lich gleichgültig ist — oder vielleicht denkst du an jene ungewissen allgemeinen Vorkehrungen, von denen du nichts Näheres gesagt hast, — so möchte ich bloß Auskunft über die persönlichen Folgen. Mir scheint es nicht anders möglich zu sein, als daß ein solcher Mensch dann in allen Fällen, wo er nicht gerade der Dichter seines Lebens ist, schlimmer als ein Tier daran wäre; wenn ihm keine Idee einfiele, würde ihm auch keine Entscheidung einfallen, er wäre einfach für einen großen Teil des Lebens seinen Trieben, Launen, den gewöhnlichen Allerweltsleidenschaften, mit einem Wort, dem Allerunpersönlichsten ausgeliefert, woraus ein Mensch nur besteht, und müßte sozusagen, solange die Obstruktion der oberen Leitung andauert, standhaft mit sich machen lassen, was ihm gerade ein- fällt!?« »Er müßte sich dann weigern, etwas zu tun!« antwortete statt Ulrichs Ciarisse. »Das ist der aktive Passivismus, dessen man unter Umständen fähig sein muß!« Walter brachte nicht den Mut auf, sie anzublicken. Die Fähigkeit der Weigerung spielte ja unter ihnen eine große Rolle; Ciarisse, im langen, die Füße bedeckenden Nachthemd wie ein kleiner En- gel anzusehen, stand aufgesprungen im Bett und deklamierte mit blitzenden Zähnen frei nach Nietzsche. »Wie ein Senkblei werfe ich meine Frage in deine Seele! Du wünschest dir Kind und Ehe, aber ich frage dich. Bist du der Mensch, der ein Kind sich wünschen darf? ! -377- Bist du der Siegreiche, der Gebieter deiner Tugenden? Oder reden aus dir Tier und Notdurft . . .!?«; im Halbdunkel des Schlafzim- mers war das ganz grausig anzusehen gewesen, wahrend Walter sie vergeblich in die Polster herab zu locken versuchte. Und nun würde sie in Zukunft also über ein neues Schlagwort verfügen; ak- tiver Passivismus, dessen man gegebenenfalls fähig sein müsse, das klang ganz nach einem Mann ohne Eigenschaften; ver- traute sie sich ihm an? bestärkte er sie am Ende in ihren Eigen- heiten? Diese Fragen krümmten sich wie Wurmer in Walters Brust, und es wurde ihm beinahe übel. Er wurde jetzt aschfahl, und aus seinem Gesicht wich alle Spannung, so daß es sich kraft- los runzelte. Ulrich bemerkte es und fragte ihn teilnehmend, ob ihm etwas fehle? Mit Mühe sagte Walter nein und brachte forsch lächelnd hervor, daß er seinen Unsinn nur zu Ende führen möge. »Ach Gott im Himmel,« räumte Ulrich nachgiebig ein »du hast ja nicht unrecht. Aber sehr oft haben wir aus einer Art Sportgeist Nachsicht mit Handlungen, die uns selbst schaden, wenn der Geg- ner sie in einer hübschen Weise durchführt; der Wert der Durch- führung konkurriert dann mit dem Wert des Schadens. Sehr oft haben wir auch eine Idee, nach der wir ein Stück weit handeln, aber bald springen Gewohnheit, Beharrung, Nutzen, Einflüsterung für sie ein, weil es nicht anders geht. Ich habe also vielleicht einen Zustand beschrieben, der in keiner Weise bis zu Ende durchführbar ist, aber eines muß man ihm lassen- er ist ganz und gar der beste- hende Zustand, in dem wir leben.« Walter hatte sich wieder beruhigt. »Wenn man die Wahrheit umkehrt, kann man immer etwas sagen, das ebenso wahr wie verkehrt ist« meinte er sanft, ohne zu verbergen, daß ein weiterer Streit keinen Wert mehr für ihn habe. »Es sieht dir ähnlich, von etwas zu behaupten, es sei unmöglich, aber wirklich.« Allein Ciarisse rieb sich sehr energisch die Nase. »Ich finde das doch sehr wichtig,« sagte sie »daß in uns allen etwas Unmögliches ist. Es erklärt so vieles. Ich habe, wie ich zuhörte, den Eindruck gc habt, wenn man uns aufschneiden könnte, so würde unser" ganzes Leben vielleicht wie ein Ring aussehen, bloß so rund um etwas.« Sie hatte schon vorher ihren Ehering abgezogen und guckte nun durch seine Öffnung g^gtn die belichtete Wand. »Ich meine, in seinei Mitte ist doch nichts, und doch sieht er genau so aus, als ob es ihm nur darauf ankäme. Ulrich kann das eben auch nicht gleich voll- kommen ausdrücken!« So endete diese Diskussion leider doch noch mit einem Schmeiz für Walter. -378- 85 General Stamms Bemühung, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen Ulrich mochte ungefähr eine Stunde länger fortgeblieben sein, als er beim Weggehen angegeben hatte, und als er heimkehrte, wurde ihm gemeldet, daß ein Offizier schon lange auf ihn warte. Er traf oben zu seiner Überraschung General von Stumm an, der ihn in alter Kameradschaftlichkeit begrüßte. »Lieber Freund.« rief ihm dieser entgegen »du mußt entschuldigen, daß ich dich noch so spät überfalle, aber ich habe vom Dienst nicht früher abkommen können und sitze überdies schon zwei Stunden hier zwischen deiner Büchersammlung, die ordentlich zum Fürchten ist!« Es stellte sich nach einigem Austausch von Höflichkeiten heraus, daß Stumm durch ein dringendes Anliegen hergeführt worden. Er hatte ein Bein unternehmend über das andere geschlagen, was bei seiner Statur ein wenig Mühe machte, streckte den Arm mit der kleinen Hand aus und erklärte: »Dringend? Ich pflege meinen Referenten, wenn sie mir einen dringenden Akt bringen, zu sagen: Dringend ist nichts auf der Welt außer dem Weg zu einem gewissen Locus. Aber im Ernst gesprochen ist das, was mich zu dir führt, hervorragend wich- tig. Ich habe dir schon gesagt, daß ich das Haus deiner Kusine als eine besondere Gelegenheit für mich betrachte, die wichtigsten Zi- vilfragen der Welt kennenzulernen. Schließlich ist das einmal et- was Nicht-Ärarisches, und ich kann dir versichern, daß es mir ko- lossal imponiert. Aber andererseits sind wir Militärs, auch wenn wir unsere Schwächen haben, lange nicht so dumm, wie man all- gemein glaubt. Ich hoffe, du wirst mir zugeben, daß wir, wenn wir einmal etwas machen, es gründlich und ordentlich tun. Also du gibst es zu? Das habe ich mir auch erwartet, und dann kann ich offen mit dir reden, wenn ich dir trotzdem gestehe, daß ich mich für un- seren militärischen Geist schäme. Schäme, habe ich gesagt! Ich bin heute neben dem Feldbischof wohl der Mann in der Armee, der am meisten mit dem Geist zu tun hat. Aber ich kann dir sagen, wenn man unseren militärischen Geist genau anschaut, so hervor- ragend er ist, er schaut aus wie ein Frührapport. Du weißt hoffent- lich noch, was ein Frührapport ist? Also nicht wahr, da schreibt der Inspektionsoffizier hinein, soviel Mann sind da und Pferde, soviel Mann und Pferde sind nicht da, sie sind krank oder dergleichen, der Ulan Leitomischl ist über die Zeit ausgeblieben und so weiter. Aber warum soviel Mann und Pferde da oder krank sind und so weiter, das schreibt er nicht hinein. Und gerade das ist es, was man immer wissen müßte, wenn man mit Herren vom Zivil zu tun hat. -379- Die Rede des Soldaten ist kurz, einfach und sachlich, aber ich habe sehr oft mit Herren von den Zivürninisterien zu konferieren, und dann fragen sie bei jeder Gelegenheit, warum das sein soll, was ich vorschlage, und berufen sich auf Rucksichten und Zusammen- hänge höherer Natur. Also ich hab — du gibst mir dein Ehrenwort, daß das, was jetzt kommt, unter uns bleibt! — meinem Chef, dem Exzellenz Frost vorgeschlagen oder richtiger gesagt, ich will ihn mehr damit überraschen, daß ich die Gelegenheit bei deiner Kusine benutze, um diese Rücksichten und Zusammenhänge höherer Na- tur einmal ordentlich kennen zu lernen und, wenn ich so sagen darf, ohne unbescheiden zu sein, für den militärischen Geist her- anzuziehen. Schließlich haben wir beim Militär Ärzte, Tierärzte, Apotheker, Geistliche, Auditoren, Intendanten, Ingenieure und Kapellmeister: aber eine zentrale Stelle für den Zivilgeist fehlt noch. Ulrich bemerkte jetzt erst, daß Stumm von Bordwehr eine Dienst- mappe mitgebracht hatte; sie lehnte zu Füßen des Schreibtisches und war eine jener großen, an einem starken Riemen um die Schultern zu tragenden, Rindsledertaschen, die dem Verbringen von Akten in den weitläufigen Baulichkeiten der Ministerien und über die Straße von einer Dienststelle zur anderen dienen. Offenbar war der General mit einer Ordonnanz gekommen, die unten wartete, ohne daß Ulrich sie bemerkt hatte, denn Stumm zog nur mit Mühe die schwere Tasche an seine Knie und ließ das kleine Stahlschloß aufspringen, das ungeheuer kriegstechnisch aussah. »Ich bin nicht müßig gegangen, seit ich eurem Unternehmen beiwohne,« lächelte er, indes sich sein hellblauer Rock beim Bücken an den Goldknöpfen spannte »aber verstehst du, da gibt es Sachen, mit denen ich nicht ganz zurechtkomme.« Er fingerte aus der Mappe eine ganze An- zahl loser, mit sonderbaren Aufzeichnungen und Strichen bedeck- ter Blätter hervor. »Deine Kusine,« erläuterte er »ich habe mich einmal eingehend mit deiner Kusine darüber besprochen, sie möchte begreiflicherweise, daß aus ihren Bemühungen, unserem Aller- höchsten Herrn ein geistiges Denkmal zu setzen, eine Idee hervoi- geht, die gleichsam die rangshochste unter allen Ideen darstellt, die man heute hat; aber ich habe jetzt schon bemerkt, so sehr ich alle diese Leute bewundern muß, die sie dazu eingeladen hat, daß das verteufelte Schwierigkeiten bereitet. Sagt der eine das, so behaup- tet der andere das Gegenteil — ist dir das nicht auch schon aufge- fallen? — aber was mir wenigstens noch weit schlimmer vorkommt, der Zivilgeist scheint das zu sein, was man bei einem Pferd einen schlechten Fresser nennt. Du erinnerst dich doch noch? So einer Bestie kannst du die doppelte Futterration geben, sie wird trotz- dem nicht dicker! Oder sagen wir halt,« verbesserte er sich auf einen kurzen Widerspruch des Hausherrn »meinetwegen kannst du auch -380- sagen, daß er mit jedem Tag dicker wird, aber die Knochen wachsen ihm nicht, und das Fell bleibt glanzlos; was er kriegt, ist nur ein Grasbauch. Also das interessiert mich, weißt du, und ich habe mir vorgenommen, mich um diese Frage zu kümmern, warum da eigent- lich keine Ordnung hineinzubringen ist.« Stumm reichte seinem ehemaligen Leutnant lächelnd das erste der Blätter hin. »Man mag gegen uns sagen, was man will,« erläu- terte er »aber auf Ordnung haben wir uns beim Militär immer verstanden. Hier das ist die Konsignation der Hauptideen, die ich aus den Teilnehmern an den Versammlungen bei deiner Kusine herausbekommen habe. Du siehst, wenn man ihn unter vier Augen fragt, hält eigentlich jeder etwas anderes für das Wichtigste.« Ulrich betrachtete das Blatt mit Staunen. Es war nach der Art eines Meldezettels oder eben der militärischen Verzeichnisse durch Kreuz- und Querlinien in Felder geteilt, deren Eintragungen aus Worten bestanden, die einer solchen Anlage einigermaßen widerstrebten, denn er las in ärarischer Schönschrift die Namen Jesus Christus; Buddha, Gautama auch Siddharta; Laotse; Luther, Martin; Goethe, Wolfgang; Ganghofer, Ludwig; Chamberlain und viele weitere, die offenbar noch auf einem anderen Blatt ihre Fortsetzung fan- den; sodann in einer zweiten Spalte die Worte Christentum, Impe- rialismus, Jahrhundert des Verkehrs und so weiter, an die sich in anderen Spalten andere Wortsäulen schlössen. »Ich könnte es auch das Grundbuchsblatt der modernen Kultur nennen,« erläuterte Stumm »denn wir haben das dann erweitert, und es enthält jetzt die Namen der Ideen und ihrer Urheber, von denen wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren bewegt worden sind. Ich habe keine Ahnung davon gehabt, was das für eine Mühe macht!« Da Ulrich wissen wollte, wie er dieses Verzeichnis zustan- degebracht, erklärte er gerne den Vorgang nach seinem System. »Ich habe einen Hauptmann, zwei Leutnants und fünf Unteroffiziere dazu gebraucht, um das in so kurzer Zeit fertigzustellen! Wenn wir ganz modern hätten sein dürfen, so würden wir ja an alle Re- gimenter die Frage geschickt haben ,Wen halten Sie für den größ- ten Menschen?', wie man das heute macht, bei den Rundfragen der Zeitungen und dergleichen, weißt du, zugleich mit dem Befehl, das perzentuelle Abstimmungsergebnis anher zu melden; aber beim Militär geht so etwas nicht, weil natürlich kein Truppenkörper et- was anderes melden darf als Se. Majestät. Ich hab dann daran ge- dacht, erheben zu lassen, welche Bücher am meisten gelesen wer- den und die höchsten Auflagen haben, aber da hat sich gleich her- ausgestellt, daß das außer der Bibel die Neujahrsbüchel der Post mit den Tarifen und alten Witzen sind, die jeder Adressat für sein Trinkgeld von seinem Briefträger bekommt, was uns wieder dar- -381- auf aufmerksam gemacht hat, wie schwierig der Zivilgeist ist, denn im allgemeinen gelten ja doch die Bücher für die besten, die sich für jeden Leser eignen, oder es muß wenigstens, hat man mir ge- sagt, ein Autor in Deutschland sehr viele Gleichgesinnte haben, damit er für einen ungewöhnlichen Geist gilt. Also, diesen Weg haben wir auch nicht einschlagen können, und wie es schließlich gemacht worden ist, das kann ich dir im Augenblick nicht sagen, das war eine Idee des Korporals Hirsch, gemeinsam mit dem Leut- nant Melichar, aber es ist uns gelungen.« General Stumm legte das Blatt beiseite und nahm mit einer be- deutende Enttäuschungen ankündigenden Miene ein anderes vor. Er hatte nach vollzogener Bestandsaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats nicht nur zu seinem Bedauern festgestellt, daß er aus lauter Gegensätzen bestehe, sondern auch zu seinem Erstaunen ge- funden, daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen. »Daß mir von den be- rühmten Leuten bei deiner Kusine jeder etwas anderes sagt, wenn ich ihn um Belehrung bitte, daran habe ich mich schon gewöhnt« meinte er; »aber daß es mir, wenn ich längere Zeit mit ihnen ge- sprochen habe, trotzdem vorkommt, als ob sie alle das gleiche sagen würden, das ist es, was ich in keiner Weise kapieren kann, und viel- leicht reicht mein Kommißverstand einfach nicht dafür aus!« Wo- von General Stumms Verstand in solcher Weise geängstigt wurde, war keine Kleinigkeit und hätte eigentlich nicht nur dem Kriegs- ministerium überlassen bleiben dürfen, obgleich sich zeigen ließe, daß es zum Kriege allerhand beste Beziehungen unterhält. Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schick- sals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kol- lektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus, Imperialismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind, wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen Das scheint schon so na- türlich zu sein, wie daß es Tag und Nacht, heiß und kalt, Liebe und Haß und zu jedem Beugemuskel im menschlichen Körper den wi- dersprechend gesinnten Streckmuskel gibt, und General Stumm wäre ebensowenig wie irgendwer auf den Einfall gekommen, darin etwas Ungewöhnliches zu bemerken, wenn nicht sein Ehrgeiz durch seine Liebe zu Diotima in dieses Abenteuer gestürzt worden wäre. Denn die Liebe begnügt sich nicht damit, daß die Einheit der Na- tur auf Gegensätzen ruht, sondern sie will in ihrem Verlangen nach zärtlicher Gesinnung eine Einheit ohne Widersprüche, und so hatte der General auf alle mögliche Weise versucht, diese Einheit -382- herzustellen. »Ich habe hier« erzählte er Ulrich, indem er gleichzeitig die dazugehörenden Blätter vorwies »ein Verzeichnis der Ideen- befehlshaber anlegen lassen, das heißt, es enthält alle Namen, wel- che in letzter Zeit sozusagen größere Heereskörper von Ideen zum Siege geführt haben; hier dieses andere ist eine Ordre de bataille; das da ein Aufmarschplan; dieses ein Versuch, die Depots oder Waffenplätze festzulegen, aus denen der Nachschub an Gedanken kommt. Aber du bemerkst wohl — ich habe es in der Zeichnung auch deutlich hervorheben lassen — , wenn du eine der heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen betrachtest, daß sie ihren Nachschub an Kombattanten und Ideenmaterial nicht nur aus ihrem eigenen Depot, sondern auch aus dem ihres Gegners bezieht; du siehst, daß sie ihre Front fortwährend verändert und ganz unbe- gründet plötzlich mit verkehrter Front, gegen ihre eigene Etappe kämpft; du siehst andersherum, daß die Ideen ununterbrochen über- laufen, hin und zurück, so daß du sie bald in der einen, bald in der anderen Schlachtlinie findest: Mit einem Wort, man kann we- der einen ordentlichen Etappenplan, noch eine Demarkationslinie, noch sonst etwas aufstellen, und das Ganze ist, mit Respekt zu sa- gen — woran ich aber andererseits doch wieder nicht glauben kann! — das, was bei uns jeder Vorgesetzte einen Sauhaufen nennen würde!« Stumm ließ einige Dutzend Blätter auf einmal in Ulrichs Hand gleiten. Sie waren bedeckt mit Aufmarschplänen, Bahnlinien, Straßennetzen, Porteeskizzen, Truppenzeichen, Kommandostand- orten, Kreisen, Rechtecken, schraffierten Räumen; wie bei einem regelrechten Generalstabselaborat liefen rote, grüne, gelbe, blaue Linien hindurch, und Fähnchen verschiedenster Art und Bedeutung, wie sie ein Jahr später so volkstümlich werden sollten, waren hin- eingemalt. »Es nützt alles nichts!« seufzte Stumm. »Ich habe die Darstellung gewechselt und der Sache militärgeographisch statt strategisch beizukommen versucht, in der Hoffnung, auf diese Weise wenigstens einen festgegliederten Operationsraum zu gewinnen, aber es hat ebensowenig geholfen. Da hast du die oro- und hydro- graphischen Darstellungsversuche!« Ulrich sah Berggipfel markiert, von denen Verzweigungen ausliefen, die sich an anderer Stelle wie- der massierten, Quellen, Flußnetze und Seen. »Ich habe« sagte der General, und in seinem lebenslustigen Auge glomm etwas Gereiz- tes oder Gehetztes auf, »noch die verschiedensten Versuche ange- stellt, das Ganze in eine Einheit zu bringen: aber weißt du, wie es ist?! So wie wenn man in Galizien zweiter Klasse reist und sich Filzläuse holt! Es ist das dreckigste Gefühl von Ohnmacht, das ich kenne. Wenn man sich lange zwischen Ideen aufgehalten hat, juckt es einen am ganzen Körper, und man bekommt noch nicht Ruhe, wenn man sich bis aufs Blut kratzt!« - 383 - Der Jüngere mußte über diese kräftige Darstellung lachen. Aber der General bat* »Nein, lach nicht! Ich habe mir gedacht: Du bist ein hervorragender Zivilist geworden; in deiner Stellung wirst du die Sache verstehn, aber du wirst auch mich verstehen. Ich bin zu dir gekommen, damit du mir hilfst. Ich habe viel zu viel Respekt vor allem, was Geist ist, als daß ich glauben könnte, daß ich im Recht bin!« »Du nimmst das Denken viel zu ernst, Herr Oberstleutnant« trö- stete ihn Ulrich. Er hatte unwillkürlich Oberstleutnant gesagt und entschuldigte sich. »Du hast mich so angenehm in die Vergangen- heit zurückversetzt, General Stumm, wo du mich manchmal im Ka- sino zum Philosophieren in eine Ecke kommandiert hast. Aber ich wiederhole dir, man darf das Denken nicht so ernst nehmen, wie du es augenblicklich tust.« »Nicht ernst nehmen?!« stöhnte Stumm. »Aber ich kann nicht mehr leben ohne eine höhere Ordnung in meinem Kopf! Verstehst du das nicht? Mich schaudert einfach, wenn ich mich daran erinnere, wie lange ich ohne sie auf dem Exerzierplatz und in der Kaserne, zwischen Offizierswitzen und Weibergeschichten gelebt habe!« Sie setzten sich zu Tisch; Ulrich war gerührt von den kindlichen Einfällen, die der General mit Mannesmut ausführte, und der un- verwüstlichen Jugendlichkeit, die ein rechtzeitiger Aufenthalt in kleinen Garnisonen verleiht. Er hatte den Genossen versunkener Jahre eingeladen, sein Abendbrot mit ihm zu teilen, und der Ge- neral stand so sehr unter dem Eindruck des Wunsches, an seinen Geheimnissen teilzuhaben, daß er jedes Scheibchen Wurst mit Auf- merksamkeit auf die Gabel nahm. — »Deine Kusine« sagte er und hob das Weinglas» ist die bewundernswerteste Frau, die ich kenne. Man sagt mit Recht, daß sie eine zweite Diotima sei, ich habe so etwas noch nie gesehn. Weißt du, meine Frau, du kennst sie nicht, ich kann in keiner Weise klagen, und Kinder haben wir auch- aber so ein Weib wie Diotima, das ist doch ganz etwas anderes! Wenn Empfang ist, stelle ich mich manchmal hinter sie: Eine imponierend weibliche Fülle! Und dabei spricht sie auf der vorderen Seite mit irgendeinem hervorragenden Zivilisten gleichzeitig so gelehrt, daß ich mir am liebsten Notizen machen möchte ! Und der Sektionschef, mit dem sie verheiratet ist, weiß absolut nicht, was er an ihr hat. Ich bitte um Verzeihung, wenn dir dieser Tuzzi vielleicht beson- ders sympathisch sein sollte, aber ich kann ihn nicht ausstehn! Der schleicht bloß herum und lächelt, als ob er wüßte, wo Bartel den Most holt, und es uns nicht verraten wollte. Und das soll er mir nicht vormachen, denn bei aller meiner Verehrung für das Zivil, die Regierungsbeamten nehmen darin den letzten Platz ein; die sind nichts als eine Art ziviles Militär, die mit uns bei jeder Ge- -384- legenheit um den Vorrang streiten und dabei eine so unverschämte Höflichkeit haben wie eine Katz, wenn sie auf einem Baum sitzt und einen Hund anschaut. Da ist der Dr. Arnheim ein anderes Kaliber« plauderte Stumm weiter; »vielleicht auch eingebildet, aber solche Überlegenheit muß man eben anerkennen.« Er hatte offen- bar ein wenig rasch getrunken, nach dem vielen Sprechen, denn er wurde behaglich und vertraulich. »Ich weiß nicht, was das ist,« fuhr ei fort »wahrscheinlich verstehe ich es nicht, weil man heute selbst schon einen so komplizierten Intellekt hat, aber obgleich ich doch selbst deine Kusine bewundere, als ob ich — also ich muß geradezu sagen, als ob ich einen zu großen Bissen im Hals stecken hätte! — so ist es mir doch auch eine Erleichterung, daß sie in den Arnheim verliebt ist.« »Wie? Du bist sicher, daß sie miteinander etwas haben?« Ulrich hatte das etwas lebhaft gefragt, obgleich es ihm eigentlich nicht nahegehen sollte; Stumm glotzte ihn mit seinen kurzsichtigen, von der Erregung noch getrübten Augen mißtrauisch an und setzte sei- nen Zwicker auf. »Ich habe nicht behauptet, daß er sie gehabt hat« entgegnete er in unverblümter Offiziersweise, steckte seinen Zwik- ker wieder ein und fügte ganz unsoldatisch hinzu: »Ich würde aber auch nichts dagegen haben; hol mich der Teufel, ich habe dir schon gesagt, daß man in dieser Gesellschaft einen komplizier- ten Intellekt bekommt; ich bin gewiß kein Buserant, aber wenn ich mir die Zärtlichkeit vorstelle, die Diotima diesem Mann schenken könnte, dann fühle auch ich Zärtlichkeit für ihn, und umgekehrt ist mir, als ob es meine eigenen Küsse wären, die er Diotima gibt.« »Er gibt ihr Küsse?« »Aber das weiß ich doch nicht, ich spioniere ihnen ja nicht nach. Ich denke mir nur so, wenn. Ich versteh mich eben selbst nicht. Übri- gens habe ich schon einmal gesehn, wie er ihre Hand gefangen hat, als sie geglaubt haben, daß niemand zusieht, und da sind sie eine Weile so still gewesen, wie wenn ,Kniet nieder zum Gebet, Tschako ab!' kommandiert worden wäre, und dann hat sie ihn ganz leise etwas gebeten, und er hat etwas darauf geantwortet, was ich mir beides wörtlich gemerkt habe, weil es so schwer verständlich ist; nämlich sie hat gesagt: ,Ach, wenn man nur den erlösenden Ge- danken fände!' und er hat geantwortet: ,Nur ein reiner, ungebro- chener Liebesgedanke kann uns die Erlösung bringen!' Offenbar hatte er das zu persönlich aufgefaßt, denn sie hat bestimmt den er- lösenden Gedanken gemeint, den sie für ihr großes Unternehmen braucht — : Was lachst du? Tu dir keinen Zwang an, ich habe nun einmal immer schon meine Eigenheiten gehabt, und jetzt habe ich mir in den Kopf gesetzt, ihr zu helfen! Das muß sich machen lassen; 25 Musil, Mann _ 385 - cs gibt so viele Gedanken, und einer muß schließlich der erlösende sein! Du mußt mir bloß an die Hand gehn!« »Lieber General,« wiederholte Ulrich »ich kann dir bloß noch einmal sagen, du nimmst das Denken zu ernst. Aber da du Wert darauf legst, kann ich dir ja zu erklären versuchen, wie ein Zivi- list denkt, so gut ich es vermag.« Sie waren an die Zigarren gelangt, und er begann: »Du bist erstens auf einem falschen Weg, General; der Geist ist nicht im Zivil zu finden, und das Körperliche beim Militär, wie du glaubst, sondern es verhält sich genau umgekehrt! Denn Geist ist Ordnung, und wo gibt es mehr Ordnung als beim Militär? Alle Halskragen haben dort eine Höhe von vier Zenti- metern, die Zahl der Knöpfe ist genau festgesetzt, und selbst in den träumereichsten Nächten stehen die Betten schnurgerade an den Wänden! Die Aufstellung einer Eskadron in entwickelter Linie, die Massierung eines Regiments, die rechte Lage einer Kopf riemen- schnalle sind also geistige Güter von hoher Bedeutung, oder es gibt geistige Güter überhaupt nicht!« »Halte deine Großmutter zum Narren!« knurrte der General vorsichtig, der im Zweifel war, ob er seinen Ohren oder dem ge- nossenen Wein nicht trauen sollte. »Du bist vorschnell« beharrte Ulrich. »Wissenschaft ist nur dort möglich, wo sich die Geschehnisse wiederholen oder doch kontrollie- ren lassen, und wo gäbe es mehr Wiederholung und Kontrolle als beim Militär? Ein Würfel wäre kein Würfel, wenn er nicht um neun Uhr so rechteckig wäre wie um sieben Die Gesetze der Planeten- bahnen sind eine Art Schießvorschrift. Und wir könnten uns über- haupt von nichts einen Begriff oder ein Urteil machen, wenn alles nur einmal vorüberhuschte. Was etwas gelten soll und einen Na- men tragen, das muß sich wiederholen lassen, muß in vielen Exem- plaren vorhanden sein, und wenn du noch nie den Mond gesehen hättest, würdest du ihn für eine Taschenlampe halten; nebenbei be- merkt, die große Verlegenheit, die Gott der Wissenschaft bereitet, besteht darin, daß er nur ein einzigesmal gesehen worden ist, und das bei Erschaffung der Welt, ehe noch geschulte Beobachter da waren.« Man muß sich in Stumm von Bordwehr versetzen; seit der Kadet- tenschule war ihm alles vorgeschrieben worden, von der Form der Kappe bis zum Heiratskonsens, und er verspürte wenig Neigung, seinen Geist solchen Erklärungen zu öffnen. — »Lieber Freund,« entgegnete er tückisch »das mag alles sein, aber es geht mich eigent- lich nichts an; du machst ja ganz gute Witze, wenn du sagst, daß wir beim Militär die Wissenschaft erfunden haben, aber ich rede nicht von der Wissenschaft, sondern, wie deine Kusine sagt, von der Seele, und wenn sie von der Seele spricht, dann möchte ich - 38G - midi am liebsten nackt ausziehen, so wenig" paßt das zu einer Uni- form!« »Lieber Stumm,« fuhr Ulrich unbeirrt fort »sehr viele Menschen werfen der Wissenschaft vor, daß sie seelenlos und mechanisch sei und auch alles, was sie berühre, dazu mache; aber wunderlicher- weise bemerken sie nicht, daß in den Angelegenheiten des Gemüts eine noch weit ärgere Regelmäßigkeit steckt als in denen des Ver- standes! Denn wann ist ein Gefühl recht natürlich und einfach? Wenn sein Auftreten bei allen Menschen in gleicher Lage gerade- zu automatisch zu erwarten ist! Wie könnte man von allen Men- schen Tugend verlangen, wenn eine tugendhafte Handlung nicht «ine solche wäre, die sich beliebig oft wiederholen ließe?! Ich könnte dir noch viele andere solche Beispiele nennen, und wenn du vor dieser öden Regelmäßigkeit in die dunkelste Tiefe deines Wesens fliehst, wo die unbeaufsichtigten Bewegungen zuhause sind, in diese feuchte Kreaturtiefe, die uns vor dem Verdunsten am Verstände schützt, was findest du? Reize und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleif ung, Serie, Monotonie! Das ist Uniform, Kaserne, Regle- ment, lieber Stumm, und es hat die zivile Seele merkwürdige Ver- wandtschaft mit dem Militär. Man könnte sagen, daß sie sich an dieses Vorbild, an das sie nie ganz heranreicht, anklammert, wo sie nur kann. Und wo ihr das nicht möglich ist, ist sie wie ein Kind, das man allein gelassen hat. Nimm bloß die Schönheit einer Frau zum Beispiel: was dich an Schönheit überrascht und überwältigt, wovon du glaubst, daß du es zum erstenmal in deinem Leben er- blickst, das hast du innerlich längst schon gekannt und gesucht, da- von war immer ein Vorglanz in deinen Augen, der jetzt bloß zur vollen Tageshelle verstärkt wird; dagegen, wenn es sich wirklich um Liebe auf den ersten Blick, um Schönheit handelt, die du noch nie wahrgenommen hast, so weißt du einfach nicht, was du damit anfangen sollst; dem ist nichts Ähnliches vorangegangen, du weißt keinen Namen dafür, du hast kein Gefühl als Antwort, du bist ein- fach grenzenlos verwirrt, geblendet, in ein blindes Staunen, in ei- nen trottelhaften Stumpfsinn versetzt, der mit Glück kaum noch etwas gemeinsam zu haben scheint — « Hier unterbrach der General lebhaft seinen Freund. Er hatte ihm bisher mit jener Geübtheit zugehört, die man auf dem Exer- zierplatz an dem Tadel und den Belehrungen seiner Vorgesetzten erwirbt, die man nötigenfalls wiederholen können muß und doch nicht in sich aufnehmen darf, weil man sonst ebensogut auf einem ungesattelten Igel nachhause reiten könnte; jetzt hatte ihn aber Ulrich getroffen, und er rief heftig aus: »Der Wahrheit die Ehre, das beschreibst du hervorragend richtig 1 Wenn ich mich so recht in -387- die Bewunderung für deine Kusine versenke, so löst sich alles in mir in nichts auf. Und wenn ich mich ganz angestrengt zusammen- nehme, damit mir endlich eine Idee einfalle, mit der ich ihr nützen könnte, so entsteht ebenfalls eine äußerst unangenehme Leere in mir; trottelhaft darf man das wohl nicht nennen, aber sehr ähnlich ist es bestimmt. Und du meinst also, wenn ich dich recht verstanden habe, daß wir Militärs ganz ordentlich denken; daß der Zivilver- stand — also daß wir sein Vorbild sein sollen, das muß ich ableh- nen, das ist wohl nur ein Witz von dir ! — aber daß wir den glei- chen Verstand haben, das denk ich mir auch manchmal; und was darüber hinausgeht, meinst du, also alle diese Dinge, die uns Sol- daten so ungemein zivilistisch vorkommen, wie Seele, Tugend, In- nigkeit, Gemüt — der Arnheim kann unglaublich geläufig damit umgehn, aber du meinst, daß das zwar Geist ist, ja naturlich, du sagst ja wohl, daß gerade das diese sogenannten Rücksichten höherer Natur sind, aber du sagst eben auch, daß man ganz blöd davon wird, und das stimmt alles ausgezeichnet, aber schließlich ist der Zivilgeist doch der überlegene, und das willst du doch gewiß nicht bestreiten, und jetzt frage ich dich, wie stimmt denn das?« »Ich habe vorhin erstens gesagt, und das hast du vergessen; ich habe erstens gesagt, daß der Geist beim Militär zu Hause ist, und nun sage ich zweitens: beim Zivil das Körperliche — « »Aber das ist doch Unsinn?« lehnte sich Stumm mißtrauisch auf. Die körperliche Überlegenheit des Militärs war ein Dogma genau so wie die Überzeugung, daß der Stand des Offiziers dem Thron am nächsten stehe; und wenn sich Stumm auch nie für einen Ath- leten gehalten hatte, so meldete sich in dem Augenblick, wo man daran zu zweifeln schien, doch die Gewißheit, daß ein Zivilbauch, bei gleichem Vorhandensein, noch um einiges weicher sein müsse als der seine. »Nicht mehr oder weniger Unsinn als alles andere« verteidigte sich Ulrich. »Aber du mußt mich ausreden lassen. Siehst du, es mö- gen ungefähr hundert Jahre her sein, da haben die führenden Köpfe des deutschen Zivils geglaubt, daß 'der denkende Bürger die Gesetze der Welt an seinem Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die Sätze von den Dreiecken beweisen kann; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen, der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleum- lampe, geschweige denn die Elektrizität oder ein Phonogramm kannte. Diese Überhebung ist uns seither gründlich ausgetrieben worden; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am -388- Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben.« »Das stimmt zu meinen Untersuchungen« bestätigte Stumm. »Bloß ist man nicht so eifrig wie du, eine Zusammenfassung zu suchen« fuhr Ulrich fort. »Nach den vergangenen Anstrengungen sind wir in einen Zeitabschnitt des Zurücksinkens geraten. Stell dir bloß vor, wie das heute vor sich geht: Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Vertei- lungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und wenn du willst, zwan- zig, die dagegen sind. Man könnte fast schon glauben, es ist wie in der Liebe und im Haß und beim Hunger, wo der Geschmack ver- schieden sein muß, damit jeder zum Seinen kommt.« »Ausgezeichnet!« rief Stumm, wieder gewonnen, aus. »Etwas Ähnliches habe ich selbst schon Diotima gesagt! Aber bedenkst du nicht, daß man in dieser Unordnung die Rechtfertigung des Mili- tärs sehen müßte, und ich schäme mich doch, auch nur einen Augen- blick daran zu glauben!« »Ich würde dir raten,« meinte Ulrich »Diotima den Tip zu geben, daß Gott, aus Gründen, die uns noch unbekannt sind, ein Zeitalter der Körperkultur heraufzuführen scheint; denn das einzige, was den Ideen einigermaßen Halt gibt, ist der Körper, zu dem sie ge- hören, und dabei hättest du als Offizier überdies einen gewissen Vorsprung.« Der kleine, dicke General zuckte zurück. »Ich bin, was Körper- kultur betrifft, nicht schöner als ein geschälter Pfirsich« sagte er nach einer Weile mit einer bitteren Genugtuung. »Und ich muß dir auch sagen,« fügte er hinzu »daß ich an Diotima nur auf eine ordentliche Weise denke und auf ebensolche Art vor ihr zu bestehen wünsche,« »Schade,« meinte Ulrich »deine Absicht wäre eines Napoleon würdig, aber du wirst kein geeignetes Jahrhundert dafür vorfin- den!« Der General steckte den Spott mit der Würde ein, die ihm der Gedanke verlieh, für die Dame seines Herzens zu leiden, und sagte nach einigem Nachdenken: »Ich danke dir jedenfalls für deine in- teressanten Ratschläge.« -389- 86 Der Königskaufmann und die Interessenfusion Seele-Geschäft. Auch: Alle Wege zum Geist gehen von der Seele aus, aber keiner führt zurück Zu dieser Zeit, wo des Generals Liebe vor seiner Bewunderung iür Diotima und Arnheim zurücktrat, hätte Arnheim längst schon den Beschluß gefaßt haben müssen, nicht mehr wiederzukeh- ren. Statt dessen traf er Anstalten zu längerem Aufenthalt; er be- hielt die Zimmer, die er im Hotel bewohnte, dauernd bei, und sein bewegtes Leben machte den Eindruck, stillzustehen. Die Welt wurde damals von allerlei erschüttert, und wer gegen Ende des Jahres neunzehnhundertdreizehn gute Nachrichten be- saß, hatte das Bild eines kochenden Vulkans, wenn auch die von der friedlichen Arbeit ausgehende Suggestion, dieser könne nie- mals wieder ausbrechen, allgemein war. Sie war nicht allgemein gleich stark. Die Fenster des schönen alten Palais am Ballhausplatz, wo Sektionschef Tuzzi waltete, warfen oft noch spät abends Licht in die kahlen Bäume des gegenüberliegenden Gartens, und gebil- dete Bummler, wenn sie nachts vorbeikamen, faßte Schauer an. Denn so wie der heilige Josef den gewöhnlichen Zimmermann Jo- sef durchdringt, durchdrang der Name »der Ballhausplatz« den dort stehenden Palast mit dem Geheimnis, eine des halben Dut- zends mysteriöser Küchen zu sein, wo hinter verhängten Fenstern das Geschick der Menschheit bereitet wurde. Dr. Arnheim war von diesen Vorgängen ziemlich gut unterrichtet. Er erhielt chiffrierte Depeschen und von Zeit zu Zeit den Besuch eines seiner Beamten, der mit persönlichen Informationen aus der Zentrale kam, die Fen- ster seiner Hotelwohnung waren auch oft in Front erleuchtet, und ein einbildungskräftiger Beobachter hätte glauben können, hier nächtige eine zweite, eine Gegenregierung, eine moderne apo- kiyphe Kampfanlage der wirtschaftlichen Diplomatie. Übrigens vernachlässigte es Arnheim niemals, einen solchen Ein- druck selbst hervorzurufen; denn ohne die Suggestionen der Äußer- lichkeit ist der Mensch nur eine süße wässerige Frucht ohne Schale. Schon beim Frühstück, das er aus diesem Grunde nicht allein, son- dern in dem allen zugänglichen Raum des Hotels einnahm, gab er mit der Regierungsgeübtheit des erfahrenen Herrschers und der höflich stillen Haltung des Mannes, der sich beobachtet weiß, die Tagesordnungen seinem Sekretär, der sie stenographisch festhielt; keine von ihnen hätte genügt, um Arnheim Freude zu bereiten, aber indem sie den Platz in seinem Bewußtsein nicht nur unterein- ander teilten, sondern darin auch noch durch die Reize des Früh- -390- stücks eingeschränkt wurden, hoben sie sich in die Höhe. Wahr- scheinlich braucht menschliche Begabung — und das war einer sei- ner Lieblingsgedanken — überhaupt eine gewisse Einengung, um sich entfalten zu können; der wirklich fruchtbare Streifen zwischen übermütiger Gedankenfreiheit und mutloser Gedankenflucht ist, wie jeder Kenner des Lebens weiß, überaus schmal. Außerdem war er aber auch noch davon überzeugt, daß es sehr darauf ankomme, wer einen Gedanken habe; denn man weiß, daß neue und bedeu- tende Gedanken selten einen einzigen Finder haben, und anderer- seits bringt das Gehirn eines Menschen, der zu denken gewohnt ist, unaufhörlich Gedanken von verschiedenem Wert hervor: den Ab- schluß, die wirksame, erfolgreiche Form müssen Einfälle darum immer von außen erhalten, nicht nur aus dem Denken, sondern aus den ganzen Lebensumständen der Person. Eine Frage des Sekretärs, ein Blick auf den Nebentisch, der Gruß eines Ein- tretenden, irgendetwas von dieser Art erinnerte Arnheim jedes- mal im rechten Augenblick an die Notwendigkeit, aus sich eine eindrudcsvolle Erscheinung zu machen, und diese Einheit der Er- scheinung übertrug sich denn auch sogleich auf sein Denken. Er hatte diese Lebenserfahrung in die zu seinen Bedürfnissen passende Überzeugung gefaßt, daß der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse. Trotz solcher Überzeugung maß er aber seiner augenblicklichen Tätigkeit keine sehr große Bedeutung bei; wenngleich er damit ein Ziel verfolgte, das unter Umständen überraschend lohnend sein konnte, fürchtete er, daß er seinem Aufenthalt Opfer an Zeit bringe, die nicht zu rechtfertigen seien. Er rief sich wiederholt die alte kühle Weisheit »Divide et impera« ins Gedächtnis: sie gilt von je- dem Verkehr mit Menschen und Dingen und fordert eine gewisse Entwertung jeder einzelnen Beziehung durch die Gesamtheit aller, denn das Geheimnis der Stimmung, in der man erfolgreich handeln will, ist das gleiche wie das des Mannes, den viele Frauen lieben, während er keine ausschließlich bevorzugt. Doch nützte das nichts; sein Gedächtnis stellte ihm die Forderung vor, welche die Welt einem zu großer Tätigkeit geborenen Mann auferlegt, er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdeh- nen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebes- blüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten. Er stellte zunächst mit Besorgnis fest, daß seine ausgebreiteten Weltinteressen wie eine der Wurzel beraubte Blume abwelkten und unbedeutende Eindrücke des Alltags, bis zu einem Sperling am -391- Fenster oder zum freundlichen Lächeln eines Kellners hinunter, geradezu aufblühten. An seinen moralischen Begriffen, die sonst ein großes System des Rechthabens darstellten, dem nichts ent- schlüpfte, bemerkte er, daß sie beziehungsärmer wurden, dagegen etwas Körperliches ansetzten. Man konnte es Hing